Deutscher Winter

Von Sasha Marianna Salzmann

Sasha Marianna Salzmanns Beitrag erzählt die Geschichten jener Menschen, die inmitten unserer Gesellschaft Rassismus ausgesetzt sind und schlägt einen Bogen vom Anschlag auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt zu Salzmanns eigener Jugend und der Poesie von May Ayim.

Sasha Marianna Salzmann steht an einem Pult und spricht ihren Impulsvortrag "Detuscher Winter". in ein Mikrofon. © Dorothea Tuch

Am 20. Dezember 2024, kurz nach 19 Uhr, lenkt ein 50-jähriger Mann, ein saudi-arabischer Staatsbürger, seinen gemieteten SUV auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt. Er fährt zunächst mit normaler Geschwindigkeit, dann beschleunigt er und rast im Zick-Zack zwischen den Punschbuden. Sechs Menschen sterben, 300 werden verletzt. 
In der Zeitung Volksstimme findet sich die folgende Beschreibung des Täters: „Der 50-jährige Taleb A. lebt seit 2006 in Deutschland. Er arbeitete in der Salus-Klinik in Bernburg als Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. ... Er war offenbar islamfeindlich eingestellt und zeigte sich auf seinen Social-Media-Accounts als Gegner der Religion und Fan der AfD.“ 
Am nächsten Tag, dem 21. Dezember 2024, formiert sich die erste von zahlreichen Demonstrationen auf dem Magdeburger Hasselbachplatz. Es werden rechtsextreme Parolen skandiert. 
Am 23. Dezember besucht Alice Weidel Magdeburg, laut Polizei versammeln sich 3500 Teilnehmer*innen zur Kundgebung. Die Vorsitzende der AfD, jener Partei, mit der der Täter sympathisiert, nennt Taleb A. in ihrer Rede einen „Islamisten“, beklagt, dass man ihn nicht schon längst nach Saudi-Arabien zurückgeschickt habe. (Der AfD-Fan Taleb A. sitzt zu diesem Zeitpunkt in Untersuchungshaft. Er wird die Nachrichten verfolgt haben. Was muss in seinem Kopf vorgehen?) Weidel sagt: „Wer die Bürger des Landes verachtet, ja tötet, das ihm Asyl gewährt, wer alles verachtet, wofür wir stehen, was wir lieben, der gehört nicht zu uns.“ Aus dem Publikum dröhnt es: „Abschieben, abschieben“.
Von dieser Kundgebung an verzeichnet das Landesnetzwerk Migrantenorganisationen Sachsen-Anhalt (LAMSA) im Schnitt einen tätlichen Übergriff auf „migrantisch wahrgenommene“ Personen pro Tag. Sowohl die Polizei als auch die Opferberatungsstellen gehen von einer deutlich hören Dunkelziffer aus. Die Zeitungen berichten von abgesagten Sprachkursen, weil sich die Teilnehmenden nicht auf die Straße trauen. Für Frauen, die zum Einkaufen gehen müssen, werden Begleitdienste organisiert.
Laut Süddeutscher Zeitung wurde der erste Vorfall dieser Art bereits am Abend des Anschlags gemeldet: „Ein 13-jähriger Junge mit syrischer Familiengeschichte sei von einem Nachbarn im Fahrstuhl rassistisch beleidigt, am Aussteigen gehindert und gewürgt worden.“ 

Ich lese diesen Artikel mehrmals, „Ein 13-jähriger Junge … gewürgt …“, „… rassistisch beleidigt, am Aussteigen gehindert und gewürgt …“, suche daraufhin nach mehr Informationen zu der grassierenden Gewalt in Magdeburg und werde erst nicht fündig. In den darauffolgenden Tagen und Wochen stoße ich auf einige spärliche Berichte. Ich lese sie immer und immer wieder. 
Es sind die ersten Tage des Jahres, die Sonne schafft es kaum über die Baumwipfel vor meinem Balkon, ich habe eine gestrickte Decke um die Schultern, fröstle trotzdem, lese und lese mehr und finde nicht genug. Ich kann gar nicht genug finden. Was wäre denn genug? 
Ich habe das letzte Jahr beendet und dieses neue begonnen mit einem dumpfen Gefühl, mit einer Ahnung, dass sich etwas zusammenbraut, dass sich bereits etwas entlädt. Die Aggressionen in den Straßen nehmen zu, Berichte über die sich in immer grauenhafteren Ausprägungen ausbreitende Gewalt füllen die Nachrichten. Aber das hier ist etwas anders, es fühlt sich anders an. Das hier erinnert mich, ich weiß nicht genau an was, Worte liegen mir auf der Zunge, aber ich weiß nicht welche, und ich klicke mich durchs Netz. 
Alle Artikel berichten detailreich über die Tathergänge. Eine Frau wurde angespuckt und mit Beschimpfungen überzogen. Eine Krankenschwester, die einige der Überlebenden des Anschlags auf den Weihnachtsmarkt gepflegt hatte, wurde nach Dienstende vor dem Krankenhaus attackiert. Ein DJ wurde am Neujahrsmorgen auf seinem Weg nach Hause so zugerichtet, dass er sich vor Schmerz übergeben musste. Offene Wunden, Prellungen, Gehirnerschütterung. Er überlegt, heißt es in dem Artikel, ob für ihn noch Platz in der Stadt sei. 
Was braucht es, um zu wissen, man hat einen Platz, man ist am richtigen Ort? Dieser Mann, der DJ Brahim B., wir sehen ihn auf einem Foto, das den Artikel begleitet – er sitzt aufrecht im Krankenhausbett, am Finger ein Sauerstoffmessgerät, die Hände aufgeschürft, er versucht zu lächeln – Brahim B. also sagt, er kam nach Deutschland, um als DJ berühmt zu werden, und nun kennt man ihn wegen des Überfalls. Er ist jetzt eine Nachricht in den Zeitungen, eine Nummer in der Polizeistatistik. Die Zeitungen melden bald anderes, die Aufmerksamkeit schwindet. Die Menschen bleiben.
Ich kontaktiere eine der aus Magdeburg berichtenden Journalist*innen und frage, ob sie glaube, es täte den Betroffenen gut, wenn sie weiter über das, was ihnen passiert ist, sprächen. Mit jemandem, der darüber nicht berichten, sondern erst einmal zuhören und verstehen will und vielleicht später – irgendwann – das Erfahrene zum Inhalt eines Romans oder einer Erzählung macht. Die Journalistin leitet mir die Nummer von M weiter.

Guten Tag! Ich habe Ihre Telefonnummer von X bekommen, sie sagte, ich darf mich bei Ihnen melden. Ich habe vor, einen Text über die gewaltvolle Stimmung in Deutschland zu schreiben, allerdings nicht journalistisch, sondern literarisch. Ich schreibe Bücher und Essays und Theaterstücke. Ich bin als Kind mit meinen Eltern nach Deutschland migriert und habe selbst rassistische Gewalt erfahren. Könnten Sie sich vorstellen, sich mit mir über den Übergriff auf Sie auszutauschen?
Lassen Sie mich bitte wissen, ob ein Telefonat für Sie in Frage käme.
Vielen Dank und mit herzlichen Grüßen 
Sasha Salzmann


Guten Tag,
vielen Dank für Ihre Nachricht. Ich freue mich, wenn ich Ihnen und anderen in irgendeiner Form weiterhelfen kann.  … Da ich selbst großes Interesse an Literatur und Kunst habe, bin ich neugierig, mehr über das Ziel Ihres Textes und ihrer Herangehensweise zu erfahren.
Viele Grüße
M

Die erste Frage, die M an mich richtet, als wir über Videochat miteinander sprechen: „Was bringt Kunst? Welchen Sinn hat sie?“
Ms Gesicht auf dem Bildschirm hat weiche Züge. Im Hintergrund ein kratzendes, metallisches Geräusch, als würde eine Kralle ein Gitter entlangfahren, und tatsächlich wird M mir im Laufe des Gesprächs erzählen, dass ein Papagei mit im Zimmer sei, er sitzt nicht im, sondern auf dem Käfig und spielt mit seinen Krallen Harfe auf den Stäben.

Als ich später am Abend meiner Frau von diesem Telefonat erzähle, fällt mir auf, wie langsam ich spreche. Ich hole Luft, dann verliere ich den Faden, falle wie Alice im Wunderland immer wieder in den Kaninchenbau, klettere hoch, gerate ins Wanken, rutsche zurück ins Loch, luge wieder hervor. 
Ich bin eigentlich Schnellsprecher*in. (Empörte Zuhörer*innen nach Radiosendungen, in denen sie mich gehört haben, an die Redaktion: „Wer soll denn dem folgen können?!“) An diesem Abend rede ich wie ein Plattenspieler, an dem die falsche Geschwindigkeit eingestellt wurde, oder als hätte er einen Wackelkontakt – immer wieder breche ich ab, bleibe an denselben Stellen hängen, fange wieder an.

„Manche Leute sagen, es war doch nur ein Anspucken.“ 
M sitzt mit dem Rücken zum Fenster, ich sehe die geweiteten Augen, den geöffneten Mund. Weil ich ins Licht blicke, wirkt es, als sei es dunkel im Zimmer, obwohl es noch früh am Nachmittag ist. „Wissen Sie, wie lange ich nichts dazu gesagt habe, dass die Leute hier in der Stadt uns beleidigen? Seit langem schon.“ 
Und dann erzählt sie: Von jener Frau in der Straßenbahn, die mit dem Finger auf M gezeigt und losgeschrien hat, es sei doch verrückt, wo kämen alle diese Ausländer her, „verrückt, verrückt, verrückt“. Das zehnjährige Kind, das M an diesem Tag von der Schule nach Hause begleitete, weil es die Eltern nicht abholen konnten, versuchte, M die Ohren zuzuhalten. Das Kind hielt Ms Kopf in den Händen, schaute sie an und beschwor sie: „Hör nicht hin. Hör weg. Hör weg.“ 
Sie erzählt vom Busfahrer, der unter allen Fahrgästen nur sie kontrollierte, nur ihren Fahrschein sehen wollte. Sie bat ihn darum, nicht so laut mit ihr zu reden. „Ich hasse deine Aussprache“, gab er zurück, und dass sie aus Magdeburg verschwinden solle. Interessanterweise „nach Leipzig“, da gäbe es viele von ihnen, von diesen. Leipzig. Was auch immer er damit meinte.  

„Ich bin aus Iran geflohen“, erzählt mir M, „weil ich Freiheit wollte. Jetzt muss ich begleitet werden, wenn ich auf die Straße gehen will. Wissen Sie, bei uns in Iran können einer Frau schreckliche Dinge auf der Straße passieren, und ich hatte nie Angst. Ich bin alleine mit meinem Sohn nach Deutschland gekommen, und ich hatte keine Angst. Jetzt trage ich diese Halskrause und bin krankgeschrieben.“ 
M hält ein beigefarbenes Schaumstoffteil in die Kamera, das sie für unser Gespräch abgenommen hat. Seit der Attacke auf sie muss sie die Stütze tragen, wie nach einem Schleudertrauma. Unfreiwillig denke ich an beigefarbene Kinderhände, die ihren Kopf halten und das Gesicht dazu, das fleht: „Hör weg!“ Acht Tage nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt wurde sie in der Unterführung des Hauptbahnhofs von einem Mann angespuckt und wüst beschimpft. Die Polizei bestätigte: „Sie wurden von einer männlichen Person im Personentunnel des Hauptbahnhofs Magdeburg am rechten Ärmel ihres Mantels bespuckt“ (Quelle: Der Spiegel).
Was bedeuten diese Worte? Was bedeutet ein ärztliches Attest? Was bedeutet Zeugenschaft? 
Welchen Sinn hat Kunst?

Als Antwort auf Ms Frage erzähle ich ihr von May Ayim. Von jener Dichterin und Aktivistin, deren Diplomarbeit zur afro-deutschen Wirklichkeit 1986 von ihrem Professor an der Universität Regensburg abgelehnt worden war mit der Begründung, es gäbe keinen Rassismus in Deutschland. Und deren Gedichtbände blues in schwarz weiss (erschienen 1995) und nachtgesang (erschienen postum 1997) jenen Menschen in Deutschland Lyrik zugänglich machten, deren Lebensrealität zuvor darin kaum Platz gefunden hatte.
Mittlerweile gibt es ein Filmportrait über May Ayim, ein Reggae-Song ist ihr gewidmet, ein Literaturpreis nach ihr benannt, von einer Bootsanlegestelle am May-Ayim-Ufer in Berlin-Kreuzberg aus kann man auf die Oberbaumbrücke schauen. Keine dieser Würdigungen erhielt sie zu Lebzeiten. 1996 nahm sie sich mit 36 Jahren das Leben. Nach wie vor werden ihre Gedichte nicht an Schulen unterrichtet, nicht von der breiten Öffentlichkeit, sondern nur in bestimmten Kreisen wahrgenommen, sie gehören nicht zum Kanon. Für manche allerdings sind sie ein Mittel, um bei Verstand zu bleiben. Damals wie heute.

Ich las ihre Gedichte, als ich bereits über zwanzig war und fragte mich, wer ich geworden wäre, hätte ich schon als Jugendlicher blues in schwarz weiss in die Hände bekommen. Würde ich mir und meiner Wahrnehmung heute selbst mehr trauen und damit der Welt mehr ver-trauen können, weil ich damals gewusst hätte, ich bilde mir die Dinge nicht ein, die um mich herum täglich geschahen? Die auch mir passierten? 
Wer wäre ich (und welche Auswirkungen hätte es auf meinem Schreiben?), wenn ich als Teenager schon Biografien wie meine oder eine Geschichte, in der sich meine Realität widerspiegelte, gelesen hätte? Hätte es gegen den Schock geholfen, der mir in den Knochen steckte, als ich mit blauen und grünen Flecken im Gesicht und auf den Oberarmen im Unterricht saß? Diejenigen, die mir das angetan hatten, waren in meiner Klasse, sie waren Mitschüler. Sie saßen ein paar Reihen hinter mir. Es war klar, ihnen würde nichts geschehen. Auch wenn meine Mutter aufgebracht zur Schulleitung gegangen war und mit ihr andere Frauen aus dem Asylheim, in dem wir lebten. Aber es folgte nichts aus den Übergriffen auf die Kinder des Heims. Die Haltung schien zu sein – abgeleitet von der Beschwichtigungsformel boys will be boys – Kinder sind Kinder, und das ist nun mal, was deutsche Kinder tun: Sie jagen Ausländer, bewerfen sie mit Steinen, überziehen sie mit Beschimpfungen, schlagen ihnen ins Gesicht. Das ist normal, es ist ein Kinderspiel. Es gab keine Konsequenzen. Und alle Beteiligten – die Täter, das Opfer, die schweigende Mehrheit – merkten sich das. Es war 1996. 
Obwohl die Flecken an meinem Körper dokumentiert wurden, trotz der kleinen Ansammlung empörter Frauen vor dem Büro des Direktors der Schule, und obwohl die „Boys-will-be-boys“-Kinder, die beleidigt und zugeschlagen hatten, ihre Tat nicht leugneten, bin ich mit der Erzählung aufgewachsen, dass das alles nicht passiert sei. 
Ich war ein Kind damals, Begriffe wie Gaslighting gab es noch nicht, und das Gefühl, den Verstand zu verlieren, weil Dinge, die passierten, von allen anderen ignoriert wurden, konnte ich nicht einordnen. Auch nicht das Gefühl, nicht sicher zu sein, das sich in meinem Körper ausbreitete auf dem Weg zur Schule. Wie eine Welle, die so viel größer ist als man selbst, sie kommt auf einen zu, reißt einen mit, und man kann nicht mehr atmen. Man röchelt und spuckt und gestikuliert ungelenk, wird unnötig laut. Ich lernte, von meinem Körper zu fordern, er möge sich zusammenreißen. Dramatische Gesten würden wir gerade beide nicht gebrauchen, weder er noch ich. Ich spaltete mich von meinem Körper ab. Ihm passierten schlimme Dinge, nicht mir. Ich – was auch immer dieses Ich war, mein Bewusstsein, mein Verstand, mein Humor, ich weiß es nicht, aber etwas mit einer Stimme – ich also konnte uns beide, meinen Körper und mich, aus dieser misslichen Lage befreien. Ich konnte fleißig lernen, Abitur machen, wegziehen. Aber dafür musste mein Körper mitspielen.

Manchmal schreiben mir Lehrerinnen heute, wenn sie in dem einen oder anderen Artikel oder Essay von meinen Kindheitserfahrungen lesen: „Mir war das gar nicht klar.“ Oder: „Tut mir leid, dass du das so empfindest.“
Eine dieser Zuschriften bekam ich von meiner Klassenlehrerin, die mir die Empfehlung fürs Gymnasium verweigert hatte (ein offizielles Schreiben, das man damals für den Zugang zur Oberstufe brauchte), obwohl meine Noten ausreichend waren, mit dem Argument: wir sollten besser „unter uns bleiben“, ich sollte also auf die Realschule gehen, wo auch andere Kinder aus dem Heim und andere Migrant*innen waren. 
Jener Mathematiklehrer, der mir sagte, ich sei doch Jüdin, als Jüdin müsste ich doch besser in Mathematik sein, hat mir bis heute nicht geschrieben. Ich schleuderte damals mein Heft durch den Unterrichtsraum nach ihm – und er warf es durch den gesamten Raum zurück. Ich weiß nicht mehr, wie diese Szene weiterging. Alles fror ein in diesem Bild. Niemand sagte je etwas dazu. Als sei es nie passiert. 
Bis ich die Schule abbrach und mir damit die Möglichkeit auf Hochschulreife erst einmal genommen war, sprach niemand über irgendetwas. Danach war es nicht mehr nötig, zu sprechen. Ich ging. Und ich schwieg auch.

Rostock-Lichtenhagen, 1992. Mölln, 1992. Solingen, 1993. Ich erfuhr von den tödlichen Anschlägen auf migrantische Menschen, davon, dass die Zeit, in der ich großgeworden war, „die Baseballschlägerjahre“ genannt wurde, erst spät. Meine Familie war 1995 nach Deutschland gekommen, ich war damals 10 Jahre alt. Ich konnte keine Zusammenhänge herstellen und nicht von Kontinuitäten sprechen, als ich in den Nullerjahren zum ersten Mal versuchte, Fragmente meiner eigenen Erfahrungen in eine Ordnung zu bringen und wiederzugeben. Oft wurde mir mit dem Argument widersprochen, Rassismus und Ausländerfeindlichkeit gäbe es vielleicht im Osten des Landes, aber nicht hier, nicht in Westdeutschland, in Niedersachsen – wo ich mir mit sechzehn jeden Morgen nach dem Aufstehen einen Joint drehte und wartete, bis sich die Panik legte, ehe ich zum Unterricht ging. Hier in Niedersachen, wo ich die Schule schließlich abbrach, weil ich es nicht mehr aushielt.

Einige Jahre später holte ich mein Abitur an einem Gymnasium in Niedersachen nach. Und ein damaliger Mitschüler, mit dem ich schlief, erklärte mir in meinem eigenen Bett – ich weiß nicht mehr, wie die Diskussion zustande kam, vielleicht wegen des Davidsterns an der Kette um meinen Hals – erklärte mir dieser Mitschüler also, Juden würde es nicht mehr geben, die seien nämlich ausgerottet worden. Das könnten die jetzt mal einsehen. Die Hugenotten gäbe es ja auch nicht mehr.

Interessant, dass ich schreibe, „ein Mitschüler, mit dem ich schlief“. Immerhin waren C. und ich drei Jahre lang zusammen.

„Was bringt Kunst? Welchen Sinn hat sie?“, fragt mich M, und ich erinnerte mich daran, dass ich Zeugenschaft über die omnipräsente Gewalt der 90er Jahre zuerst bei May Ayim gefunden hatte. In ihrem Gedicht „deutschland im herbst“: 



im neuvereinten deutschland
das sich so gerne
viel zu gerne
wiedervereinigt nennt
dort haben
in diesem und jenem ort
zuerst häuser
dann menschen
gebrannt
erst im osten dann im westen
dann
im ganzen land
erst zuerst dann wieder
es ist nicht wahr
daß es nicht wahr ist
so war es
so ist es:
deutschland im herbst
mir graut vor dem winter

 

Lange bevor mir irgendwer zuhörte, bevor ich verstand, dass ich mich, um mich zu schützen, in Einzelteile zerlegt hatte (irgendetwas geht dabei zu Bruch, aber irgendetwas bleibt so auch unversehrt), bevor ich lernte, schneller durch die Straße zu gehen, schneller zu sprechen, schnell mein Kinn zu heben, furchtlos zu blicken und gleichzeitig mit einem Auge über die Schulter zu spähen, bevor es eine Angewohnheit wurde, viel zu schnell die Fäuste zu ballen, zu überlegen, ob der eigene Rucksack schwer genug ist, um ihn dem Angreifer über den Kopf zu ziehen (ich schreibe „dem Angreifer“, weil die, die mich körperlich angingen, immer Männer waren, aber ich erinnere mich an eine Begegnung mit einer Mitschülerin. Ich erinnere mich bis heute an ihren Namen. Ich weiß, wie sie ihr brünettes Haar trug: Pagenschnitt. Ich weiß noch, was sie sagte, ich weiß noch, wie sie auf mich zukam, ich weiß noch, wie ich rannte. Das ist 25 Jahre her.) 
Bevor ich also all das erlebt und gelernt und mir zur Angewohnheit gemacht hatte, gab es schon May Ayim. Und das heißt, es gab ihre Poesie, und es heißt auch, es gibt Zeug*innen. 
Das sagte ich M.

M und ich sprechen den ganzen Nachmittag. Sie erzählt mir ihre Fluchtgeschichte aus Iran, erzählt von ihrem Sohn, der jetzt zwanzig ist, eine kaufmännische Ausbildung macht. Sie zeigt mir die Bilder, die sie malt. Sie zeigt mir den Papagei, der auf dem Käfig sitzt. („Wir sperren ihn nie ein.“) Zum Schluss unseres Gesprächs erzählt sie mir, dass sie Videos und Animationen machte – „machte“, sie verwendet das Präteritum –, um die Situation der Migrantinnen in Deutschland zu veranschaulichen. Die Arbeiten changieren zwischen Kunst und Aufklärungsvideo.
Sie lässt sich beim Malen filmen. Sie benutzt Worte wie „Hoffnung“, „Gerechtigkeit“ und „kämpferischer Geist“. Sie malt Gesichter von Frauen mit unbedeckten, offenen Haaren, die nach oben, in einen freien, weiten Himmel schauen. Die Videos sind aufwendig bearbeitet, eines ist in Blau und Türkis coloriert, als wäre die Person, die auf dem Bildschirm versucht, sich verständlich zu machen, hinter dem Glas eines Aquariums oder unter Wasser. Tatsächlich taucht M in diesem Video mit nassen Haaren auf, sie erzählt, wie es war, in einem „fremden Ozean“ anzukommen, das Herz habe sie in ihrem „alten Ozean“ zurückgelassen, sie habe es bei der Ausreise nicht mitnehmen können. 
In dem Gespräch sagt sie, sie habe viele dieser Videoarbeiten auch gemacht, um anderen Frauen, Frauen wie sie, die allein in Deutschland ankommen und ein neues Leben beginnen wollen, Mut zu machen. Jetzt weiß sie nicht mehr, was sie sagen soll. Sie braucht Begleitung, wenn sie auf die Straße gehen will. Sie ist krankgeschrieben, momentan arbeitsunfähig. Sie hält eine Klarsichthülle voller ärztlicher Befunde und Überweisungen in die Kamera. 
Wann wird der Druck so groß, dass man eine Halskrause als Stütze tragen muss? Bricht da etwas? Ist es reparabel?
Ich verspreche, M zu besuchen, wenn es wärmer wird. Jetzt ist es Februar, nicht mal mit einer Decke um die Schultern ist es im Zimmer warm genug, vor meiner Balkontür schneit es, die Baumwipfel färben sich weiß. Wenn man hinausgeht, muss man vor die Füße schauen und den Körper anspannen, um sich auf den vereisten Gehsteigen nicht die Knochen zu brechen. Wie Stehaufpüppchen fallen Menschen nach links und rechts um, rappeln sich wieder auf. Fluchen. Rempeln sich an. Schlittern weiter.

Es ist längst März, als ich die Regionalbahn nach Magdeburg nehme. Bevor ich M treffe, habe ich eine Verabredung mit A.B. in seinem Büro des Landesnetzwerks Migrantenorganisationen Sachsen-Anhalt, südlich des Bahnhofs, unweit jener Stelle, an der M angegriffen wurde. Auf der Internetseite des Migrationsnetzwerks findet sich ganz oben ein Spendenaufruf. Man möge den Menschen mit Migrationsgeschichte in Magdeburg „ein Stück Sicherheit zurückgeben“, indem man sie mit Taschenalarmen ausstattet. 
Als ich mich auf den Besuch vorbereitete, las ich in der Zeitung, dass A.B.s Tochter, die sechs Monate alt war, als die Familie nach Deutschland kam und ausschließlich Deutsch spricht, in eine Klasse eingeschult werden sollte, in der nur Kinder mit sogenanntem Migrationshintergrund versammelt wurden. Es sei besser, hieß es von Seiten der Schulleitung, wenn diese Kinder unter sich blieben, es ging angeblich um mangelnde Sprachkenntnisse. Allerdings sprechen diese Kinder allesamt Deutsch. Nach A.B.s Protest wurde die „Migranten-Klasse“ aufgelöst. Das Kind in mir, dem damals die Gymnasialempfehlung verwehrt wurde, möchte ihm einen Dank aussprechen, aber dazu kommt es nicht. Als ich das Büro betrete, ist A.B. noch am Telefon, seine Stimme ist leise, er spricht langsam, das Licht fällt durch die breiten Lamellen der Jalousie in das überheizte Büro und teilt sein Gesicht in zwei Hälften. „Das waren die Eltern des 12-jährigen Mädchens. Sie haben vielleicht davon gehört.“ Ich schüttle den Kopf.
Am 23. Februar 2025, dem Abend der Bundestagswahl in Deutschland, verfolgte eine Frau – in der polizeilichen Beschreibung heißt es: „etwa 25 bis 30 Jahre alt und mitteleuropäisches Erscheinungsbild, sie ist flüchtig“ – ein 12-jähriges Kind syrischer Herkunft und schlug ihm mit der Faust mehrmals auf den Kopf. Das Kind musste drei Tage im Krankenhaus behandelt werden, wegen der Verletzungen im Gesicht und am Kiefer soll das Mädchen möglichst nicht sprechen. 
A.B. betreut die Familie des Kindes. Sie alle tragen jetzt Taschenalarme, die LAMSA verteilt – „den Menschen mit Migrationsgeschichte in Magdeburg ein Stück Sicherheit zurückgeben“. Sie tragen sie an kleinen Karabinern am Hosenbund, oder in der Hosen- oder Rocktasche, dort, wo die Hand ohnehin baumelt. Vater, Mutter, die anderen beiden Kinder, alle haben sie diesen Anhänger. 
„Und Sie?“, frage ich A.B. und schaue in sein vom Licht geteiltes Gesicht. 
„Ich auch.“ Er zeigt mir seinen türkisfarbenen. Dann reißt er den Ring ab und ein Alarm ertönt, schriller als eine Polizeisirene.

Der Alarmknopf von M hat ein schwarzes Gehäuse, sie hat ihn in der Manteltasche, aber es ist zu warm für die Wolle, also legt sie sich den Mantel über den Unterarm. Sie schlägt vor, einen Spaziergang durch die Innenstadt zu machen, die kenne ich doch nicht, oder? 
Mir ist klar, was sie vorhat: M übt ihre Rückkehr. Sie spannt ihren Körper an, der Boden ist nicht vereist, aber wir schlittern. Wir passieren den Platz, auf dem im Winter der Weihnachtsmarkt aufgebaut wird, schauen auf die Straßenbahnschienen, über die das Auto gefahren war, um dann in die Menschenmenge zu rasen. Wir spazieren bis zum Hasselbachplatz. Es ist, als würde Elektrizität durch die Straßen fließen. Ich gehe etwas zu nah an M, wachse in die Höhe, schaue jedem Passanten direkt in die Augen. Ich sehe, dass wir beide unsere Kinnspitzen hoch in die Luft heben, wir bieten der Sonne die Stirn, breiten die Schultern aus wie Flügel. Wir weichen niemandem aus. 

M kommentiert die Blicke, die sie bekommt, lakonisch mit der Bemerkung, sie überlege, sich die Haare heller zu färben. Ich will ihr erzählen, dass in mir ein Romanvorhaben wächst, und es hat etwas mit diesem Gefühl zu tun, das wir jetzt beide haben. Dass ich nach wie vor ans Schreiben glaube, dass Sprache ein Schutzschild ist. Dass wir sprechen müssen und schreiben. Ich weiß nicht, ob ich mich verständlich machen kann, ob es albern klingt angesichts dieser Umstände, die einen dazu bewegen, mit einem Alarmknopf durch die Straßen zu gehen. Ich suche nach Worten, und weil ich nicht Gefahr laufen will, wie ein Plattenspieler mit Wackelkontakt zu klingen, frage ich sie stattdessen nach ihrem Sohn. Dann reden wir über Hundertwasser.
M führt mich zu dem von ihm entworfenen Hotel, ihrem Lieblingsgebäude in der Stadt, wir posieren für ein Selfie vor der rosaroten Fassade. In den verwinkelten Innenhöfen sitzen vereinzelt Paare und trinken Kaffee. Sie schauen nirgendwohin. 
Meine Haut fühlt sich an wie mit Stichen von Tausenden Nähnadeln übersät, während wir darüber sprechen, dass es nun endlich Frühling wird. Und Frühling ist doch ein Synonym für Hoffnung. Nicht? Irgendetwas platzt endlich auf, blüht und sprießt. 
Irgendetwas löst sich, und es wird endlich leichter.

 

Unter dem gleichnamigen Titel hielt Sasha Marianna Salzmann einen Vortrag am 21. Mai 2025 als Teil der Veranstaltung „Die Kunst, Viele zu bleiben. Forum für Kunst, Freiheit und Demokratie: Deutschland und Europa" in der Kulturhauptstadt Chemnitz 2025, der auf Auszügen aus dieser hier veröffentlichten längeren Textfassung basierte.

Die anschließende Podiumsdiskussion mit Aktionskünstler Philipp Ruch und FAZ-Feuilletonist Simon Strauß, moderiert von Natascha Freundel, wurde vom rbb/radio 3 aufgezeichnet und ist als Podcast der Reihe „Der Zweite Gedanke“ abrufbar. Die Beiträge von Ruch und Strauß stellen wir ebenfalls in unserem Online-Magazin zum Nachlesen zur Verfügung.