Die letzte Grenze für die AfD

Von Philipp Ruch

Wiederholt sich Geschichte immerzu? In seinem Impulsvortrag „Die letzte Grenze für die AfD” analysiert der Aktionskünstler Philipp Ruch die gesellschaftspolitische Lage und appelliert an die Zivilgesellschaft, die 1989 in der DDR schon einmal den Aufstand wagte und somit den Umbruch herbeiführte.

Philipp Ruch steht an einem Pult und hält seinen Vortrag. Er spricht in ein Mikrofon © Dorothea Tuch

Seit 16 Jahren mache ich politische Kunst. Die wenigen Worte in Artikel 5 der Verfassung zur Freiheit der Kunst dürften sich nicht so sehr auf die Lieder von Helene Fischer beziehen als vielmehr relativ präzise auf die Werke des Zentrums für Politische Schönheit. Dort gebrauchen wir die verfassungsmäßigen Rechte im Kampf gegen die AfD nicht nur – wir benötigen sie. Ich möchte aus dieser Perspektive klares, kaltes Quellwasser einschenken über die Möglichkeiten der Kunst. Der wichtigste Punkt: Die Kunst ist vollkommen ohnmächtig. Wir sind angesichts des politischen Abgrunds, vor dem wir dank der AfD stehen, absolut machtlos.

Die AfD könnte bald den Staat in die Hände bekommen. Und die einzige „Macht“, die wir dann hätten, fließt uns aus den Wahnvorstellungen unserer Gegner zu: totalitäre Parteien neigen dazu, die Künste für gefährlich zu halten, genau wie totalitäre Staaten. Das hat etwas Urkomisches: Die Nazis überzogen Deutschland und die besetzten Gebiete mit einem Netz von Konzentrationslagern, folterten hunderttausende Menschen, zettelten einen Weltkrieg an und richteten im industriellen Maßstab Millionen von Menschen zugrunde. Aber die Kunst, ja ausgerechnet: die Kunst, soll den Nazis dabei gefährlich geworden sein?
Dass Demokratiefeinde die Möglichkeit der Kunst maßlos überschätzen, hat manche meiner Berufskollegen dazu verleitet, sich selbst für gefährlich zu halten. So wie Nietzsche, der manche seiner Ideen für explosiver hielt als Dynamit, so halten manche Künstler ihre Werke für gefährlicher als Stauffenbergs Aktentasche.

Ich bin kein Anhänger dieser Lehre. Es gibt nämlich nicht nur eine konservative Selbstüberschätzung, die zu Hitlers Machtübergabe führt, sondern auch eine progressive, eine humanistische. Angesichts der deutschen Verbrechen im 20. Jahrhundert halte ich es für angemessener, die Erwartungen zu dämpfen: Die Kunst ist für den Bezirk der menschlichen Seele, der Brutalität und Barbarei beherbergt, absolut unbedenklich. Die Künste können Brandstifter nicht mit Feuer überbrennen.
Natürlich wird jemand, der vor Björn Höckes Haus ein ganzes Holocaust-Mahnmal gebaut hat, 2029 oder (historisch vielleicht treffender: bei der übernächsten Bundestagswahl) 2033, von der „nationalen Revolution“ nicht verschont werden. Natürlich wurden 1933 auch Kunstwerke stellvertretend für ihre Autorinnen ins Feuer geworfen. Aber deswegen waren diese Werke nicht mächtig. Oder gefährlich. So erscheinen sie vielleicht uns, den Nachgeborenen. Aber doch nicht den Nazis.
Gegen die Größe, Gewalt und schneidende Präzision eines Faschismus, der Auschwitz erbaut, kann der Humanismus in der Regel nichts, aber auch gar nichts ausrichten. Die einzige Macht, die ich als „Macht der Fiktion“ anerkennen würde, ist die Fähigkeit der Kunst, die Wirklichkeit anders zu sehen und erträglich zu machen. Unter faschistischen Vorzeichen gilt aber genau umgekehrt: die Wirklichkeit gerade in ihrer Unerträglichkeit darzustellen.
Dazu braucht es nicht die Kunst. Diese Aufgabe kann jede Chefanklägerin, jede Strafverteidigerin, jede von der AfD entlassene Staatsanwältin besser übernehmen: den AfD-Staat anklagen, die Verbrechen geißeln und die Umstehenden, die Mitmachenden hassen.

Sicher, wir können vom Widerstand träumen. Und wenn der AfD-Staat dann von den Alliierten, am besten 2045, in Schutt und Asche gebombt wird, wird sich die Forschung über unsere schönen Träume beugen und sie ausbeuten. Das Zentrum wird dann einen Hollywood-Film bekommen. Wenn es Hollywood überhaupt noch gibt und Filme nicht längst mit der Tiktok-KI in 5 Sekunden produziert und fixfertig kreiiert werden.
Aber das ist nicht ehrlich. Ehrlich ist: dass wir absolut keine Macht besitzen und diese Irren uns nur wegen ihrer Wahnvorstellungen verfolgen. Nicht: wegen unserer „Macht“. Das Schöne ist filigran und fragil, das Hässliche mitunter unverwüstlich. Das Schöne fällt beim erstbesten Windstoß um. Zerbricht. Das wissen nur die Schönheitsfeinde mit ihren Kunstobsessionen nicht.

Sie kennen vielleicht das Brandolini-Gesetz, das besagt, dass sie um den Faktor 10 leichter eine Lüge in die Welt setzen können, als diese zu widerlegen. Die sachliche Bekämpfung von Falschinformationen verschlingt laut Brandolini zehnmal so viel Zeit wie die AfD benötigt, um eine ihrer religiösen „Ideen“, etwa die Lehre vom Bevölkerungsaustausch, zu stiften. Während wir die eine Sache gerade zurechtrücken, hat die AfD schon zehn neue Evangelien erfunden. In dem Buch „Es ist 5 vor 1933“ habe ich diesen Umstand in Abwandlung eines Bonmots von Mely Kiyak etwas geschärft: „Die Lügen brauchen nur eine Sekunde, um ihren Weg ins menschliche Herz zu finden, aber eine Kriegsgeneration, um diesen Ort wieder zu verlassen.“
Eine Lüge aus den Herzkammern zu entfernen, braucht mitunter einen guten, alten Weltkrieg. Unter den Bedingungen nuklearer Waffensysteme natürlich.

Nebeneinander sitzen die Panelgäste auf einer Bühne. Hinter ihnen ist der Titel der Veranstaltung "Die Kunst, Viele zu bleiben. Forum für Kunst, Freiheit und Demokratie: Deutschland und Europa" auf einem großen Banner zu lesen. © Dorothea Tuch

Diskutieren in der Kulturhauptstadt Chemnitz (v.r.): Philipp Ruch, Sasha Mariana Salzmann, Simon Strauß und Natascha Freundel.

Keine guten Nachrichten also. Was ist dann die Hoffnung? Es gibt da etwas, das ich nicht verstehe. Und das birgt manchmal den Keim von Hoffnung: Ich bin 1981 in Dresden geboren. Ich habe die letzten acht Jahre DDR, wie wahrscheinlich die meisten von Ihnen, miterlebt. Der Fall der Mauer war in den 90er Jahren das prägende mediale Event, das im Fernsehen in Dauerschleife gefeiert wurde: Jeden Tag tanzten sozusagen Menschen auf der Berliner Mauer rum. Bis spät in die 2000er hinein. Das hat sich etwas eingerenkt. Die Bilder bekommen wir höchstens noch zu Silvester serviert.
Aber die zweite deutsche demokratische Revolution, die als Treppenwitz der Geschichte auf den Tag genau 71 Jahre nach der ersten Revolution – der vom 9. November 1918 –, stattfindet, nicht „Wende“, die Revolution geht genau wie die erste von der Bevölkerung aus. Von den Bürgerinnen und Bürgern der DDR. Die treibenden Kräfte sind die Bürgerrechtsbewegungen. Nicht Helmut Kohl. Der hat nicht ein Gran Anteil am 9. November 89. Wir, Sie haben die Freiheit und Demokratie für das ehemalige Staatsgebiet der DDR erkämpft.
Und ausgerechnet diesem Landesteil steht jetzt der Sinn nach Diktatur? Viele im Westen geben sich jetzt vollkommen erschüttert: In Umfragen steht die AfD bundesweit bei 25 %. Wenn heute Bundestagswahlen wären, würde sie als stärkste Partei im Parlament einziehen.
Was sollen Sie da erst sagen? Hier hat die AfD doch schon 2019 in manchen Landstrichen 30 % geholt! Oder 40 %. In manchen Gebieten durfte es sogar noch ein bisschen mehr sein: die absolute Mehrheit. Im politischen Berlin ist niemand hochgeschreckt. Olaf hat gut im Kanzleramt weitergeschlafen.

Warum führt ausgerechnet der Teil unseres Landes, der 1989 für sich und seine Kinder Demokratie und Menschenrechte erkämpft, 2025 eine totalitäre Bewegung an? Keine Sorge, ich habe nicht vor, das kontraintuitive Element der Geschichte zu beleuchten. Oder das konterrevolutionäre. Worum es mir geht, ist die reine Frage, weil darin etwas steckt, das uns helfen kann.
Die Kräfte, die die Freiheit erkämpft haben, sind ja nicht tot. Zumindest nicht alle. Sie sind müde. Wenn Sie mich fragen, sahen sie schon im Oktober 1990 übertrieben müde aus. Ich war sehr enttäuscht, als ich in den 2000ern mit ansehen musste, dass die Revolutionäre den Anstand und die Kraft nicht fanden, die Bürgerrechtsbewegung in Menschenrechtsbewegungen zu überführen. Eigentlich hätte das schon viel früher, 1992-95, beim Genozid von Bosnien-Herzegowina, geschehen müssen. Srebrenica.
Wolfgang Thierse ist gewissermaßen nie vom Bürgerrechtler zum weniger ich-bezogenen Menschenrechtler hinausgewachsen. Diese Kräfte gilt es jetzt zu wecken. Die Kräfte von 1989. Die Kräfte von Demokratie und Freiheit, die auch hier in Chemnitz wirkten und wirken. Nicht die Bürgerrechtler, keine Sorge. Die werden weiter unter ihrem Nachwende-Burn-out leiden und sich weiterbeschweren, dass 1990 keine bessere Verfassung verabschiedet worden sei. Was immer sie an der Verfassung genau ändern wollten.

Selbst dann gibt es den Freiheitskampf von 1989 noch. Selbst dann reicht als Glut der Stolz auf die Wende von 1989. Der Stolz auf die erfolgreiche Revolution für Demokratie und Freiheit. Nicht Thierses Stolz. Unser Stolz – auf den 9. Oktober 1989 in Leipzig. Auf die Bornholmer Straße am 9. November. Unser Stolz auf die Gänsehaut, dass Demokratie nicht nur gefordert, sondern durchgesetzt wurde. Mit humanistischer Militanz.
Dieser Stolz dürfte geschichtsmächtiger sein als der Drang der AfD, an die Macht zu gelangen. Dieser Stolz kann uns vielleicht dahin tragen, wo wir hinwollen: zu einer politischen Grenze für die AfD, über die ihre NSDAP-Laienschauspieltruppe nicht drüberklettert. Eine Grenze, die die Freiheitsfeinde im Zaum hält. Eine Mauer, über die die – vorwiegend übrigens westlichen – Konterrevolutionäre nicht mehr rübermachen.
Die CDU-Politiker wollen, mit Maischberger und Lanz im Schlepptau, eine neue Grenze bauen? Bitte, hier: Bauen wir eine Grenze. Hier und jetzt. Aber gegen die AfD.
Vielleicht kann die Kunst ja doch Gedanken fassen, die mächtiger sind als ihre Feinde. Aber vergessen wir das Trügerische an Hoffnungen nicht: Das, was passiert, wenn Sie und ich nichts tun. Wenn die letzte Grenze nicht gezogen wird. Was uns heute im Unterschied zur Bürgerrechtsbewegung vom 9. Oktober 1989 in Leipzig fehlt und womit wir seit 16 Jahren die Gesellschaft zu reanimieren versuchen, ist: humanistische Militanz.
Denn die Gesellschaft – sie möchte statt eines „Nie wieder!“ schon wieder: Sie möchte schon wieder die Hände gegen die neue NSDAP in den Schoss legen. Sie möchte schon wieder appeasement mit dem politischen Rechtsextremismus treiben – mit Nazis reden. Und auch der jüngste Modeartikel sei hier erwähnt: Unser neuer Bundeskanzler möchte die NSDAP jetzt inhaltlich überfahren.

Statt auf humanistische setzt er gewissermaßen auf antihumanistische Militanz: Flüchtlingsabwehrpolitik, Remigration, Völker- und Verfassungsrechtsbruch an den Grenzen. CDU-Politiker feiern sich schon als die „letzte Chance der Demokratie“. Friedrich Merz und Markus Söder als Vorkämpfer gegen den AfD-Faschismus? Das Bild zweier Schafe wäre glaubwürdiger.
Unsere Welt, unser schönes Deutschland, wie seine Gegner gerne betonen, geht an Unterernährung zugrunde. Uns fehlt es an: Humanität und Militanz. In unseren Gedanken. In unseren Debatten. In unserer Politik. Das Erbe des Mauerfalls, die demokratische Intoleranz von 1989, wird permanent von der AfD attackiert. Es ist an der Zeit, dass der Geist von 1989 sich auch angegriffen fühlt und gegen die Freiheitsfeinde wehrt.

 

Philipp Ruch hielt den Vortrag am 21. Mai 2025 als Teil der Veranstaltung Die Kunst, Viele zu bleiben. Forum für Kunst, Freiheit und Demokratie: Deutschland und Europa in der Kulturhauptstadt Chemnitz 2025. Die anschließende Podiumsdiskussion mit Dramatiker*in Sasha Marianna Salzmann und FAZ-Feuilletonist Simon Strauß, moderiert von Natascha Freundel, wurde vom rbb/radio 3 aufgezeichnet und ist als Podcast der Reihe Der Zweite Gedanke abrufbar. Die Beiträge von Salzmann und Strauß stellen wir ebenfalls in unserem Online-Magazin zum Nachlesen zur Verfügung.