Du und ich
Von Deniz Utlu
Du und ich. Parallele Lebenswelten und Wege, die sich nie kreuzten und unterschiedlicher nicht sein könnten. - Der Schriftsteller Deniz Utlu hielt diesen Vortrag im Rahmen von „DIE KUNST, VIELE ZU BLEIBEN“ am 24. August 2024 beim Kunstfest Weimar.
„Ich (…) begehrte nur, dass die Menschen ihre Solidarität wiederfinden, um den Kampf gegen ihr empörendes Schicksal aufzunehmen.“
Albert Camus, Vierter Brief. In: Briefe an einen deutschen Freund
1
Wir sind ungefähr gleich alt. Irgendwas zwischen Mitte zwanzig und Anfang dreißig. Wir sind im selben Schulsystem großgeworden. Vielleicht hatten wir denselben Lehrer, im selben Schulgebäude – in derselben Klasse? Wir haben zusammen studiert, vielleicht im selben Hörsaal gesessen. Jetzt bist du dort, und ich bin hier. Der Rest der Nation wundert sich. Wir kennen uns. Nie hätte ich damals gedacht, dass unser Konflikt zur Frage dieses Landes werden würde. Damals, als wir Jugendliche waren in den Straßen unserer Stadt. Du kahlgeschoren, ich mit Lederjacke. Nie hätte ich dir zugetraut, dass du es schaffst. Und ich? Für dich war ich nur Gesindel, ein Schmarotzer, der nichts zu sagen hat. Nicht, dass ich dich nicht ernst genommen hätte. An dem Tag, als du mit deinen Freunden gegen die kritische Wehrmachtsausstellung marschiertest, druckte ich zwei Straßen weiter tausend Mal das Gedicht „Ärgernis“ von Erich Fried im Copyshop aus und verteilte es in der Innenstadt. Ich nahm an Treffen von älteren Jugendlichen teil – ich hoffte, sie hätten Erfahrung, sie wüssten, wie man mit dir und deinen Freunden fertig wird. Damals wusste ich nicht, dass das erst der Anfang war. Dass wir unterschiedliche Wege gehen würden, um uns heute wieder zu begegnen. Wusstest du das? Wo warst du? Wer hat dich unterstützt? Ich war ein neunzehnjähriges Mädchen, das nach Frankreich ausgerissen war und auf den Rücksitzen von Autos schlief, bis es an der Sciences Po zugelassen wurde, mit Stipendium, denn natürlich hatte ich als Kind jener Menschen, die auch du „Gastarbeiter“ nennst, kein Geld. Ich war ein dreizehnjähriges jüdisches Mädchen, das mit seinen Eltern als Kontingentflüchtling aus Russland nach Deutschland gekommen war, ohne ein Wort Deutsch zu sprechen und mit sechzehn für einen deutschen Text eine Literaturförderung bekam. Weißt du noch, wie du ein Hakenkreuz auf unser Flüchtlingsheim gesprüht hast? Ich war ein Junge, dessen Mutter den bettlägerigen Vater pflegte oder dessen Mutter Alkoholikerin war, verlassen vom politisch verfolgten Vater, der sich in der Türkei der Polizei gestellt hatte. Und wo warst du in all diesen Jahren? Jetzt bist du hier. Wir sind fertig mit unserem Studium, ich habe meine Freunde gefunden, die verstreut waren, von denen ich nicht gewusst hatte, dass es sie gab, dass auch sie sich fragten, wie es weiter gehen soll. Ich weiß nicht, wie es für dich war, für uns war es nicht leicht, aber jetzt sind wir hier. Sowie auch du jetzt hier bist. Wie schade, jemand, der von außen zuschaut, von einem anderen Stern, müsste verwirrt sein. Er müsste denken, warum reichen sie sich nicht die Hand: dasselbe Land, dieselbe Schule, dieselbe Zeit, derselbe Ort. Warum tun sie sich nicht zusammen, denken zusammen, richten dieses Land, diese Welt häuslich ein? Und es stimmt, es ist schade. Uns stehen zwanzig, dreißig, höchstens vierzig Jahre bevor – die Zeit eben, die auf Erden uns gegeben ist. Und es ist nicht derselbe Stern, unter dem wir geboren wurden. Nie werden wir zusammen das Glas heben, nie uns die Hand reichen. Stattdessen werde ich immer hier sein und du immer dort. Von deinen Freunden weiß ich schon, dass sie die Namen der meinen auf Listen führen. Sie sollen sie richtig schreiben. Wir sind hier. Ich bin hier. Für jeden deiner Versuche, unsere Vielheit zu beschädigen, werden wir sie zehnfach ausweiten.
2017
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Wir sind ungefähr gleich alt. Irgendwas zwischen dreißig und Anfang vierzig. Es ist sind sieben Jahre vergangen, seit ich dir das letzte Mal schrieb. Du bist nicht mehr kahlgeschoren. Dein Grinsen ist breiter. Die Zeit hat für dich gearbeitet, glaubst du. Aber ich bin immer noch hier. Tief in dir drin weißt du, musst du wissen, du brauchst mich. Du brauchst mich für deinen Hass. Du brauchst mich, um du zu sein. Denn du bist niemand ohne mich. Ich hingegen brauche dich nicht. Ich bin genau der, der ich jetzt bin auch ohne dich. Oh, die Steine, die du mir in den Weg legtest, haben mich gezeichnet. Das zu leugnen, wäre albern. Nein, deine Gewalt ist nicht an mir vorbei gegangen. Weder deine Morde, noch die Gleichgültigkeit so vieler gegenüber deinen Morden haben mich unberührt gelassen. Und dann jene, die deine Gegner sein wollten, dich aber nicht aus dem Herzen bekamen? Ich bin auch der geworden, der ich bin angesichts deiner Gewalt und der Kälte meiner Zeit. Aber ich brauche dich nicht als Gegenüber. Wenn du verschwindest, bin ich genau der, der ich bin. Wenn ich verschwinde – und vielleicht ist dir das wirklich nicht klar –, bist du nichts. Dass deine Gewalt Spuren hinterlässt, ist kein Widerspruch. Du hast uns hingerichtet in jener Shisha-Bar. Das war nicht schwer für dich, die Polizei hatte den Notausgang versperrt. Ein Jahr später fuhren wir in jene Stadt, in der du uns erschossen hast, und wir haben getrauert für uns. Wir waren da für uns. Wir. Für uns. Wir waren Selbstinitiativen, wo andere Initiativen fehlten. Tief in dir drin weißt du, es wird mich immer geben, ich werde da sein. Ich hingegen weiß nicht, ob es dich geben wird. Irgendwann wirst du gehen. Jetzt noch nicht. Noch lange nicht. Du wähnst dich sicher. Du warst subtil. Du warst klug. Du hast dich rasiert. Du hast promoviert in Recht und Wirtschaft und Philosophie. Du hast die Sprache der Vernunft gelernt. Das war nicht schwer, du musstest sie nur von ihrem repressiven Ende her lesen lernen. Dabei glaubst du doch gar nicht an Dialektik? Du hast Elite-Soldaten ausgebildet. Dein Onkel hat es bis an die Spitze der Sicherheitsbehörden geschafft. Ich weiß, was du denkst: du hast das alles geschafft, weil du Recht hast. Und nicht nur das, du glaubst, dass auch die anderen, die Gesicherten, dich im Recht sehen, dass sie tief in ihrem Herzen mit dir übereinstimmen, dass sie dich brauchen für ihr Gesichertsein. Warum sonst haben sie dich all die Jahre gedeckt, in denen du im Untergrund warst? Weshalb hat die Familien- und Jugendministerin dich damals geehrt mit ihrem Besuch in jener kleinen Hafenstadt, nachdem du es doch gewesen bist, der das Haus der Familien aus Vietnam angezündet hat? Weshalb ist das Recht damals dir, und nicht mir gefolgt? Und bin ich hilflos, wenn ich weiter nach Worten suche, wo du noch jedes gegen mich verwenden konntest? Nein, ich bin nicht hilflos. Denn am Ende, wenn nichts mehr ist und alles zurückkehrt an den Anfang, sind da nur noch Worte kurz vor dem großen Schwarz. Und es sind nicht deine.
Dass deine Gewalt sich auch gegen die Gesicherten wenden wird, ja, am Ende sogar gegen dich selbst, weißt du nicht. Vielleicht hast du recht und in ihrem innersten sind einige dir dankbar? Andere wollen dich nicht, da du jetzt schon in den Parlamenten sitzt. Und du lachst und lachst, denn es ist zu spät. Du sitzt bereits drin. Und du sitzt bald fester. Die Gesicherten sind hilflos, aber manchmal auch hilflos offen für Totalitäres, Hauptsache, sie stehen auf der richtigen Seite, auf der Guten, und du stehst nicht – noch nicht, sagst du – für die gute Seite. Dabei sollte niemand sicher sein zu wissen, was richtig und was falsch ist. Und immer noch will ich Erich Frieds Gedicht tausendfach ausdrucken und wie damals am Opernplatz meiner Stadt vor einer großen Menge verlesen, aus Protest gegen dich, schreibt er doch an die Gesicherten, an die „braven Bürger“: „Ihr schaut nicht / genau genug hin / wenn ihr in diesen blauen / oder braunen / oder auch grauen Augen / nicht / einen Augenblick lang / euer eigenes / Spiegelbild seht“. Und du lachst weiter. Natürlich merke ich: Es ist dasselbe alte Lied. Natürlich weiß ich, dass ich seit so vielen Jahren, seit wir beide, du und ich, noch zur Schule gingen, immer wieder dasselbe sage, und vor mir schon so viele andere sagten und nach mir andere nicht aufhören werden zu sagen: Ich will, dass die Menschen ihre Solidarität wiederfinden. Weißt du, es gibt keinen Kampf um Kulturen oder Identitäten, es geht um etwas ganz anderes: Du hast es ja auf den Geist abgesehen, auf das universelle Denken und Empfinden, das erst eine Vorstellung des Menschlichen erschafft und weiterführt. Deshalb ist die Begeisterung, die du bei so vielen erzeugst, dumpf, die Liebe, die du anbietest, eng und befristet. Du willst ein geistloses Europa, das wolltest du schon immer. Ich entgegne: Ich habe mein Europa, du hast deines. Ich habe meine Welt, du hast deine. Von all dem, willst du nichts wissen, denn dir galt Macht immer mehr als Erkenntnis. Weißt du, am Ende, wo wir uns wiedertreffen, zählt die Macht am wenigsten, ganz gleich, was sich in der Zwischenzeit mit ihr verwüsten ließ. Und du magst sagen: Sieh, was haben euch all die Worte gebracht, siehst du nicht deine Niederlage? Und ich sage dir: Eines haben mir die Worte gebracht – ich bin noch da.
2024
Unter dem Titel „Poetische Positionen" im Programm von „DIE KUNST, VIELE ZU BLEIBEN“ bezogen neben Deniz Utlu auch die Schriftsteller*innen und Dramatiker*innen Sivan Ben Yishai, Manja Präkels und Anne Rabe Stellung zum aktuellen Zeitgeschehen. Ihre Beiträge stellt der Fonds in seinem Online-Magazin nun zum Nachlesen bereit. Der Fotograf Sebastian Bolesch begleitete die Veranstaltungsreihe des Fonds und hielt Eindrücke aus den Umfeldern der einzelnen Stationen in Bildern fest.
© Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg, 2024