Ein Modellprojekt für Sachsen
Von Christine Wahl
Die Leipziger LOFFT-Chefin Anne-Cathrin Lessel und der künstlerische Projektleiter der FORWARD DANCE COMPANY Gustavo Fijalkow im Gespräch mit Christine Wahl über drei Formen der Teilhabe, die mit dem Geld aus dem Theaterpreis des Bundes 2023 umgesetzt werden.
Anne-Cathrin Lessel, als Sie und Ihre Institution, das LOFFT in Leipzig, letztes Jahr mit dem Theaterpreis des Bundes ausgezeichnet wurden, sagten Sie, Sie seien sich noch nicht sicher, in welche Projekte Sie die 100.000 € Preisgeld investieren werden, aber Sie hätten auf jeden Fall „eine Schublade voller Ideen“. Welche davon haben Sie letztlich herausgeholt?
Anne-Cathrin Lessel: Im Endeffekt werden wir sogar drei Ideen realisieren – die aber alle unter derselben großen Überschrift stehen, nämlich: Teilhabe. Als Kulturinstitution – und konkret als Produktions- und Präsentationsort der Freien Darstellenden Künste – denken wir natürlich auch immer wieder sehr grundsätzlich über unsere Rolle nach: Worin besteht die Funktion des Theaters? Geht es wirklich nur darum herzukommen, Kunst zu erleben und dann wieder nach Hause zu gehen, oder besitzt das Haus für die Stadtgesellschaft auch über den konkreten Vorstellungsbesuch hinaus Relevanz? Aus diesen Überlegungen heraus entstand die Idee, das Thema „Teilhabe“ aus verschiedenen Perspektiven anzugehen und mit dem Theaterpreis-Geld letztlich drei Projekte zu finanzieren: auf der einen Seite zwei künstlerische und auf der anderen ein strukturelles, das eher nach innen gerichtet ist, ins LOFFT-Team hinein.
Beginnen wir mit den beiden künstlerischen Vorhaben.
Lessel: Wir haben schon seit längerer Zeit eine Idee, die wir aber aus finanziellen Gründen bisher nicht umsetzen konnten, und zwar eine Fassaden-Performance. Also eine tänzerisch-akrobatische Kunstaktion an unserer Hausfassade, die auch Menschen adressiert, die bisher vielleicht noch nicht die Hürde genommen haben, ins Theater zu gehen. Denn wir bewegen uns ja – gerade auch in der Freien Kulturszene – durchaus in einer Elitenblase. Hinzu kommt speziell in unserem Fall, dass wir uns an einem Standort befinden, an dem man nicht einfach zufällig vorbeikommt, sondern den man gezielt ansteuern muss.
Und den Sie mit prominenter Kreativnachbarschaft teilen: Das LOFFT residiert – etwas außerhalb des Stadtzentrums – auf dem Gelände der Baumwollspinnerei, auf dem auch viele Künstlerinnen und Künstler der Leipziger Schule ihre Ateliers haben.
Lessel: Zweimal im Jahr finden dort die Spinnerei-Rundgänge statt, bei denen sämtliche Galerien und Ateliers geöffnet sind und an denen wir auch partizipieren. Da kommt viel Laufpublikum aus der ganzen Stadt, das hat richtigen Erlebnischarakter, und in diesem Kontext wollen wir auch unsere Fassadenperformance realisieren. Die Details sind aber noch in Planung.
Worin besteht Ihr zweites künstlerisches Projekt zum Thema „Teilhabe“?
Lessel: Wir haben eine professionelle mixed-abled Tanzkompanie am Haus, in der Menschen mit und ohne körperliche Beeinträchtigungen zusammenarbeiten. Im Bereich der Ausbildung besteht aber gerade für Menschen mit Beeinträchtigungen noch ein enormer Nachholbedarf, vor allem in staatlichen Strukturen. Das brachte uns auf die Idee, Praxis und Theorie in unserer FORWARD DANCE COMPANY zusammenzubringen und eine Akademie für die Aus- und Weiterbildung von mixed-abled Kollektiven zu entwickeln, eine Art Modellprojekt für Sachsen.
Gustavo Fijalkow, Sie sind der künstlerische Projektleiter der FORWARD DANCE COMPANY. Wie wird diese Akademie aussehen?
Gustavo Fijalkow: Ich muss vielleicht vorausschicken, dass professionelle Tanzausbildungen – nicht nur in Deutschland, sondern generell – darauf ausgerichtet sind, Tänzerinnen und Tänzer mit normatisierbaren Körperlichkeiten auszubilden, wie ich das mit einem Begriff, den ich in meiner Dissertation geprägt habe, nenne. Das heißt: Eine Tanzausbildung bedeutete – und bedeutet nach wie vor – durch die komplette westliche Tanzgeschichte hindurch das Erlernen standardisierter Techniken, die schon von vornherein auf bestimmte Körper ausgelegt sind und durch die diese Körper während des Studiums weiter formiert und normiert werden. Demgegenüber arbeiten wir in der FORWARD DANCE COMPANY auch mit Tänzerinnen und Tänzern, deren Körper nicht durch diese Techniken normatisierbar sind. Wir haben uns hier auf die Praxis mit unterschiedlichen Körperlichkeiten spezialisiert und wollen als mixed-abled Team auch aus dieser typischen Binarität ausbrechen, die eine klare Trennlinie zwischen Körpern mit und Körpern ohne „Behinderung“ zieht.
Existieren schon Best-Practice-Beispiele, auf denen Sie mit Ihrem Modellprojekt aufbauen können?
Fijalkow: Tatsächlich haben Menschen mit einer nicht-normatisierbaren Körperlichkeit nach wie vor kaum Zugang zu staatlichen Tanzausbildungen. Zwar gibt es inzwischen Studiengänge oder auch komplette Universitäten, die versuchen, sich zu öffnen, aktuell vor allem in Nordrhein-Westfalen und Hessen. Das steckt aber alles noch sehr in den Anfängen, zumal auch Dozent*innen mit der entsprechenden Expertise fehlen. Man müsste ja sämtliche Belange neu durchdeklinieren, von den Zulassungs- bis zu den Benotungskriterien.
Und jede Tänzerin oder jeder Tänzer benötigt eine individuelle, speziell auf sie oder ihn zugeschnittene Ausbildungspraxis.
Fijalkow: Genau, das wird ja schon im Alltag deutlich. Eine Person, die sehbeeinträchtigt ist, braucht z. B. diese Rillen auf dem Bürgersteig, während jemand, der oder die im Rollstuhl sitzt, gerade darüber stolpert. Wenn wir vom Zugang für alle sprechen, bedeutet das für ein mixed-abled Ensemble tatsächlich, dass jede*r etwas anderes braucht.
Es ist also eine wirklich anspruchsvolle Pionierarbeit, die Sie leisten wollen.
Fijalkow: Unsere Idee besteht zunächst einmal ganz simpel darin, Tänzer*innen und Choreograf*innen einzuladen, mit unserem mixed-abled Ensemble zu arbeiten – und zwar ohne Ergebnisdruck. Es soll an dieser Stelle nicht in erster Linie darum gehen, eine neue Produktion auf die Bühne zu bringen, sondern darum, in der gemeinsamen Arbeitspraxis voneinander zu lernen. Wir werden diesen Prozess eng begleiten, schauen, unter welchen Bedingungen Begegnungen zünden und nach den Trainings intensiv besprechen, welche Entdeckungen gemacht wurden und welche Türen sich möglicherweise geöffnet haben. Gleichzeitig sollen auch Choreograf*innen, die selbst eine Einschränkung haben, die Möglichkeit bekommen, in einem professionellen Kontext mit einem professionellen Ensemble zu arbeiten. Der Versuch findet also auf verschiedenen Ebenen statt.
Das heißt, dass Sie Ihre Aus- und Weiterbildungsmodule direkt aus der Arbeitspraxis heraus entwickeln?
Fijalkow: Genau. Wir müssen ja keinen externen Qualitätssiegeln genügen, sondern können Qualität selbst definieren – was allerdings nicht nur ein Vorteil, sondern auch eine große Herausforderung ist. Denn unter dem Professionalitätsanspruch, den wir mit der FORWARD DANCE COMPANY verfolgen, bedeutet das, einen ganz neuen Kriterienkatalog zur Beurteilung von Arbeiten mit mixed-abled Ensembles zu entwickeln – und damit einhergehend überhaupt erst einmal eine Sprache, in der sie beschrieben werden können. Letztlich müssen wir lernen, die komplette Tanzgeschichte anders zu betrachten. Denn solange der gegenwärtig durchgesetzte Kanon bestehen bleibt, lassen sich keine Qualitätskriterien für Tänzer*innen mit nicht-normatisierbaren Körperlichkeiten erarbeiten.
Wir haben jetzt viel über die hohen Zugangsbarrieren im Ausbildungskontext gesprochen. Schaut man aber auf die Bühnen, scheint sich immerhin dort in den letzten Jahren einiges getan zu haben. Schauspieler und Performerinnen mit „nicht normatisierbaren Körperlichkeiten“ wie Samuel Koch oder Jana Zöll sind in Stadt- und Staatstheateraufführungen präsent, die Tänzerin und Choreografin Lucy Wilke wurde mit ihrer Arbeit „Scores that shaped our friendship“ 2021 zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Wie schätzen Sie die gegenwärtige Lage insgesamt ein?
Fijalkow: Als ich 2004 anfing, in diesem Kontext zu arbeiten, wäre es undenkbar gewesen, dass ein freies Theater wie das LOFFT eine mixed-abled Tanzkompanie etablieren kann. Insofern ist im Lauf der letzten zwanzig Jahre tatsächlich einiges passiert. Es gibt im Diskurs eine Sensibilisierung für die Arbeit von Tänzer*innen und Choreograf*innen mit nicht-normatisierbaren Körperlichkeiten. Und dass letztes Jahr der Deutsche Tanzpreis an die sehbeeinträchtigte Choreografin und Tänzerin Sophia Neises ging oder mit „Harmonia“ vom Theater Bremen die Arbeit eines mixed-abled Ensembles zur diesjährigen Tanzplattform Deutschland eingeladen wurde, ist wirklich bahnbrechend. Dennoch sehe ich ein Problem: Tendenziell hat sich auf der einen Seite ein eigener Bereich für Tänzer*innen mit Einschränkungen etabliert, während auf der anderen Seite das Establishment weiterhin relativ geschlossen unter sich bleibt. Dass eine Tänzerin mit einer nicht-normatisierbaren Körperlichkeit fest an einem Staatstheater unter Vertrag ist, hört man jedenfalls selten.
Lessel: Man darf auch nicht vergessen, dass vieles vom individuellen Umfeld abhängt. Gerade, weil Sie Jana Zöll und Lucy Wilke erwähnten: Wenn man diese Künstlerinnen fragt, wie sie es geschafft haben, sich trotz aller Hürden durchzusetzen, merkt man, was für eine große Rolle z. B. die familiäre Unterstützung spielt. Und die haben natürlich nicht alle Menschen in dieser Weise. Wir hatten im März ein Gastspiel mit der FORWARD DANCE COMPANY in Annaberg-Buchholz, einer 20.000-Einwohner*innen-Stadt im ländlichen Raum Sachsens. Da waren viele junge Leute im Publikum, unter anderem auch ein paar Kids im Rollstuhl, die zum Nachgespräch blieben. Eine von ihnen sagte, die Aufführung sei das Schönste gewesen, was sie je gesehen hat. Das war ein Moment, in dem ich Gänsehaut bekam, weil in solchen Äußerungen klar wird, welche Horizonte da auch für Menschen geöffnet werden, die vielleicht noch gar keine professionelle künstlerische Karriere für sich ins Auge gefasst haben, weil sie eben nicht schon im Elternhaus gefördert wurden und weil ihnen deshalb bisher gar nicht bewusst war, dass so ein Weg möglich wäre. Diese Zugänge zu schaffen und Sichtweisen zu stärken, finde ich essenziell wichtig.
Kommen wir zum letzten Aspekt Ihrer Theaterpreisgeld-Investition, der Teilhabe nach innen.
Lessel: Ein Haus und seine Leitungsstruktur sind ja nur so stark wie das Team, das dahintersteht. Unser Team ist zudem in den letzten Jahren stark gewachsen. Deshalb war es uns wichtig, uns auszutauschen und voneinander zu hören, welche Visionen die verschiedenen Abteilungen des Hauses vom LOFFT haben, auf welche Weise sie an bestimmten Entscheidungen beteiligt werden können und wo wir, ganz generell, mit dem Haus, dem Programm und der Ausrichtung perspektivisch hinwollen. Das ist ein interner Prozess, den wir schon vorher angestoßen hatten. Aber das Preisgeld gibt uns jetzt die Möglichkeit, über einen längeren Zeitraum hinweg regelmäßig ein bis zwei Tage mit einer externen Moderation in Klausur zu gehen. Dies ohne diese finanzielle Unterstützung zu realisieren, würde bedeuten, dafür eine kleine Produktion aus dem Programm streichen zu müssen – zumal in Zeiten, in denen die regulären Budgets für künstlerisches Produzieren ohnehin kleiner werden, eine solche Investition eher unmöglich wäre. Aber das ist ja auch ein Aspekt, den der Preis impliziert: die Institution zu stärken. Daher freuen wir uns, das Preisgeld für verschiedene Teilhabeprojekte am Haus einsetzen zu können.