„Gerade jetzt wird die Freie Szene gebraucht“

Von Elisabeth Wellershaus

In Dresden, wo „DIE KUNST, VIELE ZU BLEIBEN“ seine letzte Station hatte, ging es um offene Räume und Begegnungsorte. Carena Schlewitt, künstlerische Leiterin von HELLERAU – Europäisches Zentrum der Künste, erzählt, warum auch ihre Spielstätte so ein Ort ist – und warum sie in diesen Zeiten so wichtig sind.

Ein Gitarrist vor einem großen goldenen Herzen. © Marco Prill

Elisabeth Wellershaus: Wie ist die Stimmung bei Euch nach den Wahlen in Sachsen und den angekündigten Kürzungen der Mittel für die Kultur?

Carena Schlewitt: Die Wahlen waren für uns keine große Überraschung, aber natürlich hatten wir irgendwie doch bis zuletzt auf einen anderen Ausgang gehofft. Dazu kommt die finanzielle Situation, die sich ja auch schon angedeutet hatte, zumindest was die Dresdner Kürzungen betrifft. Es wurde uns gesagt, dass wir uns 2025/26 auf schwierige Jahre einstellen müssten. Aber als wir dann die konkreten Zahlen sahen, war es doch ziemlich schockierend. Unter anderem, weil ich angesichts der komplexen gesellschaftlichen Herausforderungen mehr denn je glaube, dass es Spielstätten wie HELLERAU dringend braucht. Die Welt können sie zwar nicht retten, auch nicht die Situation vor Ort, aber es macht einen Unterschied, ob es Begegnungsräume wie unsere gibt oder nicht. Man sieht in Ländern mit autokratischen Regimen ja bereits die Lücken, die eine stark beschnitte freie Kulturszene hinterlässt. Neben der künstlerischen Arbeit müssen wir diesen Herbst also auch daran arbeiten, unsere Position zu behaupten, den Leuten begreiflich zu machen, dass Häuser wie HELLERAU mit dem derzeit avisierten Haushalt in seinem jetzigen Profil nicht mehr zu halten wären.

Was sind die Themen, die Euch in HELLERAU, auch in Bezug auf die Dresdner Stadtgesellschaft, aktuell umtreiben?

Als wir nach Corona zurückkamen, wollten wir einen Schwerpunkt zum Thema „Come Together“ mit der internationalen und lokalen Freien Szene gestalten. Aber wir stellten fest, dass das gar nicht so einfach war. Wir hatten unterschätzt, wie zaghaft so ein Angebot kurz nach den Pandemiebeschränkungen angenommen werden würde. Als wir diesen Mai mit dem Programm „Dance Together“ gestartet sind, war das Bild ein ganz anderes. Wir wurden buchstäblich überrannt von Menschen, die Workshops mit uns machen wollten oder beim „Dance Walk“ dabei waren, der von der Dresdner go plastic company initiert und mit Community Tanzgruppen aus der Stadt inszeniert wurde. Bei letzterem kamen auf einmal 500 Menschen auf unserem Vorplatz zusammen, um durch die Gartenstadt Hellerau mitzulaufen – alte und junge Leute, Familien, Menschen mit internationaler Geschichte, eine total heterogene Gruppe, die da durch Hellerau zog.

Ein anderes Beispiel ist das Projekt „BABEL“, ein Turmbau, den der Choreograf Jordi Galí initiiert hatte und den Freiwillige aus der Stadt unterstützt haben. Die Aktion zog wiederum ein großes Publikum an, das mitfieberte, ob es mit dem Bau klappt. Ich glaube, dass Theater sich in Zukunft noch viel stärker öffnen sollten. Wir erproben das unter anderem mit Projekten wie „explore dance – Tanz für junges Publikum“: in der Zusammenarbeit mit Schulen, Museen oder Bibliotheken. Auch mit Initiativen und Institutionen, die mit der Hellerauer Bürger*innenschaft oder mit dem Dresdner Norden vernetzt sind und uns mit diversen Publika verbinden, die wiederum unterschiedliche Ästhetiken und künstlerische Inhalte aus ganz verschiedenen Blickwinkeln betrachten.

Da passten auch die Projekte von „DIE KUNST, VIELE ZU BLEIBEN“, wunderbar ins Konzept, deren Partner wir zusammen mit dem Societætstheater/Zirkustheaterfestival und dem Zentralwerk Dresden bei ihrer letzten Station in Dresden waren. Wir haben zusammen zu einem großen Fest der Kunst auf den Dresdner Altmarkt eingeladen, dessen Bild ja immer wieder von Bewegungen wie Pegida oder auch Parteien wie der AfD und ihren Losungen geprägt wird. Zusammen haben wir es geschafft, ein anderes, offenes Bild zu erzeugen – insbesondere die Zirkusperformance der Fahrrad-Akrobat*innen der französischen Compagnie La Bande à Tyrex hat viele Menschen angezogen und eine tolle Stimmung erzeugt. Die andere Fahrradperformance „Unser wunderschönes Sachsen“ vom fachbetrieb rita grechen führte Spezialist*innen eher ins Umland von Dresden und erkundete sächsische Funklöcher. Und der Zentralwerkchor hat es geschafft, eine emotional-kontemplative Stimmung auf dem Platz zu erzeugen.

Eine Bühne auf dem Altmarkt. Drei Fahrradakrobat*innen stehen auf ihren fahrenden Rädern und fahren in einem großen Kreis. Hinter ihnen spielt eine Band. Um die Bühne steht das Publikum. © Marco Prill

Welche Rolle spielt in Eurem Programm auch der Bezug zu den Kunstszenen Osteuropas, mit denen ihr eng verbunden seid?

CS: Der ist uns tatsächlich sehr wichtig, auch in Bezug auf unsere eigene Transformationsgeschichte. Unter anderem beschäftigen wir uns mit den Performance-Szenen aus Ländern, wo autokratische Regierungen verhindern, dass unabhängige Künste sich entwickeln können. Oder in der Zusammenarbeit mit der Ukraine, wo es darum geht, wie in einem kriegsgebeutelten Land überhaupt noch freie Kunst produziert werden kann. Ob im Austausch mit der Ukraine, Belarus, Ungarn oder der Slowakei: Dialog steht immer im Zentrum. Soweit wir aktuell können, versuchen wir als Partner zur Verfügung zu stehen. Uns interessieren die Strategien, die Künstler*innen vor Ort entwickeln, ihr Umgang mit solidarischen Netzwerken – nicht zuletzt auch aus eigennützigen Gründen. Wir wissen schließlich nicht, wie sich die Situation in den nächsten Jahren in Deutschland entwickeln wird.

Wie begegnet HELLERAU der aktuellen politischen Situation in Deutschland?

CS: Neben Begegnungsformaten für unterschiedliche Stadtgesellschaften sind uns auch historische Perspektiven wichtig. Es ist ja bekannt, dass die AfD das Thema der so genannten Transformation Ost gerne vereinnahmt, also einen ganz bestimmten Teil der deutschen Aufarbeitung. Aber in welcher Form will diese Partei da etwas aufarbeiten? Uns ist wichtig, dass wir uns in HELLERAU aus unserer Perspektive, etwa mit Festivals wie „89/19“, mit diesem Teil der deutschen Geschichte, also der Wende- und Transformationszeit der 1990er Jahre bis heute – befassen. Aus der Perspektive der Generation, die zu dieser Zeit tatsächlich Kunst gemacht hat – aber auch aus Sicht der Jüngeren.

Welche Rolle spielt die Geschichte des Festspielhauses für diese Arbeit?

CS: Hier spielt auch ein anderer Aufarbeitungsprozess eine Rolle. Das Festspielhaus Hellerau hatte seine künstlerische Blütezeit ja zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Ab 1938 wurde der Ort dann aber zur Kaserne umgebaut, wurden die Polizeischule und die Waffen SS-Schule hier untergebracht. Mit der Instandsetzung des Gebäudes Ostflügel auf dem HELLERAU Areal hat in Zusammenarbeit mit dem Kulturamt und mit dem Institut für sächsische Geschichte und Volkskunde der TU Dresden auch ein Teil der Aufarbeitung dieser Zeit begonnen. Denn wir fragen uns ganz konkret: Was ist hier damals genau passiert, wer war vor Ort, an welchen Einsätzen waren die Offiziere beteiligt, die hier ausgebildet wurden?

Es geht Euch also um einen differenzierten Umgang mit ineinandergreifenden Historien. Vielleicht auch um neue Narrative über den deutschen Osten?

CS: Auf jeden Fall. Ich will jetzt nicht in das Horn der unzufriedenen Ostdeutschen blasen. Aber was mich rund um die Landtagswahlen schon etwas geärgert hat: Die Aufmerksamkeit für den Osten ist alle vier Jahre an die Landtagswahlen geknüpft. Vier Jahre lang dazwischen passiert so gut wie nichts, und dann sind alle auf einmal ganz aufgeregt. Plötzlich wird von überall berichtet, werden sehr oft die immer gleichen Stereotype bemüht. Dabei wäre es so wichtig, auch zwischendurch mal hier vorbeizukommen, kontinuierlich zu berichten, sich wirklich für die Arbeit, Situationen und Menschen vor Ort zu interessieren. Es geht ja insgesamt darum, bestimmte Diskurse füreinander zu übersetzen. Und gerade dafür müssen Spielstätten sich öffnen, um die Themen jenseits der Verschlagwortung ins Gespräch zu bringen. Auch deshalb liegt mir so viel daran, hier vor Ort zu erklären, warum die Arbeit der Freien Szene so wichtig ist. Warum es wichtig ist, dass etablierte Künstler*innen hier weiterhin unterstützt werden und die Jungen von den Kunsthochschulen aus der Region oder Zugezogene zum Bleiben animiert werden.

Was wünscht Du Dir für die Zukunft?

Wir führen gerade viele Gespräche mit den Fraktionen des Stadtrats. Die Hälfte der Stadträt*innen ist neu, viele erfahrene Politiker*innen sind gegangen. Das ist eine Herausforderung, gerade in diesen Zeiten. Also versuchen wir im Moment vor allem, das Modell HELLERAU zu erklären – Inhalte, Ästhetiken, Publika, Künstler*innen, aber auch die sehr guten Verbindungen zu Partner*innen und zum Publikum aus der Region.

Als ich in Hellerau angetreten bin, wollte ich das Produktionshaus HELLERAU weiterentwickeln, das eine lange und wichtige Geschichte hat. Aktuell geht es aber vor allem darum, eine durch Mittelkürzungen und politische Herausforderungen drohende Rückentwicklung zu verhindern. Denn auch wenn mir klar ist, dass die Stadt Straßen, stabile Brücken und eine solide soziale Architektur braucht, glaube ich weiterhin, dass ein Ort wie HELLERAU den Bewohner*innen nachhaltig etwas geben kann. Denn wir brauchen Begegnungsorte gerade mehr denn je.