Hat die Kunst nur dann Freiheit verdient, wenn sie Recht hat?

Von Simon Strauß

Was soll Kunst? Was kann sie der Gesellschaft bedeuten? Warum muss sie frei sein und bleiben? Antworten auf diese Fragen findet der FAZ-Feuilletonist Simon Strauß in den Werken des italienischen Regisseurs und Schriftstellers Pier Paolo Pasolini.

Simon Strauß steht auf einem Pult abgestützt am Mikrofon und hält seinen Vortrag. © Dorothea Tuch

Nicht nach Mai riecht diese unreine Luft,
die den dunklen Garten der Fremden
noch dunkler macht oder ihn grell durchzuckt 
mit blinden Aufheiterungen… Spuckfadenhimmel
über den gelben Terrassenwohnungen,
die in gewaltigem Halbkreis die Kurven 
des Tibers verschleiern, die türkisgrünen
Berge Latiums… Einen tödlichen Frieden,
gleichgültig wie unser Schicksal, 
verbreitet der herbstliche Mai zwischen
dem alten Gemäuer. In ihm ist die Eintönigkeit der Welt,
zu Ende geht das Jahrzehnt und mit ihm bricht in Trümmer 
unsere echte und arglose Mühe
das Leben neu zu gestalten;
das Schweigen, unfruchtbar, vermodert… 
Du Knabe hast in jenem Mai, da Irren
noch Leben hieß, in jenem italienischen Mai,
da zum Leben noch Leidenschaft trat, 
viel weniger leichtsinnig und von falscher Gesundheit
als unsere Väter – nicht Vater, sondern demütiger
Bruder – du hast mit deiner dünnen Hand 
(nicht für uns: du Toter für uns,
die wir auch tot sind, mit dir, in diesem
feuchten Garten) das Ideal gezeichnet, 
das dieses Schweigen erhellt. Du kannst,
begreifst du es?, nur in diesem Ort der fremden
ruhen, noch immer verbannt. Vornehme 
Langeweile um dich herum. Verblaßt nur
klingt manchmal ein Hammerschlag zu dir herüber
aus den Werkstätten des Testaccio, verschluckt 
vom Abend: zwischen armseligen Schuppen,
nackte Blechberge, Schrotthügel, wo ein lümmelnder Lehrbursch
sein Tagwerk zu Ende singt, 
während der Regen aufhört.
 

„Die Asche von Gramsci“, das Gedicht stammt aus dem Jahr 1954. Der Dichter, der sich mit dem Grab von Antonio Gramsci unterhält, trauert darüber, dass der „italienische Mai", in dem der junge Gramsci die Konturen des „leuchtenden Ideals" definierte, weit entfernt ist und dass heute alles „vornehme Langeweile“ sei. Pasolini heißt der Dichter und er erklärt seine Position als Künstler, der eines vor allem anderen sein will: nicht klassifizierbar. Er, der sich sowohl mit dem Proletariat identifizieren als auch die uralten Dialekte des Friaul bewahren will, der anders und roher liebt als die Mehrheit, aber die Ehe als Institution doch bewundert. Er, der von einer Zeit träumt als „Irren noch Leben hieß“…
 

Einer, der die Welt liebt, die er hasst
Einer, der die Geschichte besitzt, so wie sie ihn besitzt
Einer, der daran glaubt, dass das Mythische nichts sonst ist als die andere Seite des Realismus 
Einer, der die Menschen liebt und gleichzeitig verachtet
Einer, der weiß: dass man zu zweit sein muss, um zu sein und dem eine wirkliche Bindung doch nie gelingt
Einer, der die Kraft der Vergangenheit spürt und doch moderner ist als jeder Moderne
Einer, der nichts mehr verachtet als den Konsum
Einer, der sich vor Fernsehbildschirmen übergeben muss
Einer, der den Konformismus bekämpfte- auch den ihm eigenen
Einer, der lieber zu Unrecht verurteilt werden wollte als toleriert zu werden…
Einer, der bald vor 50 Jahren, genauer in der Nacht vom 1 auf den 2. November, in der Nacht von Allerheiligen auf Allerseelen im Jahr 1975 unter bis heute ungeklärten Umständen in der römischen Hafenstadt Ostia bestialisch ermordet wird.

Pasolini: das ist nicht nur der Regisseur vieler eindrucksvoller Filme, sondern auch der Dichter, Romancier, Journalist, öffentlicher Intellektueller und nicht zuletzt der Angeklagte, der in mehr als 30 Prozessen für die Streitfragen seiner Zeit zu Glauben, Kunst, Politik und Sexualität herhalten musste. Pasolini, das ist heute 50 Jahre nach seinem Tod auch ein Stichwortgeber für die Frage: Was soll Kunst? Was kann sie der Gesellschaft bedeuten? Warum muss sie frei sein und bleiben?

Pasolini antwortet darauf mit seinem Leben und seinem Werk. 
Er lebt in bescheidenen Unterkunft am Stadtrand vom Rom und entdeckt im Subproletariat eine revolutionäre Gegengesellschaft, vergleichbar für ihn mit der frühchristlichen Gesellschaft. In ihm sieht er den Vermittler einer unbewussten Botschaft der Demut und Armut im Gegensatz zum hedonistischen Nihilismus der Bourgeoisie.

Hier in Rom entdeckt er seine eigene, fortan Leben und Werk bestimmende Welt.
Seine Kunst, die er in Filmen, Romanen, Gedichten und Essays zum Ausdruck bringt, ist imprägniert gegen das, was wir heute „Zeitgeist“ nennen. Im Gegenteil ist sein Wirken als Künstler eine ständige Suche nach Bildern, die den Zwiespalt, die Zerrissenheit zwischen verschiedenen Zeiten und Wertordnungen symbolisieren: das Heilige und das Vulgäre, das Archaische und das Futuristische, das Versmaß Dantes und die Industrie Italiens.
Politisch sind alle seine Filme, alle seine Texte in einer fundamentalen, sagen wir ruhig antiken Weise: es geht um die alles entscheidende Frage nach dem Standhalten von Gemeinschaft, danach, wie historische Veränderung ausgehalten werden kann, ohne dass die Menschen sich zu sehr verändern. 
Pasolinis Hass auf den Konsum und die Käuflichkeit auch des Kommunismus rührt daher, dass er im Gesetz des Marktes eine Verurteilung der Kunst sieht. Wo Geld und Tagespolitik die Agenda des Künstlers bestimmen, da verkümmert er zu einem wertlosen Dienstleister. 
Deshalb sieht er die politische Aufgabe seiner Kunst darin, Entlastung zu liefern von den kapitalistischen und ideologischen Moralgesetzen. Widerspruch einzulegen gegen den Funktionsbefehl: Produziere, damit es verstanden, schaffe Kunst, damit es das Gewissen beruhigt. Mit Brecht oder Kunst für politische Bildung wollte Pasolini nichts zu tun haben. Als 1968 in Rom Straßenschlachten ausbrachen, ergriff er nicht die Partei der bürgerlichen Studierenden, sondern seinem „irrationalen Kommunismus“ folgend die der Polizisten, weil sie Söhne armer Bauern seien.  
Statt Aufklärung lieber Verklärung, statt Solidarität mit den Utopien von Kleinbürgern lieber Anteilnahme an den Träumen und Alpträumen des Proletariats– in seiner ästhetisierten Soziallyrik spiegelt sich sein Zwiespalt zwischen der Sehnsucht nach einer neuen Realität, die vom Marxismus verkörpert wird, und der verzweifelten Liebe zum ursprünglichen Volk, zum Italien der Armen

Leidenschaft vor Ideologie – das ist dann auch die beste Überschrift, die man über Pasolinis Werk setzen kann. Emotionalität ist wichtig, insofern jede emotionale Position Widersprüche zulässt, die der Gebrauch der Vernunft ausschließt. Leidenschaft für die eigenen Widersprüche…PPP ist gleichzeitig „dekadent“ und „sozial engagiert“ (Moravia), er ist Marxist und Katholik, spricht sich gegen Abtreibung aus und kämpft zusammen mit Maria Callas für die entrechteten Frauen des globalen Südens. 
Pasolinis Antikonformismus wird im Laufe der Jahre immer wilder und verzweifelter. Die zunehmende Industrialisierung Italiens, die gesellschaftliche Einigkeit darüber, dass in der Technologie der einzige Fortschritt zu erwarten sei, dass die Warenproduzenten die neuen Könige seien, all das nahm Pasolini wahr und unserer Silicon-Valley-Zeit vorweg: 

Was können wir heute also von Pasolini lernen?

Drei ½ Dinge:

1)    Die Distanz von Zeit und Kunst: Wenn man sich als Künstler zu sehr auf seien eigene Zeit einlässt wird man korrumpiert, wird zum Dienstleister an Markt und Moral – denn, wenn die Zeit die des Kapitalismus ist, dann produziert man seine Filme, Serien, Bücher so, dass sie dessen Gesetzen gehorchen. Und wenn die Zeit nach Konservativem riecht, dann macht man lieber wieder mal was mit Wagner…Traum und Vergangenheit sind die besseren Inspirationsquellen als die Tagesthemen, sagt Pasolini uns

2)    Die Ästhetik ist höher als das Programm. Der Plot weniger wichtig als die Bilder. Die Sprache in ihrer Färbung und semantischen Splatterhaftigkeit ein eigener Wert der Darstellung. Pasolini sagt uns, dass der Manierismus, also die eigenartige, befremdliche Art der Darstellung die höchste und ehrlichste Kunst ist. Gerade das Darstellende Spiel in diesem Land könnte dadurch viel gewinnen, sich vom Realismus-Diktum lösen und dem postdramatischen „So tun als wenn nichts wäre“ endlich ein neues Formparadigma entgegensetzen.

3)    Das künstlerische Interesse an Land und Leuten. Nicht nur das Vermächtnis der alten bäuerlichen Welt und Kultur interessierte Pasolini, auch das Sexleben der Italienerinnen und Italiener. Das ist mein Lieblingsfilm von ihm: comiti d Amore. Atemlos staunend über die Verklemmtheit und Brutalität der Ehrvorstellungen. Heute könnte der Kunst das, was in der Provinz, im Dorf neue Aufgaben stellen. Weg aus den Großstädten, rein in die Peripherie, ins nächste Fremde. Das Theaterhaus Jena hat ein Theaterprojekt über eine geschlossene Dorfkneipe gemacht. Das ist die Richtung…Pasolinis Sehnsucht nach zeitlosen Orten, nach der Aufnahme einer Art zu sprechen, zu leben, zu leiden, die es im Grunde nie gab oder geben wird…; eine ganze Welt instinktiver Wildheit und Güte, der gesamte Lebens- und Sprachzusammenhang

½) Sinn für Außenseiter, für die hinter den abgebrochenen Brücken. Er selbst hat sich mit ihnen identifiziert: Er, der aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen, von offiziellen Stellen bestenfalls toleriert und von den Neofaschisten gehasst wurde.Er, der sich Zeit seines Lebens einer politischen Auseinandersetzung mit der Homosexualität widersetzt hat, hat in ihr eher das heroische, vielleicht sogar kunstschaffende Signum des Außenseiters gesehen. In einem Interview 1973 hat er gesagt: „Eine repressive Welt ist gerechter gütiger als eine tolerante Welt, denn in der Repression erlebt man große Tragödien, sie bringt Heiligkeit und Heroismus hervor. In der Toleranz definiert man die Verschiedenheiten, man analysiert und isoliert Anomalien, schafft Ghettos. Ich würde lieber zu Unrecht verurteilt als toleriert.“ Das klingt in unseren Ohren fatal und falsch. Aber die Frage ist: Hat die Kunst nur dann Freiheit verdient, wenn sie Recht hat?

 

Simon Strauß hielt den Vortrag am 21. Mai 2025 als Teil der Veranstaltung Die Kunst, Viele zu bleiben. Forum für Kunst, Freiheit und Demokratie: Deutschland und Europa in der Kulturhauptstadt Chemnitz 2025. Die anschließende Podiumsdiskussion mit Dramatiker*in Sasha Marianna Salzmann und Aktionskünstler Philipp Ruch, moderiert von Natascha Freundel, wurde vom rbb/radio 3 aufgezeichnet und ist als Podcast der Reihe Der Zweite Gedanke abrufbar. Die Beiträge von Salzmann und Ruch stellen wir ebenfalls in unserem Online-Magazin zum Nachlesen zur Verfügung.

Der Autor zitiert Pasolinis Gedicht aus: Pasolini, Pier Paolo: „Gramsci's Asche“, Zürich/München 1984