How To Stay

Von Sivan Ben Yishai

Im Zug – kaufen wir uns immer ein Ticket. Im Supermarkt – haben wir keinen Rucksack dabei. Im Park – bewegen wir uns nicht zu hastig. In der Nacht – bedecken wir unser Gesicht nicht. – Die Schriftstellerin Sivan Ben Yishai hielt diesen Vortrag im Rahmen von „DIE KUNST, VIELE ZU BLEIBEN“ am 24. August 2024 beim Kunstfest Weimar.

That’s the thing, vermutlich werden wir bleiben. Vermutlich werden wir nicht von hier abhauen, werden das alles hier nicht zurücklassen, ziemlich sicher nicht, werden uns nicht abwenden, werden es nicht aus Protest tun, werden unsere Habseligkeiten nicht verkaufen und von hier weggehen, werden sie nicht auf die Straße werfen, nicht sofort, nicht jetzt, nicht on time. 
Was wird passieren? 
Was immer passiert. Man erfährt von einer tödlichen Krankheit und verbringt die verbleibende Zeit mit Bürokratie, mit Chemotherapie. Man strengt sich noch mehr an. Und das tun wir. Wir werden uns sogar richtig ins Zeug legen. Besser funktionieren, unsere Arbeit besser machen. Wir werden schwitzen. Viel mehr als wir jetzt schwitzen (und wir schwitzen auch jetzt), manche von uns mehr, andere weniger, aber how to say, wir werden schwitzen. That's the thing. Wir werden vermutlich, wahrscheinlich, bleiben. Because it’s not like anything is really waiting for us somewhere, it’s not like there is grundsätzlich somewhere better for us out there, better for us back there und Menschen sind schließlich überall Menschen, nicht wahr? Es ist ja nicht so, dass es einen Ort gäbe, der wesentlich besser wäre, nicht wahr? Und selbst wenn es so wäre, ist es nicht so, dass es einen Weg dorthin gibt, für uns. 
So try. 
Just try. 
We will try. 
Als hätte man nur noch wenige Monate zu leben und ordnet die Krankenakten ständig nach Farben. In alphabetischer Reihenfolge. Mit korrekter Schreibweise. Der Mensch versucht immer irgendwas. Je schwieriger es wird, desto mehr bemüht er sich. Je härter es ihn trifft, desto beharrlicher wird er. 

Zum Beispiel: Wir entschließen uns dazu, wieder zu studieren. Wir memorisieren Verben, Namen, Daten. Grammatik. Aussprache. Worte. Zahlen. Und wenn dieses alte Gehirn langsam den Geist aufgibt, nichts mehr kapiert, dann arbeiten wir härter, wachen noch früher auf, wir hauen nicht ab. You don't just run away one day, you don't just throw away everything you worked on for so long, it’s not like all this had no meaning at all, it’s not like we hadn’t done anything in this place, with this place, for this place at all. We did things. It had. a meaning. Also bleiben wir. Vermutlich werden wir einfach bleiben. Und verringern vielleicht einfach die Lautstärke. Manche nur ein bisschen. Andere halten wirklich den Mund. 

Und dann? Well. Im Zug – kaufen wir uns immer ein Ticket. Im Supermarkt – haben wir keinen Rucksack dabei. Im Park – bewegen wir uns nicht zu hastig. In der Nacht – bedecken wir unser Gesicht nicht. In der Bank – sprechen wir gedämpft. In der Apotheke – lassen wir die Hände aus den Taschen. Auf dem Spielplatz – bringen wir das Lachen unserer Kinder zum Schweigen. Und planen. 

Wir werden da sitzen, mit uns, stundenlang, und planen. Wie wir von hier abhauen, wie wirs rausschaffen aus diesem Ort und nie wieder zurück kommen. Mit uns werden wir weinen. Wir werden schreien. Manche laut, manche verhalten, aber wir werden fluchen, wir werden endlose Reden halten und einander erklären, wie fertig wir sind, wie fertig wir damit sind, wie fertig wir sind mit diesem Ort. Dann werden wir aufstehen, zu unserem Bett gehen, uns auf unsere Seite dieses Vertrags legen, uns in unseren Teil dieser Vereinbarung legen, uns mit dem Stück Decke zudecken, das uns zugewiesen wurde, gute Nacht sagen, uns umdrehen, versuchen, nicht daran zu denken, einschlafen, wir werden bleiben. Denn wie genau sollte dieses Weggehen aussehen? Selbst wenn wir gehen, werden wir weiter hier festsitzen, selbst wenn es uns gelingt, bleiben wir hier gefangen, da machen wir uns nichts vor. You see, selbst wenn wir gehen, gibt es keinen Ausweg.

In einer Straßenflucht läuft ein dunkel gekleideter Mann, mit Kopfhörern auf den Ohren und einer Plastiktasche in der Hand, der untergehenden Sonne entgegen. © Sebastian Bolesch

So, for now, versuchen wir einfach, auf der Straße ein bisschen weniger aufzufallen. Wir werden weniger laut sein, weniger präsent, weniger intensiv. Wir werden weniger chatty sein, weniger shiny, weniger fordernd. Wir werden weniger erfolgreich sein, weniger unnütz, weniger empfindlich. Wir werden weniger altklug sein, weniger unakademisch, weniger wissen als Sie. Wir werden weniger reich sein, natürlich, weniger arm, auf jeden Fall, weniger verliebt, einfach weniger. Because what’s the choice? What now? Where now? Where are we supposed to get a proper visa from? Some of us will get a visa, some of us will never get a visa, and how to collect enough money, and how to organize, and where to get the strength to go through this again, all this again, ein neues Jahrhundert, and here we go again? Everything all over again? How now? And how to leave now, and how to start anew, no, really, things can be solved, things can be resolved, it’s the pendulum, right? we have our democratic institutions, right? it will keep on swinging, people are not stupid, look at Poland, people are not idiots, oder nach Frankreich, people have learned, das wird schon, things will be sorted out, false alarm, false alarm everyone, no need to evacuate, and anyway I’m not going! I can’t! Not now! I can’t go, I can’t do it again, I can’t leave again, not now, nicht noch ein Jahrzehnt, just not another lifetime of looking backwards. 
Nein. 
Nein. 
Nein. 
Wir bleiben. 
Wir bleiben nicht bloß, wir bekommen auch ein paar Möbel. Ein neues Bücherregal. Einen Kleiderschrank. Einen besonderen viertürigen Schrank, der speziell für diesen Ort angefertigt und ausgestaltet wurde. Für dieses Zimmer. Für dieses Haus. 
Wir tragen Stühle und Sofas die Treppe hinauf und stellen eins davon fest in jede Ecke, wie auf eine Serviette im Wind. Und unsere Möbel werden das Haus füllen wie Wut. Und unsere Möbel werden das Haus füllen wie Albträume. Halb tot, nur noch wenige Tage zu leben, ja? Und stundenlang im Wartezimmer, bloß um ein Scheißrezept zu bekommen. 

Übrigens: Unser Einbürgerungsprozess hat bereits begonnen. We filled the form. We signed into an Integrationskurs. Whatever you tell us to unterschreiben, unterschreiben wir. Whatever statement you want us to make, we’ll make. Wo ist die Klausel? Wir werden unterschreiben. Wie lautet die Aussage? Wir sprechen sie nach, mit der Hand auf unserem Herzen. Und jetzt, wo ist die Integrationsklasse? Wir werden Klassenbeste. Wie sieht das Zimmer aus? Ist es sauber? Wo ist der Besen, gebt uns einen Besen (Oh. You mean, voluntarily. Sicher. Sicher.) Wir machen das natürlich ehrenamtlich, keine Frage, es dreht sich nicht immer alles ums Geld, weißt du! Nicht alles! Manche Dinge tut man einfach für den eigenen Seelenfrieden, für die Gemeinschaft! (F... four hours every day?) Ja! Ja, natürlich! Lasst uns eine bessere Scheißwelt aufbauen, we will volunteer, wir geben endlich etwas zurück! Ok! Und jetzt! Wo ist der Besen? Quatsch, zweiter Versuch: der Handfeger! Wo ist der Handfeger? Freiwilligenarbeit macht glücklich! Jetzt fühlen wir uns besser. Hat frau erst mal volunteered, fühlt sie sich gleich besser. Besser mit sich, besser mit der Welt, alles ist doch a lesson, wissen Sie, was ich meine? Ein present aus dem universe. Und jetzt bringt mir eine Schaufel! Einen Handfeger und eine Schaufel! Und bitte, kein Bargeld! Die Bezahlkarte ist mehr als genug, ich fühle mich geehrt! Ich danke Ihnen! Gibt es noch etwas, was ich für Sie tun darf? Für Sie? Für Sie? Ganz ehrlich. Liebend gern. Es ist mir ein zutiefst menschliches Bedürfnis, ein zutiefst menschliches Gefühl. Von einem Menschen zum anderen, eine große Familie. Dafür möchte ich Ihnen danken, seht, wie glücklich alle sind, wie positiv. 

Apropos: Wir müssen zugeben, dass es manchmal schwer für uns ist, uns Geschichten über Menschen anzuhören, die zum Beispiel von der Polizei verprügelt wurden, Gott, how horrible. Oder über Menschen, die gewaltsam deportiert wurden. What! Or let me speak as a writer for a second? People who wrote stuff, and were canceled afterwards. Wow, wow, not good, what’s happening here, where are we going etc. etc. However! Um ehrlich zu sein, I must admit that I read what they geschrieben haben. And I want to offer that maybe vielleicht diese Leute – und das muss bitte unter uns bleiben – were silenced because they didn't write wisely enough, because they weren’t dialectical and sophisticated enough, you need to remember your position when you write, then no one will cancel you, das kannst du mir glauben, you will be able to write your texts. Positively. in Germany. because people will think your texts are great. and positive. in Germany. Was ich damit sagen will: Wenn man mich abschiebt, dann sollte ich mich vielleicht mal fragen, warum. Warum ich. Warum ich und nicht sie. Vielleicht gibt es da etwas in mir, das nicht ausschließlich positiv ist. Das nicht Teil dieser Gesellschaft sein will. Vielleicht glaube ich gar nicht daran, dass mir ein Zuhause zusteht. Eine Umarmung. Und wenn ich gepushbackt werde, kann ich das auch – vielleicht! – als Metapher sehen. Ich meine, Exil, Gewalt, Abschiebung sind irgendwie kollektive Primärerfahrungen, oder? Sie lösen in uns allen Angst aus. So. Lassen wir uns ein paar Sekunden lang tief Luft holen und uns etwas Zeit dafür nehmen, zu verstehen, was mich heute Abend blockiert, was in mir „abgeschoben“, was „geschlagen” wird? Wer „cancelt" mich? 
Bitte sprechen Sie mir nach: 
Der Wandel liegt in deinen Händen, Sivan. Alles liegt in deinen Händen, Sivan. Du bist positiv. Du bleibst, Sivan. 

And the rest will follow. 

 

Von Sivan Ben Yishai. Übersetzung von Gerhild Steinbuch.

Unter dem Titel „Poetische Positionen" im Programm von „DIE KUNST, VIELE ZU BLEIBEN“ bezogen neben Sivan Ben Yishai auch die Schriftsteller*innen und Dramatiker*innen  Manja Präkels, Anne Rabe und Deniz Utlu Stellung zum aktuellen Zeitgeschehen. Ihre Beiträge stellt der Fonds in seinem Online-Magazin nun zum Nachlesen bereit. Der Fotograf Sebastian Bolesch begleitete die Veranstaltungsreihe des Fonds und hielt Eindrücke aus den Umfeldern der einzelnen Stationen in Bildern fest.