Ideen gleich für Montagmorgen – ein Besuch beim Labor des Freien Musiktheaters
Von Sebastian Köthe
Beim Labor „Freies Musiktheater“ der FREO e.V. (Freie Ensembles und Orchester in Deutschland) haben sich 30 Künstler*innen in Berlin getroffen. Aus der Isolation, den Schmerzen und der Verunsicherung der Corona Pandemie haben sie Ideen für die Zukunft des Musiktheaters entwickelt. Ein Beitrag von Sebastian Köthe.
LABOR – Freies Musiktheater
Es
ist so ein Tag, man weiß nicht, ob man friert oder schwitzt, keiner hat
einen Schirm dabei, obwohl es ständig wie aus Kübeln gießt. Das Theater
Aufbau Kreuzberg gewährt einen willkommenen Unterschlupf. Hier treffen
sich 30 Künstler*innen aus dem freien Musiktheater – nach zwei Jahren
Pandemie blicken sie in geschützter Atmosphäre zurück und nach vorne:
Was ist mir eigentlich in der Pandemie beruflich, persönlich, emotional
geschehen? Welche konkreten Handlungsperspektiven und welche
zukunftsweisenden Ideen kann ich hier und heute entwickeln?
Die
Teilnehmer*innen und mich führt ein Logbuch durch den Tag, das voller
Fragen, Schreib- und Zeichenaufgaben ist. Ich stoße am Nachmittag dazu
und noch ehe ich mich hingesetzt habe, bleibe ich gebannt vor einer
Galerie mit Zeichnungen von Tiziana Jill Beck stehen, die den Tag als
Graphic Recorderin begleitet. Obwohl die meisten Aufgaben in Zweier- und
Gruppengesprächen organisiert sind, schafft es Tiziana unauffällig
herumzuschleichen und die Gesprächsergebnisse – Ideen, Stimmungen oder
Anekdoten – in eigensinnigen Zeichnungen festzuhalten und zu
kommentieren. Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass ich angesichts
dieser ungewöhnlichen Live-Dokumentation später mit einer Teilnehmerin
über Archivierung in den Freien Künsten sprechen werde.
Ich treffe Lena Krause, die das Labor zusammen mit Moritz von Rappard inhaltlich verantwortet. Lena erzählt mir, was bisher geschah: Zum Kennenlernen haben sich die Teilnehmer*innen anhand von Fragen im Raum verteilt, um Vorlieben, Zugehörigkeiten und Privilegien sichtbar zu machen. Während die Entscheidung zwischen Pizza und Döner schwierig, aber weitestgehend ohne Konsequenzen ist, hat die Frage nach fester institutioneller Anbindung Gräben zwischen den Teilnehmer*innen offenbart. Genauer gesagt: zwischen einem Teilnehmer und allen anderen. Denn ein einzelner festangestellter Laborteilnehmer stand allen anderen gegenüber, die sich – als Freiberufler*innen mal besser oder schlechter – von Auftrag zu Auftrag hangeln.
Im
Labor werden immer wieder Fähigkeiten genutzt, die die Teilnehmer*innen
nicht hauptberuflich beherrschen. Musik, Schauspiel und Gesang treten
in den Hintergrund, stattdessen wird geschrieben und gezeichnet, es
werden Ideen und Prototypen entwickelt und gebaut. Vielleicht steckt der
Gedanke dahinter, dass das Muskelgedächtnis (die kreativen Muskeln
eingeschlossen) in der eigenen Kunstform so stark ausgebildet ist, dass
es immer wieder auf dieselben Lösungen kommt. Wer sich zu dilettieren
traut, lernt sich auch selbst neu kennen.
Die
Teilnehmer*innen hatten die Aufgabe bekommen, schöne und finstere
Momente der Corona-Zeit zu zeichnen. Die aufgehängten Bilder ergaben
dann eine visuelle Kartographie der Pandemie. Die berührende Collage
zeigt, dass es nicht „die Pandemie“ gibt, sondern viele Pandemien, die
je eigen erlebt wurden. Manche Teilnehmer*innen profitierten von
mehreren Förderprogrammen, andere rutschten durch die Lücken und konnten
die Verdienstausfälle kaum kompensieren. Manchen verhalf der
leergefegte Terminkalender zum Inspirationshoch, andere waren in
rasendem Stillstand gefangen, haben vieles angefangen und nichts zu Ende
gebracht. Manche nahmen Flöten, Gitarren oder nur ihre Gesangsstimmen
mit in die Natur, andere wurden vom Betondschungel der Großstadt
eingekesselt. Manche rückten in Freundeskreisen und Familien näher
zusammen, andere verlorenen ihre Liebsten an den Virus. Die krakeligen,
unbeholfenen und von Herzen kommenden Zeichnungen haben in ihrer
schutzlosen Behelfsmäßigkeit vor Augen geführt, dass die Pandemie – wie
auch immer ihr virologischer Stand sein mag – gefühlsmäßig noch lange
nicht ausgestanden ist.
Durch
den Tag geleitet haben Wibke Behrens und Moritz von Rappard von Hands
on. Die beiden legten Wert darauf, den Enthusiasmus einer solchen
Veranstaltung – Vorsätze, Pläne, Bekanntschaften – nicht verpuffen zu
lassen. Sie beharrten darauf, Ideen so zu gestalten, dass sie gleich „am
Montagmorgen“ umgesetzt werden können. Keine Ideen, bei denen man
Monate auf Förderentscheide warten muss. Für die man genau diese eine
Star-Schlagzeugerin braucht, die sich seit Wochen nicht meldet. Für die
man erstmal drei Institutionen an den Tisch bringen müsste. Aus diesem
Lob der unmittelbaren Umsetzung ist eine Selbstbefragung der eigenen
Arbeitspraxis resultiert: Wann nimmt eine Idee eigentlich Energie und
wann gibt sie welche? Gibt es auch sowas wie toxische Ideen, die uns –
obwohl inhaltlich interessant – schaden? Wo müssen wir mit dem Alltag
brechen – der Bürokratie, den Erledigungen, den Emails –, um etwas auf
die Reihe zu kriegen?
In der Folge wurden spielerische Ideen für ein neues Musiktheater entwickelt.
Wie kann man sich von Amateur*innen inspirieren lassen? Eine Idee, die ganz dem Spirit des Labors verpflichtet ist.
Wie
wäre es, wenn man jeden Tag eine Stunde lang als Regisseur*in auftritt?
Als Regisseur*in auf dem Balkon sitzen, im Supermarkt einkaufen oder
mit den Eltern telefonieren …
Wie
wäre es, wenn man ein Lückenfüller wäre? Hier wird es wunderbar absurd:
Will man ein aktiver oder ein passiver Lückenfüller sein? Jemand äußert
die Idee, Lücken als Fundament zu verstehen, das Aktivitäten erst
ermöglicht. Jemand anders imaginiert einen Stachelanzug, um die eigenen
Lücken vor angreifenden Projektanfragen zu schützen. Wenn man selbst
kreativ sein will, muss man den Anfragen der anderen entkommen.
Was hätten sich eigentlich Künstler*innen und Leistungssportler*innen in einem Workshop zu sagen? Beide widmen sich obsessiv einer Sache, arbeiten selbstverantwortlich und stehen unter viel Druck. Beide bilden ein ganz bestimmtes Set an Fähigkeiten aus, während andere dabei vielleicht verkümmern. Künstler*innen und Sportler*innen müssen oft mit der Sorge umgehen, dass ihre Karrieren zeitlich begrenzt sind und der Höhepunkt früh eintreten kann. Dann müssen sie sich um eine Karriere nach der Karriere kümmern – im Sport als Expert*in, Trainer*in oder Werbefigur („bin ich schon drin oder was?“); in der Kunst als VHS-Lehrer*in, Prozessbegleiter*in oder auch mit dem eigenen Etsy-Shop.
Ich spreche lange mit der Regisseurin Evelyn Hriberšek über das Für und Wider eines solchen Workshops. Dann stelle ich ihr die Frage, die ich schon an viele Labore herangetragen habe: Was wünschst Du Dir für die Zukunft der Freien Szene? Evelyn, die aufwendig produzierte, immersive Mixed Reality-Installationen realisiert, hat eine interessante Idee: Sie schlägt vor, dass es analog zu Recherchestipendien auch Dokumentations- und Archivierungsstipendien geben könnte. Künstler*innen hätten damit die Gelegenheit, sich mit ihren bisherigen Arbeiten auseinanderzusetzen, ihre Archivierung zu organisieren und sie der Öffentlichkeit anders zugänglich zu machen. Das könnte die erhitzten Produktionszyklen abkühlen, Gelegenheit zur Selbstbefragung schaffen und einen Schritt zu mehr Nachhaltigkeit im Theater bedeuten.
Das Vorhaben des Labors bleibt bis zum Schluss in Spannung. Einerseits geht es um die Gründung von Arbeitsgruppen und Projekten, um Vereinsarbeit und Interessensvertretungen. Andererseits geht es um die Kreativität des Moments, ums Loslegen, Machen, die Erkundung des eigenen Ausdrucks. Die letzte Notiz in meinem eigenen Logbuch kann ich nicht mehr ganz zuordnen – stammt sie von den Wibke oder Moritz, Lena oder Volker, hat Evelyn das gesagt oder war es mein Gedanke? Irgendwo in dem Laborstrudel hat sich dieser Gedanke artikuliert, der jetzt allen und niemandem gehört: „Nicht auf den Segen einer Institution warten.“
Im Sommer haben freie Künstler*innen-Gruppen in 30 bundesweiten Artist Labs die krisenhafte Gegenwart untersucht. Sebastian Köthe, Elisabeth Wellershaus und ein Team an Gastautor*innen haben ihnen dabei über die Schulter geschaut.