Pina Bausch? Kann ich auch!

Von Christine Wahl

Christine Wahl sprach im Interview mit der Choreografin, Regisseurin und diesjährigen Tabori-Preisträgerin Joana Tischkau über das Vertrauen in die eigene künstlerische Praxis, Tischkaus Werdegang und die literarische Technik der „Autoethnografie”, über Grenzgänge, die Genres clashen und über das „deutsche Erbe” Pina Bauschs.

Die Tabori-Preis-Trägerin Joana Tischkau im Gespräch mit Christine Wahl

Joana Tischkau, herzlichen Glückwunsch zum Tabori Preis, der bundesweit höchsten Auszeichnung für die Freien Darstellenden Künste! George Tabori, sein Namengeber, wird vom preisstiftenden Fonds Darstellende Künste als „Grenzgänger“ gewürdigt – speziell zwischen der Freien Szene und dem Stadttheater. Können Sie an das Motiv des Grenzgangs ästhetisch andocken?

Joana Tischkau: Vielleicht insofern, als dass meine Herangehensweise generell ein Versuch ist, außerhalb von Grenzen zu denken. Grenzen werden ja meist nicht von einem selbst definiert, sondern von außen vorgegeben. Bei mir war schon das Studium, das einen Tanz-Fokus hatte, grundlegend mit der Öffnungsidee zu anderen Disziplinen verbunden, zu Performancekunst, Schauspiel und so weiter.

Sie brechen in Ihren Arbeiten auch insofern Grenzen auf, als Sie gewitzt Stereotype auseinandernehmen und kulturelle, ethnische und geschlechtliche Zuschreibungen als Konstruktionen vorführen. Ihre aktuelle Arbeit „Ich nehm dir alles weg“, die kürzlich am HAU Berlin Premiere hatte, trägt den Untertitel „Ein Schlagerballett“ und rekurriert auf eine frühe Arbeit von Pina Bausch. Was interessiert Sie speziell an der Tanz-Ikone?

Tischkau: An Pina Bausch interessiert mich vor allem, dass sie einen Kanon begründet hat, der stark im Kontext einer „deutschen“ Kultur wahrgenommen wird. Da werde ich ja immer hellhörig und frage: „Ah, interessant, was ist das denn eigentlich?“ – und stoße schnell auf Widersprüche: Welche Projektionen und Konstruktionen stecken dahinter, wenn gerade das Ensemble von Pina Bausch, das immer dafür gepriesen wurde, unglaublich „international“ und vermeintlich „divers“ zu sein, für ein künstlerisches Produkt steht, von dem sich ein „deutsches“ Publikum derart angesprochen fühlt? Besonders großen Spaß hat es meinem Team und mir gemacht, diese Fragen zusätzlich mit dem Genre des Schlagers zu clashen, den man ja auch als „deutsche Kultur“ bezeichnen könnte, den aber im Gegensatz zu Pina Bausch niemand toll findet, sondern von dem sich alle pikiert distanzieren, zumindest in der Hochkultur.

Performer ist wie Rapper gekleidet, jedoch in den Farben weiß und pink mit pinker Pelzjacke und pinker Hose. Er trägt ein weißes Kopftuch und große silberne Ringe. © Meklit Fekadu

Performance „Being Pink Aint Easy"

Worauf genau bezieht sich der Titel „Ich nehm dir alles weg“?

Tischkau: Dahinter steckt die Geste einer strategisch naiven und ungenierten Aneignung, nach dem Motto: Pina Bausch? Das kann ich auch – obwohl ich es natürlich nicht kann. Oder: Tanztheater? Kein Problem, let`s do it; auch, wenn es Schauspieler*innen ohne spezielle Tanzausbildung im Ensemble gibt. Und dann zu schauen, was passiert und wo uns das hinführt.

Rassismus, kulturelle Aneignung, Diskriminierungspraktiken: Die Themen, mit denen Sie sich beschäftigen, werden – auch im Theater – häufig eher theoretisch verhandelt, zum Beispiel in Form von Diskurs-Einschüben oder Lecture Performances. Sie hingegen konfrontieren die Diskurse mit etwas sehr Elementarem und ein Stückweit auch Unhintergehbarem, nämlich mit dem Körper, und schaffen dadurch andere Wahrnehmungszugänge.

Tischkau: Ich glaube, etwas theoretisch zu durchschauen, es sich rational erklärbar zu machen und gedanklich auseinanderzunehmen, ist das eine, aber um im Alltag damit umgehen zu können, braucht man tatsächlich noch etwas anderes – was oftmals auch ein bisschen fehlt in der Welt: Man muss sich eine Strategie erarbeiten, die aus der Praxis kommt. Deshalb bin ich der Überzeugung, dass man der Praxis – eben auch der künstlerischen – entsprechend vertrauen muss, weil im Vollzug, im Machen, Wissen generiert und Verstehensprozesse in Gang gesetzt werden. Und dass man zulassen muss, dass die Bilder, die man im Theater kreiert, unterschiedlich gelesen werden und auf verschiedenen Ebenen wirken können. Natürlich kann es passieren, dass man dabei merkt: Oh, das hat jetzt nicht funktioniert, hier sind wir gescheitert! Aber den Versuch ist es immer wert, finde ich.

Die Tanz- und Theaterkritik hebt immer wieder hervor, dass Ihre Arbeiten bei aller Erkenntnisvermittlung nicht pädagogisch daherkämen. Wie wichtig ist Ihnen selbst der Verzicht auf Didaktik?

Tischkau: Ich habe überhaupt nichts gegen Pädagogik und Didaktik, aber dieses Vertrauen in die künstlerische Praxis steht für mich, wie gesagt, tatsächlich an erster Stelle. Manchmal fragen mich Performende, wenn wir etwas proben: Aber versteht man das überhaupt? Oder: Wie wird denn das Publikum auf diese Aktion oder auf jenen Witz reagieren – gerade, weil es in meinen Arbeiten ja häufig um race und um Diskriminierungspraktiken geht. Das sind aber Fragen, die ich mir im Vorfeld eigentlich gar nicht stellen möchte, weil ich sie nicht beantworten kann. Das erweist sich ja tatsächlich erst in der Konfrontation der Arbeit mit den Zuschauenden.

Ich will das keinesfalls als Freifahrschein für das Argument benutzen, dass man auf der Bühne alles machen kann, darum geht mir ganz und gar nicht. Mein Punkt besteht vielmehr darin, dass wir mit unserer künstlerischen Arbeit beim Publikum unter Umständen ja auch etwas provozieren können, womit wir selbst gar nicht gerechnet haben.

Zum Beispiel – im Idealfall – eine erhellende Erkenntnis.

Tischkau: Genau. Und deswegen bin ich dagegen zu sagen: Okay, wir erklären erst einmal, was wir da machen, denn diese Möglichkeit vergibt man sich dann. Allerdings ist das natürlich auch eine sehr persönliche Sache. Ich mag es auch als Zuschauerin nicht, wenn ich in einer Performance sitze und denke: Hey, warum vertraust du denn deinem Körper, der Praxis und dem, was du dir ausgedacht hast, nicht und infantilisierst die Zuschauenden? Das Publikum ist doch nicht dumm; dass man etwas nicht weiß, heißt nicht, dass man es nicht lernen kann – vieles hat ja auch einfach mit unterschiedlichen Referenzsystemen zu tun. Wenn ich als Schülerin mit der Klasse erstmals „Macbeth“ schaue, checke ich auch erst einmal nichts.

Trotz der Ernsthaftigkeit der Sujets, die in Ihren Arbeiten verhandelt werden, muss – und darf man auch – in ihnen des Öfteren herzhaft lachen. Welche Rolle spielt für Sie Humor als Erkenntnisinstrument?

Tischkau: Humor ist für mich essenziell! Ich suche immer nach Dingen, die mir Spaß machen und über die ich selbst lachen kann; nach Absurditäten, Widersprüchen und Phänomenen in der Welt, die irgendwie nicht so richtig zusammenpassen und an denen sich Konstrukte deshalb oft besonders gut entlarven lassen. Letztens hat der Regisseur Kieran Joel Humor als eine Erkenntnisstrategie bezeichnet, da kann ich gut mitgehen.

Zwei Frauen auf der Bühne. Eine hat eine Footballausrüstung an. Die andere hält ihr ein Mikrofon hin. © MARINA HOPPMANN

Performance „Yo Bro"

Ihre künstlerische Praxis umfasst auch Abende, in denen weniger das Dekonstruieren im Vordergrund steht als vielmehr das Sichtbarmachen spezifischer Biografien. Die Zürcher Arbeit „Last Night a DJ Took My Life“ beschäftigt sich beispielsweise mit der Schwarzen Sängerin Lori Glori, mit deren Stimme Produzenten und DJs Millionenerfolge erzielten –nicht nur ohne sie fair zu entlohnen, sondern ohne sie überhaupt nur angemessen sichtbar zu machen.

Tischkau: Interessanterweise hat jemand diesen Abend in den Kontext von Milo Raus theatralen Tribunal- und Prozessformaten gerückt – woran ich selbst noch gar nicht gedacht hatte, was ich aber sehr inspirierend finde. Nicht nur, weil am Ende des Abends tatsächlich eine Gerichtsverhandlung stattfindet – die aber ganz abstrakt bleibt –, sondern vor allem, weil Lori und ihre Geschichte durch diesen „Prozess“ und diese 15 Aufführungen am Schauspielhaus jetzt, viele Jahrzehnte später, tatsächlich sichtbar wurden. In den Medien hat der Abend jedenfalls einiges losgetreten, es wurde viel berichtet über Lori Glori. Das wiegt natürlich nicht im Mindesten die Karriere auf, die ihr vorenthalten wurde, aber dass dem Theater prinzipiell die Macht innewohnt, auf die Realität überzuschwappen und dort Veränderungen herbeizuführen, macht zumindest Hoffnung.

Welche Rolle spielt das Biografische für Sie selbst in Ihrer Arbeit?

Tischkau: Ich habe mich während meines Studiums intensiv mit der literarischen Technik der „Autoethnografie“ auseinandergesetzt, also einem autofiktionalen Schreiben, in dem es weniger um das individuelle Moment in Biografien geht als vielmehr darum, das Feld für strukturell anschlussfähige Lebensgeschichten zu öffnen und damit bestimmte Strukturen aufzuzeigen.

So, wie Didier Eribon in „Rückkehr nach Reims“ anhand seiner Biografie überindividuelle Klassismuserfahrungen beleuchtet oder Annie Ernaux in ihren autofiktionalen Texten die Benachteiligung von Frauen thematisiert.

Tischkau: Genau – und das ist der Aspekt, unter dem auch mich das Biografische und Autobiografische interessieren: In welcher Beziehung steht die eigene Lebensgeschichte zu derjenigen von Menschen, die unter ähnlichen Umständen aufgewachsen sind? Und wie verhält sie sich zu denen, mit denen es diesbezüglich überhaupt keine Berührungspunkte gibt? Woran ich dagegen überhaupt nicht glaube, ist Tanz oder Theater als therapeutische Maßnahme. Die Bühne ist ein extrem künstlicher, konstruierter Raum, der das aus meiner Sicht gar nicht zulässt. Ich bin zum Beispiel überhaupt nicht daran interessiert, den eigenen Schmerz zu bearbeiten. Ich finde das sogar gefährlich, weil es dafür andere Räume braucht.

Wie sind Sie zum Tanz, zum Theater, zur Performance gekommen?

Tischkau: Ich habe schon sehr früh angefangen, in allen möglichen Kontexten zu tanzen und zu spielen. Einerseits hat meine Mutter, die selbst Theater gemacht hat, meinen Zwillingsbruder und mich von klein auf in alle erdenklichen Theaterklubs gesteckt, und wir haben schon als Kinder im Wohnzimmer für sie kleine Aufführungen entwickelt. Andererseits habe ich aber auch von selbst sofort angefangen zu tanzen, sobald ich irgendwo Musik hörte – aber dann zum Beispiel auch schnell gemerkt, dass Ballett nichts für mich ist, weil ich mich dort nicht wohl fühlte unter den anderen Kindern. Also ging ich eher zu Jazz und HipHop – was natürlich genau eines dieser hinterfragungswürdigen Missverständnisse berührt, um die es in meinen Arbeiten geht: dass ich da vermeintlich besser hineingepasst habe.

Ausschlaggebend für die Entscheidung, die Kunst zum Beruf zu machen, war dann Ihr Studium in Großbritannien, richtig?

Tischkau: Das stimmt. Ich war zwar schon Cheerleader in der NFL Europe, die ja durchaus nicht klein ist, habe aber hauptberuflich dennoch weiter im Einzelhandel gearbeitet und den Tanz gewissermaßen semiprofessionell betrieben. Hinzu kam, dass ich an verschiedenen Schauspielschulen, an denen ich mich beworben hatte, nicht angenommen wurde. Das Studium in Großbritannien war dann genau das Richtige für mich, weil es – auch, wenn der Fokus auf dem Tanz lag – interdisziplinäre Performancepraxis vermittelte. Ich konnte also selbst darüber entscheiden, wie ich mit dem Tanz arbeiten möchte und wie ich in ihm vorkommen will; ich fühlte mich nicht als ausführendes Werkzeug einer Choreografie. Das war der Schlüssel.