Politiken der Freien Darstellenden Künste. Fünf Kurzportraits künstlerischer Verfahren

Von Sebastian Köthe

Am 25. Mai 2024 feierte der Dokumentarfilm „BLICKWECHSEL – Publika und Politiken der Darstellenden Künste“ von Janina Möbius im Rahmen der Veranstaltungsreihe „DIE KUNST, VIELE ZU BLEIBEN. Bundesweite Foren für Kunst, Freiheit und Demokratie“ Premiere. Er nimmt die Beziehung zwischen Publika und Künstler*innen in den Blick mit einem besonderen Fokus auf die zunehmende gesellschaftliche Polarisierung. Kulturwissenschaftler Sebastian Köthe hat in seinem einführenden Vortrag fünf ästhetische Verfahren der Politisierung in den darstellenden Künsten der Gegenwart portraitiert.

„Die Kunst, viele zu bleiben“ – In dieser einladenden Formulierung darf auch die Kunst viele bleiben: Sie darf eine alltägliche Lebenskunst sein, eine undisziplinierte ästhetische Praxis oder die Kunstkunst auf großen und kleinen Bühnen. Zwischen den Sinnesformen des Alltags und den institutionalisierten Künsten findet ein intimer, wechselseitiger Austausch statt – das möchte ich hier als ein politisches Potenzial der Künste entfalten. „Viele zu bleiben“ deutet an, dass wir immer schon viele gewesen sind – als Teil von Familien, Gruppen und Bündnissen, aber auch als Einzelperson viele – Charakterzüge, Rollen, Wünsche. Obwohl wir als viele beginnen, müssen wir dafür Sorge tragen, viele zu bleiben und vielleicht sogar noch mehr zu werden, denn in Alltag, Abschottung und Abkämpfung drohen wir, weniger zu werden, gleichförmige Gemeinschaften und festgefahrene Selbste. Nach einem kurzen Blick auf das Verhältnis von Vielfalt, Sinnlichkeit und Demokratie mit den Philosophen John Dewey und Jacques Rancière diskutiere ich fünf künstlerische Verfahren, die für eine solche Kunst, viele zu bleiben, einstehen und die im Film „Blickwechsel“ von Janina Möbius und ihrem Team in der Konstellierung künstlerischer Einzelarbeiten implizit portraitiert werden.

Serbastian Köthe hält an einem Redner*innenpult seinen Vortrag. Im Hintergrund ist auf einer Leinwand der Titel "Politik der Freien Darstellenden Künste. Fünf Kurzportraits gegenwärtiger künstlerischer Verfahren" zu lesen. © Dorothea Tuch

Bei der Filmpremiere von "Blickwechsel" von Janina Möbius gibt Sebastain Köthe eine Einführung auf der Bühne des HAU 3.

Ästhetik und Demokratie

Der Philosoph und Reformpädagoge John Dewey hat 1916 in „Democracy and Education“ Vielheit als genuin demokratische Kraft hervorgehoben. Ein Kriterium für Demokratie sei die Anerkennung von möglichst vielen und möglichst verschiedenartigen geteilten Interessen. Je mehr und je unterschiedlichere Interessen eine Gesellschaft miteinander teilt, desto gestärkter ist sie als Demokratie. Ein zweites Kriterium für Demokratie sei die kontinuierliche Weiterentwicklung der Gesellschaft durch den Verkehr mit Fremden. Eine Gesellschaft bedarf der Begegnung mit Fremdheit und des Willens, sich von ihr verändern zu lassen, um noch ungeahnte Gemeinsamkeiten ausbilden zu können. Das Gemeinsame ist vom Fremden und Neuen und der eigenen Veränderung nicht zu trennen; Identität und Differenz gehen Hand in Hand. Deswegen beginnt Demokratie bereits in der sinnlichen Zusammensetzung unseres Lebens, in der Fähigkeit, anderen und anderem zu begegnen. So heißt es bei Dewey: „Demokratie ist mehr als eine Regierungsform; sie ist in erster Linie eine Form des Zusammenlebens, der gemeinsamen und miteinander geteilten Erfahrungen.“1 Demokratie setzt lange vor der Berufspolitik an, vor Regierungen, Ämtern und Wahlen – sie liegt weniger in der Politik von Institutionen als im Politischen von Praktiken, die neue Erfahrungen ermöglichen, die Erfahrungen kommunizierbar machen, die uns darin bestärken, unsere eigene Fremdwerdung auszuhalten und zu wünschen.

Mit dem Philosophen Jacques Rancière lässt sich das Demokratisch-Politische als Lebensform noch grundlegender denken. Rancière spricht von einer „primären Ästhetik“. Diese primäre Ästhetik liegt noch vor den Gattungen der Künste – Tanz, Film, Theater –, vor artikulierten Meinungen und institutionalisierter Politik. Sie ist die Organisation der sinnlichen Formen, in denen überhaupt etwas wahrnehmbar wird, Aufmerksamkeit erregt, einen Unterschied macht. Die primäre Ästhetik ist die sinnliche Textur unseres Lebens: „Die Unterteilung der Zeiten und Räume, des Sichtbaren und Unsichtbaren, der Rede und des Lärms[.]“ Das Politische der primären Ästhetik „bestimmt, was man sieht und was man darüber sagen kann, sie legt fest, wer fähig ist, etwas zu sehen und wer qualifiziert ist, etwas zu sagen, sie wirkt sich auf die Eigenschaften der Räume und die der Zeit innewohnenden Möglichkeiten aus.“² Dieses Politische liegt also in der Anordnung unserer sinnlichen Welt und unserer Wahrnehmungsweisen. Es ist Überzeugungen vorgängig. Deswegen ist es auch so schwer, Ideologien durch das bessere Argument zu verändern, weil sie mit Lebensformen, Gefühlshaushalten und Körperbildern verflochten sind. Weil Künste nicht argumentieren, sondern das Sinnliche durchkreuzen, wohnt ihnen eine Schwäche inne, die es ihnen gerade erlaubt, Menschen unterhalb ihrer artikulierten Weltanschauungen zu berühren.

Die Beteiligten des Films "BLICKWECHSEL" auf der Bühne des HAU3. © Dorothea Tuch

Blickwechsel

Der Film „Blickwechsel“ wurde in den letzten 12 Monaten konzipiert, gedreht, montiert, finalisiert. Dieses hohe Tempo ist der Versuch, die Gegenwart sozusagen auf sich selbst zurückzubiegen und für sich selbst sichtbar zu machen. Ein Spiegel, mit dem man sich selbst ins Gesicht oder auf den Rücken schauen kann. Wie ein Festival versammelt „Blickwechsel“ Künstler*innen, Institutionen, Publika und Expert*innen, um so in der Verdichtung die Gegenwart der Darstellenden Künste zu konturieren und Sichtachsen auf ihre Zukunft freizulegen. Damit geht der Appell einher, das jetzt eine Zeit ist, hinzuschauen. Die Kunst dieses Hinschauens liegt darin, sowohl die mit Selbstreflexion einhergehende Verlangsamung, Selbstbefragung und Selbstkritik zuzulassen, als auch durch eine solche Blickschärfung an Handlungsfähigkeit, Orientierung und Solidarität zu gewinnen.

„Blickwechsel“ ist eine Bestandsaufnahme der politischen Eingriffe des Theaters in unsere Gegenwart – auf dem Land und in der Stadt; von Unbekannten und Bekannten, Freien und Festen, Nachwuchs und Senior*innen; von Betroffenen, Alliierten und Beobachter*innen; dokumentarisch, performativ, fiktional; dramatisch, episch, postdramatisch; euphorisch und wütend. Was diese wilde Mannigfaltigkeit an Positionen vereint, ist ihr Wunsch nach der freien Wucherung von Differenzen und Eigenheiten in alle Richtungen und ihre scharfe Kante gegen alles und alle, die dieser Freiheit zur Vielfalt entgegenstehen: sei es neoliberale Prekarisierung oder die Gewalt von rechts. Auch wenn Adorno sagt, dass ein „[Kunst]Werk der Todfeind des anderen“³ sei, sind die portraitierten Arbeiten über Differenzen hinweg verbunden – nicht durch die Identität ihrer künstlerischen Antworten, sondern durch ihre Insistenz auf das Recht zu fragen und zu forschen, durch ihre ästhetische Arbeit am Sinnlichen. – Doch wie arbeitet man eigentlich am Sinnlichen? Wie lässt man Vielfalt und Eigensinn und Unzeitgemäßes wuchern? Wie macht man eine gemeinsame Erfahrung – und wie teilt man Erfahrungen mit Personen, die diese nicht gemacht haben? Was sind gegenwärtige paradigmatische Verfahren der Freien Darstellenden Künste?

Zeugenschaft

Ein erstes Verfahren ist das der künstlerischen Zeugenschaft. Eine Person wird im emphatischen Sinne zur Zeugin, wenn das, was sie sagt, allein durch ihr Wort belegt ist. Wenn niemand für sie, an ihrer Stelle sprechen kann – zum Beispiel, weil nur sie eine bestimmte Erfahrung von Diskriminierung oder Gewalt überlebt hat. Im Gegensatz zur suspension of diesblief, dem mutwilligen Verzicht auf Realitätsprüfung im Angesicht von Fiktionen, geht es in Ästhetiken der Zeugenschaft darum, dass das Publikum aktiv Glauben schenken kann. Dabei steht mehr auf dem Spiel als die investigative und forensische Frage, was wirklich geschehen ist. Es geht darum mithilfe von Erfindungs- und Vorstellungskraft, von Übersetzungen und Vermittlungen sich treffend vorzustellen, was eine andere Person erfahren hat und was diese Erfahrung für ihr Leben bedeutet. In diesem Sinne sagt Carolin Emcke, dass der „größte Gegner von Emanzipation und Anerkennung nicht repressive Gesetze allein [sind], sondern mangelnde Vorstellungskraft.“4 Was heißt es überhaupt, sich das, was jemandem widerfahren ist, vorzustellen? – Künstlerische Zeugenschaft kann unterschiedliche Vermittlungsgrade annehmen. Künstler*innen können selbst Betroffene sein und ihre Erfahrungen zum Ausgangspunkt nehmen. Sie können die Bühne mit Betroffenen teilen und gemeinsam mit ihnen Texte, Scores und Choreografien kreieren. Etwa wenn inChinchilla Arschloch, waswas“ von Rimini Protokoll Musiker, Altenpfleger und Politiker mit Tourette-Syndrom nicht nur von ihrer Lebensrealität berichten, sondern das auf Kontrolle und Wiederholbarkeit ausgelegte Theater mit Absichtslosigkeit und Kontrollverlust konfrontieren. Stücke können Aussagen und Protokolle reenacten, bearbeiten oder fiktionalisieren, wie zum Beispiel Tuğsal Moğuls „And Now Hanau“ über die rassistischen Anschläge vom 19. Februar. Das Stück rekonstruiert den Tathergang und reinszeniert die Aussagen von Angehörigen – so schafft es einen eigenen, von den Massenmedien abweichenden Rahmen, in dem die Taten von den Betroffenen ausgehend reperspektiviert werden.

Öffentlichkeit

Die Bewegung des Theaters von der Bühne weg hin an öffentliche Orte ist ein zweites Verfahren. Während freie Produktionen schon immer durch die Republik reisen durften und mussten, wird die Aufführung an anderen Spielorten wie im Fall von „And Now Hanau“, das in Rathäusern und Museen gezeigt wurde, zu einer politischen und erkenntnisstiftenden Geste. Statt der Entrückung in eine autonome Sphäre suchen solche Stücke die Intervention in Räume des Alltags, der Repräsentation und der Macht. – ‚Site Specificity‘ bedeutet umgekehrt, dass diese Räume wiederum einen Anspruch an das Theater stellen. Performer*innen können nicht einfach vermeintlich leere Räume mit ihrer Großkunst kolonisieren. Stattdessen sind sie aufgerufen, sich mit Problemfeldern, Landschaftsphysignomien und Menschen vor Ort auseinanderzusetzen und vorgefasste Ideen und ästhetische Mikrokonventionen von ihnen herausfordern zu lassen. Es ist ein Theater, das mit seiner Autonomie Bühne, Vorhang und vierte Wand verschenkt hat, und stattdessen in situ beim Bestehenden ansetzt, im Vertrauen darauf, gerade in der Heteronomie bestehender Verhältnisse, in der Fremdbestimmung durch Konflikte, Infrastrukturen und Publikumsgewohnheiten an der Welt teilhaben zu können. Kompromisse, Verunreinigungen und Fremdeinflüsse sind ihm Gelegenheit, die Schalheit der Autonomie abzustreifen und in Kontakt zu treten. Oft sind es Festivals, wie das Phoenix-Festival in Erfurt oder das Osten-Festival in Bitterfeld-Wolfen, die von lokalen Fragestellungen aus ästhetische Formen entwickeln. Oder es ist eine Performance wie „Angst Verdirbt den Charakter“ von Omnivolant, in der ein wütender Monolog während eines luftartistischen Solos auf einem Marktplatz zur Chiffre wird, für die Kraft, die sich aus der eigenen Verletzbarkeit im öffentlichen Raum ziehen lässt.

Gegenarchiv

So wie sich das Theater an Landschaften, Plätze und Ortschaften bindet, so lässt es sich auch vom Gravitationsfeld Vergangenheit anziehen. Die darstellenden Künste als lebendiges Archiv zu verstehen, ist eine dritte ihrer gegenwärtigen Strategie. Sie werden sowohl zum Resonanzfeld der realhistorischen Unrechtsgeschichte, an deren jeweils letztem Kapitel wir mitschreiben, als auch seines eigenen ausschlussaffinen Kanons. Die Bearbeitung der Real- wie auch der Theatergeschichte aus der Perspektive und mit der Sensibilität der Geschlagenen, Unterdrückten und Ausgebeuteten, kurz: im Sinne einer minoritären Ästhetik, akzeptiert einerseits die Wirkmacht der Geschichte auf die Gegenwart und bestreitet andererseits ihren Anspruch auf schicksalhafte Alternativlosigkeit. Die Neujustierung von Geschichte und Kanon aus minoritärer Perspektive besteht darauf, dass beides immer schon vielfältiger, komplexer und auch schillernder war als es die Vereinfachungen der Dominanzgesellschaft glauben machen wollen. Wie die Historikerin und Literaturwissenschaftlerin Saidiya Hartman sagt: „Verlust ruft Verlangen hervor, und unter diesen Umständen wäre es nicht abwegig, Geschichten als eine Form der Kompensation oder gar als Wiedergutmachung anzusehen, vielleicht die einzige, die wir jemals bekommen werden.“5 Dabei kann es sich zum Beispiel um eine Bearbeitung des Nibelungenrings am Theater Dortmund handeln, bei der die Randfiguren in den Vordergrund treten und nach einem Ring ohne Ausschluss suchen. Oder um eine Neuuntersuchung der sogenannten Baseballschlägerjahre, der rechten Gewalt der Nachwendezeit, aus der Perspektive ehemaliger Aktivisten. Weil Gewalt und Gegengewalt nicht ästhetisch abstinent sind, weil sie auf der Herstellung eines Körpergefühls, eines Selbstbildes, einer Heldenerzählung beruhen, ist Theater mehr als ein Medium der Erinnerung und als ästhetisches besonders dazu geeignet, die Inszenierungs-, Wiederholungs- und Performanz-Aspekte des Gewalthandelns selbst kritisch in den Blick zu nehmen.

Subjektivierung

Wenn Figuren vom Rand in die Mitte der Bühne treten, dann ist das nicht nur eine räumliche Veränderung. Es ist die Aneignung einer Position, einer Rolle, eines Status – und das vierte Verfahren, das ich hier skizziere. Das theatrale Spiel mit Rollen, ob es nun das Mimen einer fiktionalen Figur ist oder das Vexierspiel zwischen Performer*in und Privatperson, ist ein Double unseres alltäglichen Rollenverhaltens, insbesondere unter den neoliberalen Vorzeichen affektiver Arbeit und unternehmerischen Selbste. Nicht umsonst heißt die deutsche Fassung von Erving Goffmans Soziologieklassiker „The Presentation of Self in Everyday Life“: „Wir alle spielen Theater“. Auf der Bühne oder auf der Straße, wenn wir irgendwo auftreten, treten wir als jemand auf, verhalten uns entsprechend und werden entsprechend gelesen, selbstverständlich immer mit Abweichungen und Missverständnissen: als weißer Mann, als Arbeiterkind, als Akademiker … Wenn wir als jemand sprechen, sind wir sowohl befähigt und ermächtigt als auch Erwartungen und Regeln unterworfen: die Kulturwissenschaften nennen das im Aktiven Subjektivierung und im Passiven Subjektivation. Mit diesen Begriffen steht nicht die Polarität zwischen Individuum und Gesellschaft auf dem Spiel, sondern die Frage, wie Einzelne unentwirrbar gesellschaftlich verfasst sind. In den Worten des Soziologen Andreas Reckwitz: „Es ist die kulturelle Form, die das ‚Individuum‘ (…) selber in einem bestimmten historischen Kontext wie selbstverständlich erhält (…) Es geht nicht um die Konfrontation des Individuums mit sozialen Erwartungen, sondern darum, wie sich dieses ‚Individuum‘ in seinen scheinbar gegebenen, gewissermaßen vorkulturellen körperlichen und psychischen Eigenschaften, die ihm vermeintlich Autonomie sichern, aus hochspezifischen kulturellen Schemata zusammensetzt.“6 Das Theater ist eine Subjektivierungsmaschine; das wird besonders deutlich in der Arbeit für und mit Kindern und Jugendlichen. In „Unterscheidet Euch!“ von Turbo Pascal treffen Schulkinder aus unterschiedlichen Stadtteilen aufeinander und spielen ihre sozialen Identitäten vergleichend durch: etwa zwischen der Sozialisierung als Junge oder Mädchen oder als arm oder reich. In durchchoreographierten Begegnungen lernen die Kinder sowohl zu bemerken, dass ihnen von Geburt an Rollen in die Körper geschrieben werden, als auch, dass sie diese Rollen durch Übung, Kreativität und Kommunikation überschreiten können. Die in „Blickwechsel“ portraitierten interaktiven und integrativen Formate mit Jugendlichen, Senior*innen und Amateur*innen zeigen, dass spielen, mitspielen und gerade auch zuschauen, gesellschaftliche Handlungsformen sind, die geübt werden müssen, und die prägen, wie wir an einer demokratischen Öffentlichkeit mitgestaltend teilhaben. Greifbar wird das in der Gastspieljury des Theater-Natur-Festivals im Harz, bei dem Lai*innen Gastspiele kuratieren und herausgefordert werden, sich zu Themen wie Repräsentation, Queerness und Sexualität zu positionieren.

Lust

Das Experimentieren mit dem Körper, insbesondere dem lustvollen, ist die letzte Strategie, die ich benennen möchte. Während Formen der künstlerischen Zeugenschaft und der Gegenerinnerung notgedrungen oft um Gewalterfahrungen kreisen, arbeiten insbesondere queere und BIPOC-Künstler*innen an einer Politik der Lust. Schon 1978 bezeichnete die Dichterin Audre Lorde im Vortrag „The Uses of the Erotic“ diese als Quelle von Handlungsmacht und Wissen. Lustgefühle sind Archive unserer Wünsche, Visionen eines besseren Zusammenlebens, Schnittstellen von Sinnlichkeit und Bedeutung. Lorde beschreibt die Erfahrung des Erotischen als Goldstandard von Intensität und Erfüllung, der dazu dienen kann, andere Tätigkeiten kritisch damit abzugleichen: Dadurch können wir „uns und unser Handeln mit der Freude in Einklang bringen, die wir empfinden können. Unser erotisches Wissen ermächtigt uns und wird zu einem Brennglas, durch das wir alle Aspekte unseres Lebens überprüfen […]. Es ist eine große, aus uns selbst abgeleitete Verantwortung, sich nicht mit dem Bequemen, der Pfuscherei, dem gewöhnlich Erwartbaren oder dem bloß Sicheren abzufinden.“7 Das Erotische orientiert uns darauf, wie viel wir vom Leben verlangen dürfen. Ähnliches leisten die Künste als Maß unser Glücksfähigkeit, wenn sie vorführen, zu welcher Gefühlsintensität, welchen Mikrowahrnehmungen und Gedankensprüngen wir fähig sind. So bezeichnet das Performance-Kollektiv Chicks* ihre Arbeit „Lecken“ als „Aufklärungsunterricht unserer Träume“ – das lässt sich gleichzeitig verstehen als utopischer Aufklärungsunterricht und als Aufklärung über unsere Träume und Fantasien. – Während eine Ästhetik der Lust die ermächtigende Bejahung der eigenen Identität und Wertmaßstäbe darstellen kann, hat die Kulturtheoretikerin Lauren Berlant darauf hingewiesen, dass uns Liebe und Begehren entpanzern und entsichern, geradezu entkernen können: In ihren Worten ist Begehren einerseits „ein zentrales Scharnier zur individuierten sozialen Identität, in Gestalt von Paaren, Familie, Reproduktion und anderen Schauplätzen der eigenen Geschichte“, aber andererseits „der Impuls, der Menschen am stärksten destabilisiert, der sie in Geschichten jenseits ihrer Kontrolle verwickelt, der sie mit diversen Leben verkoppelt und Situationen herbeiführt.“8

Sich finden und wieder verlieren dürfen

Das Theater der Gegenwart ist gleichzeitig fähig zur Selbstermächtigung und zum Selbstverlust. Es schafft Identitäten, befähigt zum Spiel mit Rollen, kreiert Öffentlichkeiten, bezeugt und bewahrt Erinnerungen und Erfahrungen. Gleichzeitig ist es bereit, all das immer wieder herzuschenken: für eine entindividuierende Erfahrung der Lust und des Begehrens, für eine kritische Selbstbefragung, die Wissen, Selbst und Gemeinschaften auf den Prüfstand stellt, für ein sinnliches Gewebe, das zum prozessoffenen Wahrnehmen, Fühlen und Nachdenken zwingt. Im Sinne Deweys ist es eine Kunst der Begegnung mit dem Anderen und gesellschaftlicher Selbstvervielfältigung. Weil das Theater in seiner Erkundungs- und Forschungslust per se ein besonderes Interesse an ungehörten und verschütteten Stimmen hat, und weil es gleichzeitig eine kategorische Offenheit für die sinnliche Dichte unterhalb unseren Identitätslinien besitzt, ist es all jenen ein Dorn im Auge, die im Vorhinein zu wissen meinen, wessen Identität zählt und wessen nicht, und dass es außerhalb von Identität nur Chaos gäbe.


Quellen

(1) John Dewey: Demokratie und Erziehung. Eine Einleitung in die philosophische Pädagogik, Weinheim 1993 [1916], S. 121.

(2) Jacques Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin 2006, S. 26 f.

(3) Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt/Main 1973 [1970], S. 59.

(4) Carolin Emcke: Weil es sagbar ist. Über Gerechtigkeit und Zeugenschaft, Frankfurt/Main 2015, S. 176.

(5) Saidiya Hartman: „Venus in zwei Akten“, in: dies.: Diese bittere Erde (ist womöglich nicht, was sie scheint). Deutsch von Yasemin Dinçer, Berlin 2022 [2008], S. 85–116, hier: S. 90–91.

(6) Andreas Reckwitz: Subjekt, Bielefeld 2012 [2008], S. 15.

(7) Audre Lorde: Sister Outsider, München 2023 [1984], S. 56. Die dt. Übersetzung wurde von mir angepasst.

(8) Lauren Berlant: Desire/Love, New York 2012, S. 13. Eigene Übersetzung.