Räume zum Ausprobieren
Von Christine Wahl
Der künstlerische Leiter Wagner Carvalho, der Dramaturg Fabian Larsson, die Bühnenbildnerin Leonie Brüggenwerth und der Kostümbildner Mathieu Amadou vom Ballhaus Naunynstraße im Gespräch mit Christine Wahl über ein neues Lern- und Austauschformat, das dank des Preisgeldes aus dem Theaterpreis des Bundes im Oktober am Haus starten soll.
Wagner Carvalho und Fabian Larsson, als das Ballhaus Naunynstraße letztes Jahr mit dem Theaterpreis des Bundes ausgezeichnet und damit auch um 200.000 € reicher wurde, hatten Sie sofort eine klare Investitionsidee. „Wir möchten unsere Schreibwerkstatt für neue postmigrantische Theatertexte fortsetzen“, sagten Sie. Sind Sie bei diesem Vorhaben geblieben?
Wagner Carvalho: Im Prinzip ja, wir haben die Idee allerdings noch ein wenig ausgedehnt. Die Werkstatt soll nicht auf Autor*innenförderung begrenzt bleiben, sondern auch Angebote für Licht, Dramaturgie, Sound, Regie, Bühnenbild und Kostüm umfassen. Bei uns arbeiten ja viele Quereinsteiger*innen, die, wenn sie hier anfangen, oft noch nicht so eng mit den verschiedenen Disziplinen und Gewerken am Theater vertraut sind. Jens Schneider, unser technischer Leiter, hat deswegen schon das eine oder andere graue Haar bekommen (lacht).
Fabian Larsson: Dass wir uns als Förderinstitution für den Nachwuchs und für Quereinsteiger*innen begreifen, gehört ja zum Selbstverständnis unseres Hauses – insbesondere, weil die Einstiegshürden an anderen Institutionen ziemlich hoch sind. Das beginnt schon damit, dass sich manche Menschen schlicht und einfach kein unbezahltes Praktikum leisten können. Oder – ein klassisches Beispiel – Schwarze Schauspieler*innen und Schauspieler*innen of Color, die im deutschen Fernsehen immer dieselben begrenzten Rollen spielen, haben irgendwann das Bedürfnis, etwas anderes zu machen und beginnen zu schreiben. Für diesen Quereinstieg gibt es in Deutschland allerdings nicht wirklich tolle Möglichkeiten.
Wie genau sollen die Werkstätten aussehen?
Larsson: Wir wollen diejenigen, die auf ihrem jeweiligen Gebiet gerade anfangen, mit Menschen zusammenbringen, die bereits über Erfahrung verfügen: ein Lern- und Austauschmodell, vergleichbar unserer Schreibwerkstatt „Unconventional Signs – neue postmigrantische Theaterliteratur“. Konkret besteht unsere Idee darin, relativ große Teams zu bilden mit jeweils zwei Leuten, die schreiben, zweien für Dramaturgie, Bühnen- und Kostümbild sowie mehreren Performer*innen, die alle zusammen an einem Projekt arbeiten. Ergänzt wird dies durch Workshops: Dann wird zum Beispiel drei Tage an der Lichtsetzung gearbeitet, und diese Tage sind eben nicht nur für Licht-Designer*innen offen, sondern für alle im Team. Wir haben ja relativ viele Schauspieler*innen am Haus, die vorher vor allem gedreht haben. Und am Theater ist die Lichtsetzung wirklich komplett anders als beim Film, damit muss man umgehen.
Die Werkstatt bietet also eine praxisorientierte Berufseinstiegsalternative zu klassischen Schauspiel- und Theaterausbildungen im Schnelldurchlauf?
Larsson: Tatsächlich ist die Theaterwelt weiterhin sehr exklusiv, denn um in ihr arbeiten zu können, muss ich in der Regel durch diese Ausbildungsinstitutionen, von denen Sie sprechen, durchgegangen sein und mich in ihnen professionalisiert haben. Viele Schulen, die wirklich gut auf den Arbeitsmarkt vorbereiten, sind aber selbst bereits exklusiv. Man muss über ein spezifisches kulturelles Kapital verfügen, das relativ eng gefasst ist: Es macht einen Unterschied, ob ich bereits mit meinen Eltern Schiller gelesen habe oder nicht; viele andere Potenziale, die Bewerber*innen stattdessen mitbringen, zählen in diesem Kontext nicht.
Carvalho: Ich möchte gern noch einmal auf die Lichttechnik und das Lichtdesign zurückkommen. Das ist ein Aspekt, bei dem alle, die schon eine Weile hier am Ballhaus arbeiten, wissen: Wenn Wagner kommt, wird er es auf jeden Fall zu dunkel finden. Denn hier stehen nichtweiße Menschen auf der Bühne, und man muss erst einmal verstehen, dass diejenigen, die einen anderen Hautton haben, auch anders beleuchtet werden müssen. Manchmal lässt sich das in Fernseh-Talkshows beobachten, in denen verschiedene Leute auf dem Podium sitzen: Da wirken Menschen mit dunklerer Haut weniger gut sichtbar als andere. Darüber gab es riesige Auseinandersetzungen innerhalb des Hauses, weil ich immer gesagt habe: Es geht hier nicht um Lichtkunst, sondern darum, dass die Menschen, die hier auf der Bühne stehen, gesehen werden müssen! Diese Erfahrung haben aber viele Lichttechniker*innen und -designer*innen – ganz gleich, ob es sich um weiße oder um Kolleg*innen of Color handelt – in ihrer Berufspraxis noch nicht gemacht, bevor sie zu uns ans Haus kommen. Solche Sensibilisierungen sind auch ein wichtiger Bestandteil der Arbeit, wie wir hier leisten.
Larsson: Im Zusammenhang mit Lichttechnik und Lichtdesign ist das tatsächlich besonders eindrücklich. Im amerikanischen Kino gab es diese Diskussion ja bereits vor 15 Jahren. Je mehr Schwarze Schauspieler*innen Karriere machten, desto unbrauchbarer wurden bisherige Standards der Lichtsetzung. Und je politischer die Schauspieler*innen organisiert waren, desto heftiger krachte es in Hollywood. Im Theater ist diese Debatte aber immer noch nicht so richtig angekommen. Auch der Kontrast der Hautfarbe zum Kostüm und zum Bühnenbild spielt ja eine entscheidende Rolle. Wir arbeiten zum Beispiel relativ viel mit schwarzem oder weißem Tanzboden – die natürlich so unterschiedlich das Licht reflektieren, dass diese Farbentscheidung alle nachfolgenden Bereiche beeinflusst. Und das ist wiederum nichts, was ich in Büchern finde, sondern Erfahrungswissen, was zum Beispiel in unserer Werkstatt weitergegeben wird.
Wann soll es denn losgehen?
Carvalho: Im Oktober. Das Geld liegt schon seit Februar auf unserem Konto – und das ist ein absolut großartiges Gefühl (lacht)! Wir freuen uns sehr auf diesen Austausch in unseren Werkstätten, zumal wir als Inputgeber*innen auch Kolleg*innen einladen können, die ihre Karriere hier am Haus begonnen haben und inzwischen zu den Instanzen der deutschen Literatur- und Theaterwelt gehören; ich denke da zum Beispiel an Sasha Marianna Salzmann, Nurkan Erpulat oder Hakan Savas Mican. Aber unabhängig davon, wer am Ende tatsächlich dabei sein wird, ist es uns wichtig, hier einen Raum zu schaffen, in dem man Dinge ausprobieren kann, die woanders in der Regel nicht möglich sind.
Mathieu Amadou, Sie haben bereits für mehrere Produktionen des Ballhauses Naunynstraße die Kostüme entworfen und werden an der ersten Werkstatt im Oktober teilnehmen. Was genau sind denn das für Dinge, von denen Wagner Carvalho spricht?
Mathieu Amadou: Für mich ist entscheidend, dass einem hier das Vertrauen entgegengebracht wird, Sachen wirklich einfach mal zu versuchen und eben tatsächlich ins Risiko gehen zu dürfen. Ich komme eigentlich aus dem Modebereich und habe früher zwar schon einmal am Theater gearbeitet, aber das ist wirklich ewig her, und daran wieder anzuknüpfen, war am Anfang gar nicht so leicht für mich. Ich hatte allerdings ein großartiges Team: Alle waren superjung und unglaublich offen, mir ist wirklich ein Stein vom Herzen gefallen. Früher, bei meinen Praktika an größeren Häusern, hatte ich es oft mit Personen zu tun, die schon über ein gewisses Standing verfügen und neuen Ideen vielleicht nicht so offen gegenüberstehen. Dagegen ist es hier am Ballhaus möglich, sich einander anzunähern und etwas Gemeinsames zu finden – was letztlich beiden Seiten zugutekommt, den Performer*innen genau wie mir.
Leonie Brüggenwerth, auch Sie werden an der Werkstatt im Oktober teilnehmen. Sie haben Architektur studiert und gerade Ihr allererstes Bühnenbild entworfen: für die Produktion „Kraftwandler*innen“ von der akademie der autodikaten in der Spielleitung von Raphael Moussa Hillebrand hier am Ballhaus Naunynstraße. Was hat Sie denn von der Architektur zum Theater geführt?
Leonie Brüggenwerth: Eigentlich war mein Architekturstudium an der Glasgow School of Art nur ein Mittel zum Zweck (lacht). Ich hatte vor dem Studium schon in Berlin als Setdesign-Assistentin beim Film gearbeitet und sollte halt etwas Solides studieren, da war das Architekturstudium ein guter Kompromiss. Ich war tatsächlich gerade fertig mit dem Master und dabei, die ersten Bewerbungen zu schreiben, als ich Mathieu traf – der mir auch schon bei meiner Bewerbungsmappe fürs Architekturstudium geholfen hatte. Als er mich fragte, warum ich mich nicht am Ballhaus bewerbe, fiel es mir wie Schuppen von den Augen.
Also nahmen Sie Kontakt zur Naunynstraße auf – und konnten dann direkt mit den „Kraftwandler*innen“ einsteigen?
Brüggenwerth: Dass mir hier dieses Vertrauen entgegengebracht wurde, obwohl ich vorher noch nie ein Bühnenbild gestaltet hatte, war eine Riesenchance für mich! Zumal alle mit mir im Kontakt waren, mich unterstützt und mir Raum für Gespräche gegeben haben.
Larsson: Auch das ist übrigens ein wichtiger Aspekt für unsere Entscheidung, uns mit dem Theaterpreis-Geld von der klassischen Schreibwerkstatt und dem damit verbundenen „Produkt“-Gedanken ein Stück weit zu entfernen: Wenn Theater eine Relevanz haben soll, müssen die Prozesse verändert werden. Die Gesellschaft verhärtet sich gerade, die Rhetorik ist militarisiert, soziale Ausschlüsse und Gewalt nehmen zu, und vor diesem Hintergrund einen Raum zu öffnen, wo Leute längerfristig zusammenkommen und in einen Erfahrungsaustausch treten können, hat eine nachhaltigere Wirkung als eine einzelne Produktion. Denn wenn wir die Prozesse ändern, kommen wir auch zu anderen Inhalten – die unmittelbar mit uns zu tun haben und mit diesen Konflikten und Gefühlen dieser Gesellschaft am Scheideweg. Das macht die Werkstatt-Praxis für uns so zentral.
Leonie Brüggenwerth und Mathieu Amadou, gibt es Punkte, an denen Sie jeweils für sich in der Werkstatt konkret arbeiten wollen?
Brüggenwerth: Mir fallen spontan zwei Dinge ein. Erstens würde mich enorm interessieren, mit dem Element Wasser auf der Bühne zu experimentieren. Und zweitens frage ich mich, wie man Bühnenbilder konstruieren könnte, die mehr Überraschungsmomente und Veränderungen in einer Theaterproduktion schaffen – zum Beispiel, weil irgendwo plötzlich ein Element aufklappt. Gerade für Leute wie mich, die ganz am Anfang stehen, sind solche Workshops natürlich extrem wichtig – auch, um zu lernen, was vielleicht nicht möglich ist, sei es technisch oder finanziell (lacht).
Amadou: Ich habe festgestellt, dass mir besonders die Arbeit an Performances gefällt, weil das Kostüm dort oft einen ganz anderen Charakter hat als beim klassischen Schauspiel. Bei der Performance ist das Kostüm in der Regel experimenteller und verändert sich im Lauf der Aufführung stärker. Es wird durch bestimmte Bewegungen gedehnt und geweitet, bekommt Schweißflecken – es spielt sozusagen mit, und man sieht ihm hinterher an, dass der Performer oder die Performerin sich in ihm verausgabt hat. Das finde ich spannend und würde an diesem Punkt gern weiterdenken; das Kostüm interdisziplinärer betrachten: Wie kann es zum Beispiel in die Requisite hinein fortgesetzt und praktisch selbst zur Performance werden?
Brüggenwerth: Das Wichtigste ist aber tatsächlich, wie man hier unterstützt wird! Dadurch wächst ja auch das Selbstbewusstsein. Man fühlt sich bestärkt, wenn man das Haus wieder verlässt und nach der Probe nach Hause fährt: Ja, es gibt uns, und unsere Geschichten sind wichtig!