Neue Narrative für eine Welt der Vielen
Von Elisabeth Wellershaus
Beim Ratschlag der Vielen am 28. November 2024 in der Akademie der Künste am Pariser Platz in Berlin kamen vor allem viele Fragen, aber auch einige Impulse auf. Allgemeiner Konsens: Die Gesellschaft braucht neue Erzählungen von Vielfalt, doch die Kunst darf dafür nicht uneingeschränkt vereinnahmt werden. Denn liegt nicht gerade in der Freiheit ihre Kraft, neue Welten zu entfesseln? Das wäre in diesen Zeiten das vielleicht politischste Statement im Verhandeln demokratischer Öffentlichkeiten. - Eindrücke von Elisabeth Wellershaus
Die politischen Fakten sind hinlänglich bekannt. Sie betreffen viele der Künstler*innen, die an diesem verhangenen Berliner Wintertag zum Ratschlag der Vielen in die Akademie der Künste kommen. Wie so oft in diesen Zeiten soll es bei der Veranstaltung ums große Ganze gehen: um Kunstfreiheit und Mittelkürzungen, um den immer rasanteren Aufstieg rechtsextremer Kräfte und um eingeschränkte Rechte. Um Themen, die verstörend wie verheerend sind. Und die vor allem nach konstruktiven Lösungsideen verlangen. Also fordert die Moderatorin Prasanna Oommen schon zur Begrüßung freundlich dazu auf, dass wir uns gemeinsam auf die Suche machen: nach Begegnungs- und Organisationsformen, durch die wir handlungsfähig bleiben. Denn wie wehrhafte Demokratien konkret aussehen könnten, welche Freiheiten, Schutzräume – und eventuelle Verbote – sie bräuchten, das gilt es tatsächlich dringend zu verhandeln.
Der Raum, in dem wir uns gegen 10.00 Uhr einfinden, ist eine dezente Vision in pink. Wie eine visuelle Umarmung hängt im Plenarsaal vor den großen Fenstern ein riesiger herzförmiger Luftballon. Fast alle Sitze sind belegt, und die meisten Anwesenden wirken hoch motiviert. Zwar bleibt das Publikum weitestgehend unter sich, akademische, vornehmlich weiße Teilnehmende aus der Kulturwelt füllen die Reihen vor dem Podium. Doch vielleicht werden bei aller nicht sichtbaren Pluralität im Laufe des Tages Erkenntnisse daraus wachsen: Vielleicht werden diejenigen, die da sind, sich der Dringlichkeit, die immer enger werdenden gesellschaftlichen und künstlerischen Spielräume so weit wie möglich offen zu halten, noch bewusster.
Das Theater- und Performancekollektiv Turbo Pascal versucht es eingangs mit einem offenen Fragespiel. Das Publikum antwortet in entwaffnender Ratlosigkeit. „Zurzeit fühle ich mich…“ ist eine der vielen Fragen. Und die Antworten reichen von „erschöpft“ über „schwer“ bis „motiviert und planlos“. Vor allem letzteres scheint die Verfasstheit vieler Anwesender zu beschreiben, die sich mit immer spärlicheren Mitteln gegen die hilflose „Verzweckung von Kunst“, die Vereinnahmung durch politische Agenden und Sparmaßnahmen wehren müssen.
Harte Realität und sanfte Radikalität
Sehr deutlich spricht die Schriftstellerin und Kolumnistin Jagoda Marinić das Thema an. Sie ist am Morgen mit einem Feueralarm aus dem Hotel gestolpert und mit Karacho ins desillusionierte kulturelle Hauptstadtleben eingetaucht. In ihrem Impulsvortrag greift sie das Bild direkt wieder auf: das schrille Klingeln, das Aufschrecken in der verrohten Gegenwart. Doch sie bezieht sich vor allem auf ihr aktuelles Buch „Sanfte Radikalität“, wenn sie über kulturpolitische Entscheidungen und rechte Gefahren reflektiert. Den Radikalitätsbegriff, um den es in ihrem Buch geht, beschreibt sie als einen gemeinschaftlich gedachten, der das eigene Handeln nicht durch Alarmismus oder Agitation befeuert, sondern der Möglichkeiten der Verbundenheit nachspürt. Unter den Anwesenden mache sich aufgrund aktueller Existenzängste gerade ein nachvollziehbarer Reflex bemerkbar, sagt sie, der sich viel darum drehe, das eigene künstlerische Handeln zu rechtfertigen. Kunst, so Marinić, wäre in diesen Tagen aber vor allem dann wirkmächtig und politisch, wenn sie sich auf sich selbst zurückbesänne.
Damit spricht sie nicht nur Vertreter*innen aus der Kultur an. Denn für manche Fragen und Entscheidungen ist dann eben doch auch die Politik verantwortlich. Das AfD-Verbot ist ein schönes Beispiel. Es wird im Dialogspiel von Turbo Pascal aufgegriffen, um ein Stimmungsbild unter den Anwesenden einzufangen. Doch dann geben die Veranstalter*innen das Thema gleich an den Juristen und Autor Bijan Moini weiter, der die Komplexität der Verbotsfrage im Powerpoint-Format erklärt. Er erklärt die demokratische Legitimität eines Parteienverbots auf der Grundlage verfassungswidrigen Verhaltens. Und dass es schwierig wird, nachzuweisen, dass die AfD gerade dabei ist, die freiheitlich demokratische Grundordnung auszuhebeln. Er erläutert die Gefahren eines Eilantrags, der abgelehnt werden könnte und die dringende Notwendigkeit, Material zu bündeln, um einen Antrag tatsächlich durchzubringen. Doch die Frage, warum an dieser Stelle der entscheidende politische Handlungswille fehlt, lässt sich in diesem Rahmen natürlich nicht klären. Meine Sitznachbarin dreht sich zu mir um, sie war kürzlich auf einer politischen Veranstaltung mit jungen Menschen, bei der an die 70 Prozent der Jugendlichen sich klar für ein Verbot der Partei ausgesprochen haben.
Vor allem für sie, die Jungen, müssten ältere Generationen aus Politik, Kultur und Wissenschaft den gesellschaftlichen Feueralarm, der durch diesen Winter schrillt, nicht nur ernster nehmen. Wir müssten uns auch um neue Narrative bemühen, um gewaltvollen rechtsextremen Erzählungen ebenso etwas entgegenzusetzen wie den verzweifelten Analysen aus etablierten Medien und Socials. Darüber sind sich Marinić, Moini, Hamburgs Kultursenator und Präsidenten des Deutschen Bühnenvereins Carsten Brosda sowie der Vizepräsidenten der Akademie, Anh-Linh Ngo, bei einer Paneldiskussion einig. Nur welche Bilder und Erzählungen sollen das sein? In den fünf Workshops zu lokalen und internationalen Gegenwartserfahrungen von Künstler*innen, die nach dem Mittagsessen zwischen HAU und Gripstheater angeboten werden, geht es abermals um Strategien gegen Angriffe und Repressionen. Wenn konstruktive Ansätze für demokratischere, menschenfreundlichere Zukünfte gefragt sind, wird es in den Diskussionen stiller.
Räume zum Wachsen
Ist es vielleicht zu viel verlangt? Vielleicht muss es am Ende das Prozesshafte bleiben, können neue Impulse nur in den Sphären der Küchengespräche und Kleingruppen entstehen, sind es die kleinen Schritte, die in vielversprechendere Richtungen weisen? Die Gesprächsrunde, an der ich kurz vor Schluss teilnehme, deutet das an. Sie wird von der Dramaturgin Felizitas Stilleke geleitet, und die will ganz konkret wissen, was wir als Individuen und Netzwerkende brauchen, um den großen Fragen dieses Tages zu begegnen. Das Gespräch findet zunächst in Zweiergruppen statt, die dann auf vier und später auf acht und noch mehr Teilnehmende erweitert werden. Ein denkbar simpler Ansatz. Und doch verstetigt sich dabei die Erkenntnis, dass Pluralität und Gemeinschaft Räume zum Wachsen brauchen. In der Zweisamkeit spreche ich über die leise Hoffnung auf neue Organisationsformate, die im Austausch mit neuen Verbündeten entstehen. Zu viert reden wir dann darüber, wie auch solche Formate wachsen könnten. Im Nachbarschaftlichen etwa, wo jede*r von uns die eigenen Netzwerke mit vorhandenen lokalen Strukturen bündeln könnte. Zu acht geht es darum, was es in diesen Räumen zu schützen gilt.
Denn aktuell scheint es nicht nur an überzeugenden Narrativen für gerechtere Gesellschaften zu fehlen. Sondern auch an Räumen, in denen wir sie einander erzählen. Es können selbstverständlich nicht Plenarsäle und Theater bleiben. Es müssten auch Schulen, Kantinen, Fußballstadien, Marktplätze oder Wohnzimmer sein. Doch für heute ist es die Akademie der Künste, in der SPD-Politiker Helge Lindh zum Abschluss eine flammende Rede über das Hinnehmen und Bagatellisieren eines Rechtsextremismus hält, der sich immer schneller ausbreitet. Es ist eine Kulturveranstaltung, bei der abermals klar wird, dass belastbare Bündnisse nur dann entstehen können, wenn Pluralität sich in der Vernetzung unterschiedlichster Gruppen zeigt. Wenn wir lernen, einander die Welt zu erzählen, die eine Welt der Vielen bleiben soll.