Transformationsinfarkt
Von Holger Bergmann
Holger Bergmann, Geschäftsführer des Fonds, wirft bei der Jahrestagung der Dramaturgischen Gesellschaft in Nürnberg einen Blick auf Gesellschaft und Zeitgeschehen – und einen neuen Begriff. Die Eröffnungsrede vom 07. Februar 2025 hier zum Nachlesen:

Holger Bergmann bei der Jahrestagung der Dramaturgischen Gesellschaft am 07. Oktober 2025 in Nürnberg.
Ich habe heute ein Wort mitgebracht, um – bevor wir zum Erinnern kommen – vielleicht besser begreifen zu können, aus welcher Gegenwart wir uns erinnern. Und natürlich erinnere ich mich am Ende auch noch mal – nämlich an ein Friseurgespräch.
Mit dem Begriff „Transformationsinfarkt“ versuche ich einen Zustand zu beschreiben, in dem der kontinuierliche Wandel und die ständige Anpassung an neue Bedingungen plötzlich zum Stillstand kommen. Dies kann durch verschiedene Faktoren wie politische Maßnahmen, wirtschaftliche Krisen oder gesellschaftliche Widerstände verursacht werden. Die Transformation war in den letzten Jahren der Motor für Wandel und Entwicklung – „den Fortschritt“. Nun droht ein „Transformationsinfarkt“ – ein plötzlicher Stillstand.
In der heutigen Zeit, geprägt von schnellen Veränderungen und ständiger Optimierung, dient das Wort Transformationsinfarkt als Metapher für Situationen, in denen Fortschritt und Innovation plötzlich ins Stocken geraten.
Die Austeritätspolitik, auch bekannt als radikale Sparpolitik, bietet hierfür die Legitimation oder gar Notwendigkeit. Allerdings – und dazu gleich – ist es nicht die alleinige Verschiebung, denn Sparzeiten kennen wir bereits zur Zeit der Bankenkrise oder davor. Die Sparmaßnahmen betreffen besonders die Felder Gesundheit, Soziales, Bildung, Kultur und Umwelt. Hier führen Einsparungen bei sozialen Dienstleistungen zur Verschärfung der sozialen Ungleichheit, da besonders benachteiligte Gruppen betroffen sind, wie Hybrid- oder Solobeschäftigte bspw. in den darstellenden Künsten.
Austeritätspolitik bedeutet auch einen Stillstand in Strukturen, den Anfang vom Zerfall der Infrastruktur wie Straßen, Brücken und öffentliche Gebäude z.B. Schulen.
Reduzierte Mittel beeinträchtigen die Qualität und Verfügbarkeit von Dienstleistungen in den Bereichen Bildung, Gesundheit und soziale Sicherheit.
Kulturinstitutionen wie Museen, Theater und Bibliotheken werden durch Kürzungen in ihrer Finanzierung stark beeinträchtigt, was zu einem Rückgang kultureller Angebote führt.
Organisationen der Zivilgesellschaft, die oft auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, können in ihrer gemeinnützigen Arbeit eingeschränkt werden.
Kürzungen in Klima- und Umweltprogrammen können den Schutz von Naturräumen und die Bekämpfung des Klimawandels beeinträchtigen.
Zusätzlich zur Sparpolitik herrscht die politische Agenda vor, progressive Entwicklungen auszubremsen. Diese beiden politischen Einflussnahmen fallen aktuell zusammen.
Rechtsextreme Bewegungen verfolgen aktuell fünf verschiedene Strategien:
1. Mobilisierung und Propaganda
Emotionale Ansprache: Rechte Bewegungen nutzen oft emotionale und identitätsbezogene Themen, um Menschen zu mobilisieren. Sie appellieren an Ängste und Unsicherheiten, die durch gesellschaftliche Veränderungen entstehen. Sie sind geschickt in der Nutzung von sozialen Medien und anderen Plattformen, um ihre Botschaften zu verbreiten und Anhänger*innen zu gewinnen.
2. Politische Strategien
Rechtsextreme Bewegungen nehmen Einfluss auf die Politik und arbeiten eng mit politischen Parteien zusammen oder gründen eigene Parteien, um ihre Agenda voranzutreiben.
Durch ihre politische Macht können sie progressive Gesetzesinitiativen blockieren und verzögern. Mittlerweile können sie sogar eigene politische Agenden zur Eindämmung fortschrittlicher Entwicklungen setzen – nicht zuletzt, indem demokratische Kräfte diese verfassungsbedenklichen Politiken aufgreifen.
3. Kulturelle und soziale Faktoren
Rechte Bewegungen propagieren die Rückkehr zu traditionellen Werten und Normen. Sie betonen oft nationale, ethnische oder religiöse Identitäten, um eine vermeintliche Einheit des Volkes zu schaffen und progressive Ansätze zu untergraben.
4. Reaktion auf progressive Bewegungen
Rechte Bewegungen entstehen oft als Gegenreaktion auf progressive Bewegungen. Sie übernehmen teilweise deren Protestformen und Diskurse, um ihre eigenen Ziele zu verfolgen. Sie versuchen, progressive Bewegungen zu diskreditieren und die Gesellschaft zu polarisieren, um Unterstützung für ihre eigenen Positionen zu gewinnen. Mittlerweile greifen sie Akteur*innen auch gezielt an.
5. Wirtschaftliche Interessen
Rechte Bewegungen erhalten Unterstützung von jenen wirtschaftlichen Akteur*innen, die von einer nationalkonservativen Politik profitieren. Sie investieren daher gezielt gegen Maßnahmen, die eine Umverteilung von Ressourcen und Macht zugunsten benachteiligter Gruppen fördern würden.
Diese fünf Faktoren tragen dazu bei, dass rechtsextreme Bewegungen in der Lage sind, progressive Entwicklungen zu bremsen und ihre eigenen Agenden durchzusetzen.
Der Weg zum Infarkt ist geebnet, wenn diese Strategien zusammenfallen mit der Austeritätspolitik der Kommunen, der Länder oder des Bundes.
Dies ist die politische Gegenwart 2025 und wenn es stimmt, dass der Kapitalismus genau diese Krisen braucht und sie befeuert, dann müssen wir uns fragen: woran können wir uns erinnern, als Gesellschaft, als plurale Versammlung der VIELEN in den Grenzen der Nationalstaaten des 19. und 20. Jahrhunderts, um den Herausforderungen der Zukunft zu begegnen? Wie erinnern wir Zeiten, die zunächst die Symptome der Transformationsinfarkte trugen und oft nur wenige Jahre später zum Herzstillstand für Tausende oder gar Millionen von Menschen führte.
Oft ist es die Unmenschlichkeit, der Schrecken am Ende der Vernunft, den wir zurecht erinnern, oder der sporadische Widerstand einzelner, als generationstherapeutische Maßnahme. Aber wir wissen sehr wenig darüber, warum die Gesellschaften wirklich kippten. Was hat die Menschen als Menschen so stark verändert? Mir schießt immer wieder ein jetzt schon Jahrzehnte zurückliegendes Gespräch mit meinem jugoslawischen – und darauf legte er wert – Friseur als ganz persönliche Erinnerung durch den Kopf:
Ein emotionales langes Gespräch über Rassismus – ihm und seiner Familie gegenüber – hier in diesem Land, was uns dann gedanklich zum Kriegsausbruch in den Kosovo führte. Ivo erhielt mit seiner Familie Asyl und machte später einen kleinen Friseursalon im Ruhrgebiet nahe meiner damaligen Wohnung auf. Was ich seit diesem Friseurbesuch nicht vergessen habe, ist seine Ohnmachtserfahrung, als er sagte: Es begann mit ein paar Verrückten –so dachten wir – die aufmarschierten, die Fahnen der Regionen schwenkten, dann begannen immer mehr Menschen, Schlechtes übereinander zu erzählen, es gab immer größere Versammlungen, Angriffe auf Menschen, nur weil jemand aus einer anderen Region kam oder zu einem anderen Gott betete. Aber plötzlich waren überall um uns herum nur noch böse Menschen, in der eigenen Stadt, in der Nachbarschaft oder im Freundeskreis. Er musste übermannt von seinen Erinnerungen weinen und ich mit ihm und seinen Erinnerungen.
Und ich sage Euch, ich denke zurzeit öfter an diesen emotionalsten Haarschnitt, den ich je bekommen habe.
Plötzlich überall böse Menschen um einen herum – ich habe mittlerweile eine Ahnung wie das funktioniert, dass Menschen so böse werden können, dass sie verfolgten und bedrohten Menschen das Recht auf Asyl, auf einem Ort als Heimat (egal, ob erste, zweite, dritte) oder das Recht auf Liebe oder gar auf das Leben absprechen können.
Wie Hannah Arendt es beschrieben hat, kann das Böse „die ganze Welt verwüsten, gerade weil es wie ein Pilz an der Oberfläche weiterwuchert“. Was ich heute verstehe: Es gilt das Böse zu bekämpfen und zu verhindern – nicht Meinungen, Haltungen oder Verhaltensweisen, die nicht die meinigen sind, sondern das toxisch Bösartige, das in extremistischen Haltungen, Meinungen und Menschen mit wuchert.
Das ist die Herausforderung für die Think-Tanks, auch und gerade in der Kunst und der Kultur. Hierfür haben wir Geschichten und hierfür braucht es starke Dramaturgien, die inhaltliche Herausforderungen an eine Ästhetik und Form stellen. Das Theater ist doch ein säkularer Spezialist für GUT und BÖSE. Drehen wir die Hass-Spirale um – schrauben wir an mehr Liebe und pluraler Gemeinschaft, setzen wir eine Transformation des Menschlichen in Gang. Die uns eine Fortentwicklung unseres Zusammenlebens in klimagerechter, diskriminierungsarmer und weltoffener Art und Weise von der Ideologie befreit und einfach als gute Zukunft definieren lässt.
Ich wünsche viele Erkenntnisse beim Erinnern.
Danke.