Uns wird immer wieder vorgeführt, wie hierarchisch die Welt ist

Von Elena Philipp

Monika Gintersdorfer und ihr transnationales Theaterkollektiv Gintersdorfer/Klaßen teilen nach einem Artist Lab zur künstlerischen und ökologischen Nachhaltigkeit freier Gruppen ihre Gedanken. Ein Beitrag von Elena Philipp.

LABOR– Transnationale Performance Gruppen – Langlebigkeit und Verantwortung

So kann es nicht weitergehen! Monika Gintersdorfer klingt aufgebracht, fast schon verzweifelt: „Mein Sommer war davon geprägt, dass ein befreundeter Künstler abgeschoben werden soll“, erzählt die Regisseurin. „Ich habe versucht, in verschiedenen Theatern jemanden zu erreichen und Unterstützung zu organisieren, aber viele waren schon im Urlaub. Die Unvereinbarkeit von‚bitte nicht stören‘ und jemandem, der bangt, ob er abgeholt wird, ist so groß, dass internationale Zusammenarbeit mir mittlerweile wie ein Euphemismus erscheint.“ Denn das „System der Nichtbeweglichkeit“, wie Monika Gintersdorfer die Ungerechtigkeiten der globalen Reisemöglichkeiten nennt, beeinträchtigt auch die Künste. Wer darf international arbeiten, wem dagegen ist das kaum gestattet?

Gewaltvolles globales System, das Bewegung beschränkt

Seit Anfang der 2000er Jahre, als Monika Gintersdorfer ihr transnationalen Künstler*innennetzwerk aufzubauen begann, haben sich die Ungerechtigkeiten im System des internationalen Austauschs nicht verbessert. „Uns wird immer wieder vorgeführt, wie hierarchisch die Welt ist. Menschen aus Afrika brauchen ein Visum für fast jedes Land. Es kann Wochen, Monate, Jahre dauern, bis sie für Deutschland eine Einreisegenehmigung erhalten. Außerdem verfallen Visa oder werden nicht verlängert“, erzählt Monika Gintersdorfer aus einem Alltag, der ihr, anders als vielen Westeuropäer*innen, vertraut ist. 2005 hat sie mit dem bildenden Künstler Knut Klaßen die freie Gruppe Gintersdorfer Klaßen gegründet. Derzeit gehören ihr mit Annick Agbadou, Gotta Depri, Jule Flierl, Ted Gaier, Montserrat Gardo, Hauke Heumann, Carlos Martinez, Hans Unstern und Franck Yao Performer*innen und Choreograf*innen aus Deutschland, Elfenbeinküste und Mexico an. Seit 2017 gibt es zudem die Gruppe La Fleur, die Gintersdorfer und Yao ins Leben gerufen haben. Um zusammen arbeiten zu können, müssen sie alle viel Zeit investieren. Und doch ist ein kontinuierlicher Austausch nicht gewährleistet.


Monika Gintersdorfer und eine weitere Person sitzen auf einer Wartebank und haben Ausdrucke, die Personen zeigen, auf sich ausgebreitet. © Knut Klaßen

„Ich bin an einem Punkt in meinem Leben, an dem ich mich frage: Warum waren wir so brav“, sagt Gintersdorfer. „Warum haben wir immer wieder Einladungen für Künstler*innen geschrieben, um ihnen ein Visum zu ermöglichen, haben den Behörden und Festivals nicht einfach gesagt: Das geht so nicht! Das System der Nichtbeweglichkeit ist brutal, da wird Gewalt ausgeübt – aber niemand spricht darüber.“ Es sei Zeit für ernsthaftes politisches Engagement: dafür, dass Europäer*innen den Kampf führen und dass Gesetze geändert werden. Das verlange sie von Performer*innen, Festivals, Institutionen, die international arbeiteten. „Diejenigen, die von den Regelungen betroffen sind, müssen von diesen Zumutungen entlastet werden!“

Nachhaltigkeit statt Verpuffungen

Erneut akut geworden sind diese Fragen für Gintersdorfer/Klaßen im Sommer nicht nur wegen der drohenden Abschiebung des befreundeten Künstlers. Auf der Agenda stehen sie auch, weil die Gruppe zwischen Mai und August 2022 in ihrem Labor gemeinsam über die Arbeit als freie transnationale Gruppe nachdenken konnte. „Wie funktioniert nachhaltiges künstlerisches Produzieren im Einklang mit ökologischer Nachhaltigkeit?“, war die Frage, die bei fünf analogen Treffen besprochen wurde. In Berlin, Hamburg, Düsseldorf waren jeweils unterschiedliche Mitglieder der Kompanie mit dabei, die sich umfassend mit dem Begriff Nachhaltigkeit und seinen verschiedenen Dimensionen im Bereich freier künstlerischer Arbeit auseinandergesetzt haben.

Längere Aufenthalte an den Orten, an denen produziert wird, lautet eine der zentralen Forderungen von Gintersdorfer/Klaßen. Nur so würden Prozesse nicht andauernd unterbrochen und der Zusammenhalt der Teilnehmenden nicht ständig auf die Probe gestellt. In welchem Beruf arbeite man nach zwanzig Jahren Arbeitserfahrung schon noch auf Antragsbasis?

Mit welchen Mitteln ließe sich vergleichsweise rasch etwas verbessern? „Selbst verwaltete Proberäume, langfristig angemietete Wohnungen, die Möglichkeit, Fördergelder anteilig für langfristige Investitionen einzusetzen“ – das sind für Monika Gintersdorfer Schlüsselfaktoren, um als freie transnationale Gruppe nachhaltiger arbeiten zu können. „Gruppen wie unsere müssen immer Leute unterbringen“, erklärt sie. „Für Hotels werden irre Summen ausgegeben, dafür könnte man über Monate Wohnungen anmieten. Das wäre auch ökologisch viel nachhaltiger.“ Und könnte man als freie Gruppe anteilig – etwa in Solidaritätsfonds – investieren, statt Gelder im Förderzeitraum verpflichtend ausgeben zu müssen, ließe sich auch manch soziale Härte bei den nur zeitweise beschäftigten Performer*innen abfedern. Monika Gintersdorfer kann nur den Kopf schütteln über die „Verpuffungen“, die das Fördersystem für die Freien Darstellenden Künste noch immer an manchen Stellen produziert.

Nahaufnahme eines Performers. Die untere Hälfte seines Gesichtes mit einer schwarzen Maske bedeckt. Er schaut durch ein Gitter in die Kamera. © Carlos Martinez

Kooperieren statt konkurrieren

Entstanden sind im Nachgang zum Artist Lab unter anderem zwei Textbeiträge von Jule Flierl und Luise Meier, die genauso engagiert wie Monika Gintersdorfer für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen argumentieren. Aus ihnen spricht vor allem das Anliegen, als Künstler*in nicht mehr durch das Fördersystem in Konkurrenz zu Kolleg*innen gebracht zu werden. „Nach einem durchschnittlichen Förderzeitraum von drei Monaten müssen wir uns jedes Mal neu beweisen, minutiös für Ausgaben rechtfertigen und gegeneinander durchsetzen“, heißt es in einem von zwei „Briefen für Nachhaltige Beziehungen“. „Die Kollaborateur*in von gestern kann morgen schon in der Jury sitzen oder einen konkurrierenden Antrag stellen“, schreibt Jule Flierl.

Und die Konsequenzen sind beileibe nicht nur finanzieller Natur, wie Luise Meier darlegt: „Je länger wir in diesen Strukturen unterwegs, vermeintlich etabliert oder professionalisiert sind, fällt es zunehmend schwerer, uns füreinander und aneinander zu freuen, zu inspirieren, zu unterstützen.“ Solange das Mantra laute, ‚Für alle reicht es nicht!‘, werde man in der Szene dazu erzogen, sich selbst und die Kolleg*innen aus Jury-Perspektive und in der Logik der Selektion zu sehen. Jule Flierl schlägt ein neues Motto vor: Kooperation statt Konkurrenz, mehr Solidarität, weniger kapitalistischer Leistungsdruck. Und um Antwort wird gebeten: Der Dialog mit der Kulturpolitik ist eröffnet.

Parkplatz am Flughafen Tegel. Drei Tänzer*innen tragen medizinische Masken und rennen, mit jeweils einem schwarzen Rollkoffer umeinander herum. © Knut Klaßen

Mehr Autonomie führt zu mehr Nachhaltigkeit

„Was die Künstler*innen wollen, ist vor allem, kontinuierlich zu arbeiten. Das hat schon viel mit Nachhaltigkeit zu tun“, fasst Monika Gintersdorfer die Ergebnisse des Artist Lab noch einmal zusammen. Längere Aufenthaltsmöglichkeiten bedeuten weniger Flüge, eine längere Verweildauer an einem Ort weniger logistischen und damit materiellen Aufwand. Auch mehr Autonomie für die Künstler*innen sieht sie als eine Dimension von Nachhaltigkeit. „Dann würde es weniger Wettbewerbsdruck geben, man könnte in langfristigen Zyklen denken und es gäbe Spielräume, zum Beispiel für die Unterstützung erkrankter Performer*innen. All das sind Probleme, die wir zwar ständig lösen müssen, aber für die es bislang keine offiziellen Möglichkeiten gibt.“

Voraussetzung dafür, dass die Arbeit als transnationale Gruppe ohne den bisherigen Verschleiß der sich selbst verwaltenden und stets um ihre Arbeitsgrundlagen kämpfenden „Administrative Artists“ stattfinden kann, sind für sie aber vor allem die Visabestimmungen europäischer Staaten. „Dass wir an der Mobilitätsungerechtigkeit scheitern, ist wirklich ein Skandal“, betont Gintersdorfer noch einmal. Doch sie ist verhalten zuversichtlich: „Vielleicht wird sich etwas bewegen in den nächsten Jahren, weil man jetzt feststellt, dass in Europa Arbeitskräfte fehlen und dass die Abweisungs- und Abschreckungspolitik der vergangenen Jahre in jedem Sinne verfehlt war – sie hält die Menschen nicht davon ab, die Gefahren der illegalen Einwanderung auf sich zu nehmen.“ Wider die menschenfeindliche Haltung, für mehr Gerechtigkeit in der internationalen Zusammenarbeit: die Adressat*innen dieser Gedanken sind klar – die Politik, aber auch alle in der Kultur tätigen Personen und Institutionen. Hier muss jetzt endlich etwas beginnen, sind Gintersdorfer/Klaßen überzeugt. Denn so kann es nicht weitergehen.

Elena Philipp ist Redakteurin beim Theaterportal nachtkritik.de und schreibt als freie Kulturjournalistin für Zeitungen und Fachzeitschriften. Seit 2018 hostet sie gemeinsam mit Susanne Burkhardt von Deutschlandfunk Kultur den „Theaterpodcast“. 2021 hat sie den Sammelband „Theater und Macht. Beobachtungen am Übergang“ von nachtkritik.de und Heinrich Böll Stiftung mit herausgegeben.

Im Sommer haben freie Künstler*innen-Gruppen in 30 bundesweiten Artist Labs die krisenhafte Gegenwart untersucht. Sebastian Köthe, Elisabeth Wellershaus und ein Team an Gastautor*innen haben ihnen dabei über die Schulter geschaut.