Wind of Change

Von Elisabeth Wellershaus

Kurz vor den Wahlen in Thüringen begegnen sich Autor*innen und Philosoph*innen im Rahmen der Veranstaltungsreihe „DIE KUNST, VIELE ZU BLEIBEN“ in Weimar und reflektieren über die Ratlosigkeit der Gegenwart. Unsere Autorin Elisabeth Wellershaus hat sie begleitet.

Weimar: Im Rücken die Bühne des Nationaltheaters, vor der Nase das bronzene Doppeldenkmal von Goethe und Schiller, dazwischen ein bisschen Gegenwart. Ende August stehe ich auf dem großen Balkon, der über dem zentralen Platz der Stadt thront, neben mir Schriftsteller*innen, Philosoph*innen, Theatermenschen. Es ist die vorletzte Station der Veranstaltungsreihe DIE KUNST, VIELE ZU BLEIBEN. Und an diesem Sommerabend will die Stimmung sich nicht recht entscheiden: Mal spürt sie den milden Temperaturen, dem schönen Licht nach, dann wieder der Angst vor den bevorstehenden Wahlen.

Mit Getränken und Stullen in den Händen stehen wir bei einem Balkon-Empfang und reden. Darüber, ob und wie wir eigentlich noch miteinander reden können. Theoretisch ist in einem literarischen und philosophischen Programm am Nachmittag schon viel gesagt und nichts zerredet worden. Doch das Ringen um angemessene Töne treibt Kultur- und Medienbetriebe seit Monaten um, bleibt ein Dauerbrenner. Es zeigt sich in redaktionellen Umfeldern, wo Tempo und Positionierungsdruck mittlerweile beängstigende Ausmaße angenommen haben. Im Blick auf Veranstaltungsformate, wo ein- und ausgeladen wird, um niemanden vor den Kopf zu stoßen. Im Austausch mit der Politik, die mit ihren Vorstellungen vom Kulturhaushalt die Freie Szene in die Krise stürzt. Und überall dort, wo es darum geht, individuell und als Gesellschaft auf die drohenden Angriffe von rechts zu reagieren, die unser Leben längst wieder – und immer noch – prägen.

Die Performerin Tina Pfurr steht mit dem Rücken zur Kamera an die Balkonbrüstung des Nationaltheaters Weimar gelehnt und schaut auf den Theaterplatz hinunter, auf dem sich Menschen tümmeln. Auf ihrer Jacke prangt ein Aufnhäer mit der Aufschrift "(You goota) sing for your right to live in a Demokratie" © Candy Welz

Vielleicht zeigt es sich sogar im Zwiegespräch mit den aufgewärmten Steinen eines deutschen Nationaltheaters. Man kommt ja kaum umhin, auf diesem Balkon an der Vergangenheit zu riechen. An 1926, als der erste Reichsparteitag genau hier, in diesem Gebäude stattfand. An 1933, als das NSDAP-Parteimitglied Ernst Nobbe die Intendanz übernahm. Daran, dass Schriftsteller wie Fritz-Löhner Beda im KZ Buchenwald inhaftiert waren, während Schauspieler*innen des Theaters, an dem seine Libretti weiterhin zu hören waren, die SS in Buchenwald unterhielt.

Doch was sollen die Gebäude antworten? Sie können nur anderen Zeiten, anderen Menschen Raum gewähren. Denen etwa, die an diesem Sommertag zusammenstehen. Auch Jens-Christian Wagner hatte am Nachmittag an der Universität bei einer Literaturveranstaltung im Publikum gesessen. Vor den Wahlen hatte der Leiter der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora über 300.000 Briefe an thüringische Haushalte verschickt, in denen vor allem ältere Menschen leben. Ein Bild seines Gesichts war daraufhin in Mittelbau-Dora auf eine Todesmarschliste geklebt worden, die Bedrohungen ihm gegenüber spitzten sich zu. Perfiderweise hatte er in seinem Brief genau davor gewarnt: Vor der Verharmlosung von rechten Ideologien und der AfD – vor einer Kluft des Erinnerns und damit letztlich auch vor dem Zusammenbruch der Verständigung zwischen Vergangenheit und Gegenwart.

Dieser Zusammenbruch droht nicht allein hinter den Haustüren älterer Thüringer Bürger*innen. Nicht nur in Regionen, wo die AfD bereits Bürgermeister*innen stellt oder die Ergebnisse der U-18-Wahlen die Ausbreitung rechtsextremer Bedrohung eindrücklich illustrieren. Nein, die Grenzen von Begegnung und Verständigung zeigen sich längst auch in medialen Sphären – in Feuilletondebatten, Talkshows, den Socials. Überall dort, wo Polarisierung zum Stilmittel erhoben wurde. Und so grenzt es mittlerweile schon fast an ein Wunder, wenn wir Zeug*innen eines genuin freundschaftlichen Streits werden. Wenn Menschen sich öffentlich die konträren Meinungen anvertrauen, ohne mit Anlauf in gewetzte Messer zu laufen.

Platz vor dem Nationaltheater Weimar mit der Statue von Goethe und Schiller. Sowohl auf dem Balkon des Theaters als auch um die Steinbüste der beiden Poeten sind Menschen zu sehen. © Sebastian Bolesch

Omri Boehm und Hito Steyerl ist am Nachmittag an der Bauhaus Universität etwas ähnliches gelungen. Zu Beginn ihres Gesprächs sah es so aus, als würden sie sich in der Diskussion um die Möglichkeitsräume des Universalismus verhaken. Fast wirkte es, als wollten philosophische und künstlerische Perspektiven einander die eigenen Grenzen aufzeigen. Als würden Boehms Sicht auf Habermas‘ Verfassungspatriotismus und Steyerls gelebte Realität als Deutsche, deren Zugehörigkeit regelmäßig hinterfragt wird, einander unverständig gegenüberstehen. Doch erstaunlich schnell wendete sich das Blatt, änderte sich der Ton, fanden beide im Gespräch zusammen. Denn in ihrer Kritik über die Verfasstheit medialer und öffentlicher Orte, an denen die Polarisierungstrends wüten, waren Steyerl und Boehm sich dann doch sehr einig.

So ein Veranstaltungsprogramm ändert natürlich nur bedingt viel daran, dass die Begegnungsräume enger werden. Daran, dass Argwohn, Abgrenzung, auch Hass und Gewalt sich in unterschiedlichsten gesellschaftlichen Milieus steigern – meist gegenüber denjenigen, die das griffigste Feindbild abgeben. Doch in diesem Spannungsfeld entfaltet vor allem die Literatur eine erstaunliche Kraft. „Ich bin noch da“ ist der letzte Satz eines Textes, den der Schriftsteller Deniz Utlu vorträgt. In zwei Briefen adressiert er eine vage Gestalt, die den Hass und die rechtsextremen Ideologien bereits in den 1990er Jahren kultiviert und in der Gegenwart perfektioniert hat. „Du hast die Sprache der Vernunft gelernt“, schreibt Utlu. „Das war nicht schwer, Du musstest sie nur von ihrem repressiven Ende aus lesen lernen.“

Wie das Bleiben in einer Gesellschaft aussehen kann, in der sich das Gift der Ausgrenzung zügig in die Zukunft schleicht, beschreibt Sivan Ben Yishai in ihrem Text: „Im Zug – kaufen wir uns immer ein Ticket. Im Supermarkt – haben wir keinen Rucksack dabei. Im Park – bewegen wir uns nicht zu hastig. In der Nacht – bedecken wir unser Gesicht nicht. In der Bank – sprechen wir gedämpft. In der Apotheke – lassen wir die Hände aus den Taschen. Auf dem Spielplatz – bringen wir das Lachen unserer Kinder zum Schweigen.“ Viel zu viele von uns beherrschen es längst viel zu gut: Das Wegdrücken, das Kleinmachen, das Aushalten der Angst, die so oft im Nacken sitzt.

Die Schriftstellerin Manja Präkels beobachtet direkte und indirekte Gefahren, wenn sie sich damit beschäftigt, „wie sich die drohende demokratische Erosion im ostdeutschen Alltag bemerkbar macht“. Sie gehört zu den drei Überlandschreiberinnen, die in vergangenen Monaten unter anderem für die taz aus Thüringen, Sachsen und Brandenburg berichtet haben. Über die multiplen Facetten des deutschen Ostens, der so vieles ist, nur nicht eindimensional. Auch ihr Text changiert zwischen Hilflosigkeit und Handlungsbedürfnis, zwischen Starre und Bewegung – und leiser Hoffnung.

Die Schriftstellering steht an einem Redner*innenpult und spricht in ein Mikrofon. Vor ihr ist ein Plakat mit dem Titel der Veranstaltung zu sehen: DIE KUNST, VIELE ZU BLEIBEN. © Sebastian Bolesch

Die Schriftstellerin Manja Präkels während ihres Beitrags zu "Poetischen Positionen" im Rahmen der Veranstaltung.

Am Ende klingt eine präzise Handlungsanweisung von Anne Rabe in die ambivalente Stimmung: „Wir müssen jeden Tag etwas tun, weil die Rechtsextremen jeden Tag etwas tun, um dieses Land zu verändern.“ Auch diese Schriftstellerin ist regelmäßig in Sachsen unterwegs, in einer Gegend, wo Künstler*innen und Aktivist*innen von rechter Mainstreamkultur bedroht, bei ihren Aktionen fotografiert und verfolgt werden.

Auf dem Weimarer Theaterplatz sind am nächsten Vormittag bereits Menschen aus dem rechten Spektrum mit Kameras gesichtet worden. Sie haben den Theatertruck gefilmt, die Performerin Tina Pfurr, die daneben ihre Karaoke-Station aufgebaut hat. Als ich vorbeikomme, singt sie „Wind of Change“, mit etwas Nostalgie im Ton pfeift eine Passantin mit. Ich versuche, Reaktionen aus den Gesichtern der Umstehenden herauszulesen, sehe sie auch hier, die Ratlosigkeit. Und doch bleibt es greifbar: ein diverses, widerständiges Wir, das bleibt, geht, kämpft, aufgibt, singt und weiteratmet.