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Auf der Suche nach Verbundenheit

By Elisabeth Wellershaus

Wie haben ästhetische Perspektiven und Produktionsstrukturen sich seit Beginn der Corona-Pandemie verschoben? Wie reagieren die Künstler*innen der Freien Szene auf eine Zeit der einander überlagenden Krisen? Auf dem B.A.L.L. der Darstellenden Künste, dem Bundesweiten Artist Labor der Labore, kamen Antworten und viele neue Fragen zusammen.

Im Foyer der Berliner Festspiele ist es still. Das Publikum sitzt auf Stühlen oder dem Boden, lehnt an der Bar oder einer Wand. Auf jedem zweiten Handy leuchtet das Programm des ersten Veranstaltungstages. Über die Gesichter schieben sich erste Anzeichen von Müdigkeit. Doch als Sahar Rahimi zu einem Vortrag ansetzt, ist die Konzentration sofort wieder hergestellt. „Wer hat das Privileg, sich mit angenehmen Dingen beschäftigen zu dürfen?“, fragt die Performance-Künstlerin und Regisseurin unvermittelt in den Abend hinein. Als Mitbegründerin des Performance-Kollektivs Monster Truck beschäftigt sie sich mit dem Aufbrechen politischer und gesellschaftlicher Hierarchien. Als Frau mit iranischer Familie beschäftigt sie die Ignoranz gegenüber den aktuell stattfindenden Protesten in ihrem Geburtstland. Denn aus Rahimis Sicht sind deutsche Politik und Öffentlichkeit bestenfalls oberflächlich an den Dingen interessiert, die sich seit Wochen an iranischen Hochschulen und in den Straßen des Landes zutragen.

Auch wenn sie in vorpandemischen Zeiten nicht im Übermaß existierten: Mit Beginn der Pandemie scheinen Aufmerksamkeit, Empathie und die Wahrnehmung „der Anderen“ noch stärker abgenommen zu haben. Die Jahre mit Corona haben Spuren hinterlassen. Arbeitsbedingungen haben sich verändert, wirtschaftliche und soziale Strukturen sind an Grenzen gekommen. Die Kräfte, um mit globalen und lokalen Krisen von Krieg bis Klima umzugehen, wirken erschöpft.

© Dorothea Tuch

Doch an zwei aufeinander folgenden Tagen im Oktober fanden sich Künstler*innen, Politiker*innen, Produzent*innen und ein diverses Publikum im Haus der Berliner Festspiele ein, um genau dies zu tun: Sie richteten die performative Aufmerksamkeit auf Themen, die in einer überreizten Gegenwart zuweilen unterzugehen drohen. Das Angebot war von opulenter Vielfalt. In einigen Ecken des Theaters ging es um Produktionsstrukturen, in anderen um Kunst in Krisenzeiten. Teilnehmer*innen des Labors „Mit und gegen das Theater“ diskutierten das Überwinden weißer, heteronormativer, klassistischer Bühnenstrukturen, die Initiator*innen von „Tausend Hektar Kunst“ erklärten, wie die Arbeit von Künstler*innen in Kleinstädten und Dörfern aussieht.

Auf Panels, in intimen Gesprächsformaten, in Vortragssituationen und in Pausenplaudereien wurde über Nachhaltigkeit, soziale Ungleichheit und das Leben in einer Gegenwart diskutiert, die den Krisenmodus nicht mehr abzuschütteln vermag. Es wurde gebastelt, getanzt, auf gemeinsamen Spaziergängen die Umgebung erkundet. Und die Idee der prozesshaften Laborarbeit wurde in diesen Tagen in ein Format umgewandelt, das jeden Winkel des Theaters ausfüllte.

Gleich zu Beginn hatte Sibylle Peters in einem Auftaktvortrag mitreißend das Recht auf Forschung eingeklagt. Sie hatte über ein Publikum gesprochen, das freies Theater als neuen Ort der Verhandlungen wahrnähme. Über Möglichkeitsräume, um an „alternativen Öffentlichkeiten zu arbeiten und Leuten Plattformen zu bieten, die sonst keine haben.“ Und sie hatte angemahnt, dass genau diese Experimentieräume in Gefahr seien. Sie sprach über die Fördermaßnahmen, die seit Ausbruch der Pandemie in relativ ungewohntem Ausmaß bewilligt worden waren und von der Angst, dass dies nun bald wieder vorbei sein wird.

Doch wie, so Peters, solle die Freie Szene ohne leidlich stabile Strukturen weiterhin leisten, was sie seit jeher leistet: in unterschiedlichsten Sprachen, mit Körpern und Sinnen, auf der Straße, in Realität und Fiktion die Gegenwart auf den Prüfstand stellen?

The picture shows four people sitting next to each other on stage. They are discussing with each other as part of a panel discussion. © Dorothea Tuch

Bislang hat die freie Kulturszene noch immer Mittel und Wege gefunden, um sich ihren kritischen Blick zu bewahren. Doch selten ist sie dabei zur Ruhe gekommen. Sie hat Möglichkeiten auftun müssen, um die künstlerische Produktion mit knappen Ressourcen und in aufreibender Selbstbefragung am Laufen zu halten. Um weiterzuspielen, weiterzudenken, sich weiterzubilden und Begegnungsorte zu schaffen. Seit Ausbruch der Pandemie steht sie vor neuen Herausforderungen, und auch ihnen mussten die Künstler*innen der Szene fantasievoll begegnen. Tänzer*innen und Schauspieler*innen, Regisseur*innen und Performer*innen mussten ihre Arbeit auf die Straße verlegen oder digitalisieren. Sie standen vor dem Problem der Kinderbetreuung, mussten Homeschooling mit kreativer Arbeit vereinbaren. Sie mussten maximal flexibel bleiben – sich in Ästhetik und Produktion an die neuen Gegebenheiten anpassen.

Doch selbst die Möglichkeitsräume des Theaters haben Grenzen. In einem Vortrag im Foyer hinterfragte die Regisseurin Monika Gintersdorfer deshalb die allseits bekannte Flexibilität des freien Theaters – aus nicht-westlicher Perspektive.

Als Gründungsmitglied der Performance-Gruppe Gintersdorfer/Klaßen hat sie viel Erfahrung mit internationaler Zusammenarbeit. Allerdings findet sie den Begriff problematisch. Denn die Arbeit mit westafrikanischen Kolleg*innen sei in vielerlei Hinsicht von struktureller Bewegungslosigkeit geprägt. Während Gintersdorfer und ihre deutschen Kolleg*innen stets im Handumdrehen für fast jedes Land der Welt ein Visum erhalten, scheitern die Reise-Versuche der nicht-europäischen Gruppenmitglieder häufig. Dadurch entstehe ein Ungleichgewicht, das in der Freien Szene noch immer unzureichend verhandelt würde. Die Beweglichkeit der einen hängt unmittelbar mit der Unbeweglichkeit der anderen zusammen. Diese Tatsache gilt in Theaterkreisen wie in anderen Kontexten auch. Und sie bedingt den Austausch darüber, wie wir alle miteinander leben wollen, massiv.

„Ich bin nicht frei, solange eine einzige Frau unfrei ist, selbst wenn ihre Fesseln sich von meinen unterscheiden“ – auf dieses Audre Lorde-Zitat hatte Sahar Rahimi sich in ihrem Vortrag bezogen. Sie hatte nicht nur über die großen gesellschaftlichen Unterschiede gesprochen, über die politischen und medialen Leerstellen zwischen Deutschland und dem Iran. Sie teilte auch kleine Beobachtungen. Etwa die Szene in einer iranischen U-Bahn, in der eine Händlerin Kopftücher verkaufte und selbst keines trug. Auf die Frage, warum sie das mache, antwortete sie: „weil ich Geld damit verdiene.“ Auf die Frage, warum sie selbst keins trage: „weil die Leute sich an den Anblick gewöhnen sollen.“

Vielleicht schließt sich mit dieser kleinen Geschichte ein Kreis. Vielleicht hat die Laborarbeit unterschiedlichster Künstler*innen in vergangenen Monaten gezeigt, dass eben alles mit allem zusammenhängt. Dass sich Erkenntnisse über fremde Realitäten im Unvorhergesehen verbergen. Und dass man ihnen erst auf die Schliche kommt, wenn man lange genug hinsieht. Wie hängen die Dinge miteinander zusammen? Das ist eine der zentralen Fragen, die im freien Theater immer wieder gestellt werden. In der Vielfalt der Antworten liegen die Möglichkeiten, sich aufeinander zuzubewegen: im Erschaffen von Interimsgemeinschaften, in denen Menschen mit diversen Erfahrungen sich begegnen können. Im Verhandeln von krisenhaften Zeiten, die uns größtmögliche Gedankenfreiheit und Kreativität abverlangen.