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Die Welt zu den Brettern. Warum wir auch jenseits von Krisen über Publikum sprechen sollten

By Holger Bergmann

Ein Tanz-, Performance- oder Theaterabend ohne Publikum ist entweder eine sehr elaborierte Pointe – oder aber, und das ist wahrscheinlich öfter der Fall, eine mindestens schwierige Sache für alle Beteiligten. Kein Wunder also, dass das leere Theater und das Spiel vor leerem Haus zu den stärksten Angstbildern des Betriebs zählen. Eine hybride Produktion wie Gob Squads „Show Me a Good Time“ spielt diese Angst live in sowie mit einem leeren Theater durch und zieht gerade hieraus ihre Faszinationskraft für ihr digitales Publikum. Oder wie einer der Performer sagt: „This is what an empty theatre sounds like.“

Während der Coronapandemie wurde durch die notwendige physische Abwesenheit des Publikums aber nicht nur eine Angst real, sondern auch die Frage nach dem Verhältnis und Verständnis von Darstellenden Künsten und Publikum aktueller denn je. Und vielleicht hängt dies damit zusammen, dass, wenn der Sound des Betriebs ausfällt, nicht nichts zu hören ist, sondern, ähnlich wie in John Cage’s“4‘33‘‘“, mindestens eine ganze Welt in ihrer Vielfalt und Differenz hörbar wird.

Ohne alte Diskussionen über Stadttheater und Freie Szene aufzuwärmen lässt sich feststellen, dass die letzten zwei Jahre eines besonders deutlich zeigen: Für die Darstellenden Künste bleibt es alles andere als selbstverständlich und in ständiger Bewegung, was oder wer ein Publikum ist und was es wie tut. Das gilt gerade auch für eine diverse Gesellschaft in verschiedenen, gleichzeitig ablaufenden Prozessen der Transformation und Transition: Sprechen wir also vorerst von Publika und nicht von dem einen Publikum und verstehen wir sie als fortdauernde Herausforderung der Gegenwart.

Durchlässigkeit von Rampe und Saal

Spannend und gerade auch ästhetisch fordernd sind aktuell oftmals jene Produktionen, die neue und andere Formen der Durchlässigkeit und Verhandlung von Rampe und Saal, Formate des «“One to one“ oder beispielsweise der Partizipation in digitaler Distanz erproben. „Bühnenbeschimpfung“ von Sivan Ben Yishai zieht in der Auseinandersetzung mit dem politischen Verhältnis von Bühne und Publikum die selbst- und fremdreflexive Notbremse, „Berlau: Königreich der Geister“ von Raum+Zeit begibt sich mit VR-Brillen in hybrid-theatrale Zwischenräume der Performance. „Telefon Kanon“ von She She Pop, „The Kids Are Alright“ von Simone Dede Ayivi, „Hetera Club“ von Sybille Peters oder auch „The Walks“ von Rimini Protokoll arbeiten mit Distanz und Verbundenheit, gerne auch jenseits gewohnter Räume und Formen des Spielens und Auftretens. Oder sie involvieren eben ganz andere Publika und holen dadurch erst die Welt zu den Brettern.

Alle genannten Produktionen und viele weitere machen aktuell besonders deutlich, dass die Publika der Gegenwart und Zukunft andere sein werden als das Publikum, dass „wir“ gestern zu kennen glaubten. Und sie erinnern daran, dass die Darstellenden Künste immer wieder darauf angewiesen sind, ihre Publika und das Verständnis dessen, was Zuschauen, Teilhaben oder auch Partizipieren bedeuten, stets aufs Neue zu generieren und so die Frage nach dem Politischen von Öffentlichkeit und Versammlung zu stellen.

Denn die Krise des Publikums ist nicht nur eine Krise überkommener Theaterarchitekturen, sondern auch des unbewussten bis absichtlich unwissenden Ausschlusses all jener, die nicht mit der sogenannten bürgerlichen Öffentlichkeit identifiziert werden und auch aufgrund dessen oftmals wenig mit ihr anfangen können. Gerade Teile der Freien Darstellenden Künste bringen ihre Publika deshalb immer wieder neu und anders zusammen oder auch erst hervor – temporär und dennoch anschlussfähig. Sie finden und erproben ästhetisch und spielerisch, aber eben auch organisatorisch-strukturell immer wieder auf’s Neue die Bezüge zu ihren verschiedenen Publika, experimentieren mit neuen Formen der Teilhabe und Teilnahme, die über Positionen des Zuschauens weit hinaus gehen. Sie untersuchen, was Partizipation heute sein kann.

Dies ist besonders relevant angesichts des politischen Phänomens einer Gesellschaft der Zuschauenden, das sich deutlich in Extremen wie rassistischen Übergriffen oder den Verquerdenkern zeigt. Es wäre hilfreich, unser Augenmerk auf die zu richten, die vorgeblich „nur“ zuschauen, während antidemokratische Tabubrüche geschehen oder Menschen menschenfeindlich in der Tram belästigt werden.

Als Künste der Publika können die Darstellenden Künste ihre Publika und ihr Handeln nicht voraussetzen. Sie müssen sie sich selbst vielmehr immer wieder neu riskieren, erproben, behaupten, zusammen- und hervorbringen, sich begegnen und neu erfahren lassen. Auch darin liegt ihr politisches Potential für eine Gesellschaft, die sich nicht in einer, sondern vielen gleichzeitigen Transformationen befindet und ohne unser Zutun vielleicht anders, aber nicht unbedingt besser wird. Die schon öfters konstatierte Krise des Publikums ist insofern auch eine Chance, es in seinen Beschränkungen wahrzunehmen und als Publika engagiert und spielerisch neu sowie anders zu (er-)finden.

Erschienen in: Theater heute, 02/2023