Geteilte Geschichte(n)
By Zonya Dengi
Das Erinnern an die Vergangenheit ist ein oft strapaziöser Akt. Auch in Deutschland zeigt sich, wie schwer es ist, multiperspektivische Blicke auf die Erfahrungen eines diversen Umfelds zu richten. Die Journalistin Zonya Dengi erinnert sich aus ganz persönlicher Perspektive – und nutzt die emanzipatorische Kraft, die im Erzählen der eigenen Geschichte steckt. Ihr Beitrag ist Teil einer Artikelserie, der das Programm von DIE KUNST, VIELE ZU BLEIBEN am 21. + 22. Juni in Berlin begleitet.
„Die Deutschen sind noch immer Nazis“: Nicht selten ließen meinen Eltern diesen Satz fallen. Keine Ahnung, wann sie das erste Mal von den Gräueltaten Hitlers und seiner Schergen erfahren hatten und wie detailliert ihr Wissen über die Nazi-Zeit war. Doch in meiner Kindheit, in den 1980er Jahren, hörte ich den Satz häufiger. Ich hörte ihn, wenn sie wieder einmal von Deutschen in autoritärem Ton zurechtgewiesen oder von oben herab behandelt worden waren. Oder wenn sich jemand in der Westberliner U-Bahn darüber aufregte, dass mein Vater auf dem Weg zu einer Firmenfeier mit fünf Kindern zu viele Sitzplätze beanspruchte. „Ausländerkinder“ sollten stehen, soviel war klar. Egal, wie still und brav wir uns damals verhielten – immer zogen wir die unfreundlichen Blicke und den Unmut unfreundlicher Deutscher auf uns.
Wer die Nazis waren, lernte ich in der Grundschule im Englischunterricht. Unsere Lehrerin gab uns allen englische Namen, mich nannte sie Kitty. Eines Tages kam sie mit dem „Tagebuch der Anne Frank“ in den Unterricht und fragte, wer es gerne lesen würde. Als ich abends das Tagebuch aufschlug und „Liebe Kitty“ las, fühlte ich mich sofort mit Anne verbunden. Das Foto von diesem Mädchen, das kaum älter war als ich: Es hatte eine verblüffende Ähnlichkeit mit meiner jüngeren Schwester – die gleiche Frisur, das gleiche Lächeln, fast die gleichen Zähne. Ein ähnliches Bild von meiner Schwester stand in unserer Schrankwand. So lernte ich das Schicksal der Anne Frank kennen, folgte ihren Einträgen und ihrem Leben und hatte das Gefühl, sie würde auch ein wenig von meinem Leben erzählen. Auch wenn unsere Erfahrungen gänzlich unterschiedliche waren: Etwas verband uns, das ich damals noch nicht benennen konnte. Heute weiß ich, dass es das Gefühl war, als „Fremde“ wahrgenommen zu werden.
Momente der Ausgrenzung gab es in meinem Berliner Leben einige. Es kam vor, dass deutsche Kinder und Jugendliche uns anpöbelten und uns auf offener Straße als „Scheiß Ausländer“ oder „Scheiß Kanaken“ beschimpften. Dass wir, etwas subtiler, beim Friseur oder in der U-Bahn Gespräche mit anhören mussten, wo Sätze wie „zu viele Ausländer“ und „fehlende Arbeitsplätze“ in einem Atemzug fielen. Auch an den Häuserwänden unserer Straße im Wedding las ich gekritzelte Parolen wie „Ausländer raus“. Eines Tages lief im Fernsehen die Serie „Holocaust“. Ich sah mit eigenen Augen, was die Deutschen den Juden angetan hatten. Mein Entsetzen führte mich zu dem Schluss, dass meine Eltern womöglich recht hatten: Es gab immer noch Deutsche, die Nazis waren. Deutsche, die hasserfüllt gegenüber Menschen waren, die sie als Fremde ansahen. Und die sich nicht davor scheuten, Gewalt auszuüben. Eines Nachts kam mein Bruder mit blutiger Nase nach Hause – er war in der U-Bahn von rechten Jugendlichen attackiert worden.
Verbunden mit der kurdischen, türkischen und deutschen Geschichte
Ich erlebte in Deutschland auch eine andere Form der Ausgrenzung. Als das Land 1961 mit der Türkei das Anwerbeabkommen abschloss, nutzten auch viele kurdische und alevitische Familien die Chance, herzukommen. Den einen war es in der Türkei verboten worden, in der Öffentlichkeit ihre Sprache zu sprechen, den anderen, ihre Religion zu leben. Meine Schwester und ich sind in der Türkei noch kurz zur Schule gegangen. Aus einer kurdischen Familie kommend, war die Einschulung für uns ein Kulturschock gewesen: Von einem Tag auf den anderen wurde uns verboten, unsere Muttersprache zu sprechen. Unsere Lehrer*innen wussten, dass die meisten Kinder in der Schule kurdischer Herkunft waren, doch darüber gesprochen wurde nicht. Niemand erklärte uns, warum es ein Tabu war, uns als Kurd*innen zu „outen“ oder Kurdisch zu sprechen, aber wir verstanden die Situation auch ohne Worte. Ich war nicht die Einzige, die mit der türkischen Sprache und dem Kult um Staatsgründer Kemal Atatürk haderte, der in allen Schulen des Landes gepflegt wurde; jeden Tag mussten wir ihm beim Morgenapell huldigen. Unterdessen verschlimmerte sich die politische Situation um uns herum dramatisch: Auf den Straßen wurde geschossen, Menschen verschwanden über Nacht, in den Gefängnissen wurde gefoltert. Es wurde immer deutlicher, dass wir als Kurd*innen unsere wahre Identität nicht offenbaren durften und in Gefahr waren.
Als mein Vater uns im Oktober 1978 mit unserer Mutter nach Deutschland holte, waren wir erleichtert und glücklich, in Sicherheit zu sein. Zwei Jahre später sollte ein Militärputsch den Alltag in der Türkei noch stärker belasten. Doch auch in Berlin schien es keinen Platz für unsere kurdische Herkunft zu geben. Unsere türkischsprachigen Mitschüler*innen hänselten meine Geschwister und mich wegen unseres Akzents und beschimpften uns als „schmutzige Kurden“. Für die Deutschen dagegen waren wir die „Türkenkinder“, die in „Ausländerklassen“ gesteckt wurden.
Nach dem Militärputsch wurde vielen kurdischen und alevitischen Einwanderer*innen klar, dass sie nicht mehr in die Türkei zurückkehren, sondern ihren Kindern in Deutschland eine bessere Zukunft ermöglichen wollten. Damit war auch klar, dass sie sich mit Diskriminierung und Ausgrenzung von zwei Seiten auseinandersetzen mussten. Zum einen durch die Mehrheitsgesellschaft, zum anderen durch ihre türkischstämmigen Landsleute. Sie erlebten damals, was mittlerweile einen Namen hat: intersektionale Diskriminierung.
Seit der Ankunft der ersten Arbeitsmigrant*innen aus der Türkei nach Deutschland sind inzwischen 60 Jahre vergangen. Doch für ihre spezifischen Ängste und Sorgen hatte die deutsche Mehrheitsgesellschaft lange kein Ohr. Erst allmählich finden sie einen Platz in der deutschen Erinnerungskultur – traurigerweise vorwiegend als Opfer von rassistischen Übergriffen wie den Anschlägen von Mölln, Solingen und Hanau oder der Mordserie des NSU.
Intersektionales und paralleles Erinnern
Die Erfahrung, in Deutschland Rassismus erlebt zu haben, verbindet Türk*innen, Kurd*innen und Alevit*innen gleichermaßen. Doch die unterschiedlichen Erfahrungen und Geschichten geraten dabei aus dem Blick. Viele Menschen, deren Eltern und Großeltern in ihren Heimatländern Minderheiten waren, tragen spezifische Erfahrungen mit sich. Viele Kurd*innen etwa erinnern sich jedes Jahr daran, dass der irakische Diktator Saddam Hussein 1988 die Stadt Halabscha mit Giftgas angriff und binnen Stunden das Leben tausender Kurd*innen auslöschte. Für viele waren auch die 1990er Jahre traumatisch, als sich in der Türkei das türkische Militär und die Kämpfer der „Kurdischen Arbeiterpartei“ PKK – die ebenfalls blutige Anschläge verübte – erbittert bekämpften. Hilflos schauten sie von Deutschland aus zu, wie die Dörfer ihrer Familien entvölkert wurden und Angehörige getötet oder ins Gefängnis gesteckt wurden. Ähnliches wiederholte sich vor zehn Jahren, als der IS weite Teile des Iraks und Syriens eroberte, jesidische Männer ermordete, Frauen und Mädchen entführte und sexuell missbrauchte. Die Spannungen aus der Türkei schwappten jedes Mal auch an deutsche Schulen über, und die meisten Lehrer*innen waren damit überfordert, sind es bis heute.
Verheerende Ereignisse wie diese brennen sich in das kollektive Gedächtnis der jeweiligen Gruppen ein. Doch sie haben noch immer wenig Raum in den deutschen Erinnerungskulturen – und vor allem Kinder im Schulalter werden durch das öffentliche Ausblenden jener Erfahrungen allein gelassen. Einzelne Menschen aus dem Kulturbetrieb haben begonnen, diese Geschichten zu verarbeiten und damit aufzuarbeiten. Besonders junge Menschen mit Migrationsgeschichte schreiben heute Romane und Theaterstücke, malen Bilder oder drehen bemerkenswert gute Filme, die Erfahrungen jenseits der Mehrheitserzählungen sichtbar machen. Sie versuchen, ihre komplexen Geschichten mit der deutschen Realität zu verbinden. Gerade Minderheiten, die in ihrer alten Heimat kaum Möglichkeiten hatten, ihre Erfahrungen zu teilen. Die aktuellen politischen Entwicklungen und das gesellschaftliche Klima verdeutlichen in Zahlen und Fakten, dass die Geschichte(n) Deutschlands noch immer sehr einseitig wahrgenommen werden. Es ist an der Zeit, dass viel mehr Erzählungen und Erfahrungen als Teil der deutschen Erinnerungskultur wahrgenommen werden. Dass es öffentliche Orte, Museen, Schulbücher und Curricula gibt, die die Diversität sichtbar machen und sie als Teil der Geschichte dieses Landes zeigen.
Dieser Text ist Teil einer Artikelserie, die das Programm von DIE KUNST, VIELE ZU BLEIBEN begleitet. Elisabeth Wellershaus betreut die Reihe, in der sie mit Autor*innen wie Esther Boldt, Nora Burgard-Arp, Zonya Dengi oder Mirrianne Mahn auf offene und geschlossene Räume in einer fragilen Gesellschaft blickt.
Am 21.6. stellt das Bündnis Die Vielen ihre Arbeitsweisen vor und lädt ein, gemeinsam über Formen des demokratischen Miteinanders nachzudenken. Am selben Tag sprechen die Musikerin Sookee, die Autorin Şeyda Kurt und die Philosophin Luce deLire über solidarische Gesellschaften, die politische Kraft des Hasses und über die Rolle der deutschen Rechtsprechung in den 1950er und 60er Jahren. Linda Fisahn und Christoph Rodatz bieten einen Workshop zum Thema Erinnerungskulturen an. „Allianzen und Solidaritäten gegen Antisemitsimus“ diskutieren zu Beginn des Tages Shlomi Moto Wagner (Performance-Künstler, Opernsänger )& Heinrich Horwitz (Regisseur*in, Choreograf*in, Schauspieler*in), Prof. Marion Hirte (Dramaturgin, UdK Berlin), Carolin Millner (Theaterregisseurin, Eleganz aus Reflex), Noam Brusilovsky (Theater- und Hörspielmacher), Shelly Kupferberg (Journalistin, Autorin) im Gespräch mit Dr. Felix Klein (Beauftragter für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus). Und am 22.6. geht es in einem Monolog von András Dömötör um die Lehren, die sich aus Victor Orbáns Aufstieg in Ungarn ziehen lassen.
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DIE KUNST, VIELE ZU BLEIBEN - Programm am 21. + 22. Juni in Berlin: Sophiensaele + Chamäleon Theater