Projektförderung (Feb 2020)

Date of the jury meeting: 11 March 2020

Projects funded: 20

Nach dem Mauerfall war Berlin ein Labor für künstlerische Experimente. Heute sind seine Freiflächen das neue Eldorado des Immobilienmarktes. Wie in einer 1 km2 großen Petrischale kann die Ruine der Berliner Brommy Brücke als letztes Stück freies Land nun auch stellvertretend für viele urbane Entwicklungstrends weltweit herangezogen werden. Um eine erweiterte Reflexion und Dialoge im Stadtraum anzustoßen, werden die Straßen von Friedrichshain-Kreuzberg – angelehnt an das Modell der antiken Festspiele – zur Bühne und die Freiflächen des neuen Berlins künstlerisch ausgetestet.

BLOCK Nuovo Coviale, als dritte Produktion der Reihe, befasst sich mit einem der längsten Blocks Europas: fast einen Kilometer lang, mit rund 1200 Wohneinheiten. 1972 begann der Bau. 1982 noch immer unvollendet, aber von Bewohner*innen besetzt, gab es 2003 es Pläne das Gebäude abzureißen, da es ohne Anbindung an die Stadt Rom als „vergessen” gilt. Mit erheblichen sozialen Problemen und hoher Kriminalitätsrate belastet, kann die Realität des Nuovo Corviale als Allegorie für einen gesellschaftlichen Zustand Europas gelesen werden, in dem sich immer mehr Menschen als nicht-zugehörig und abgehängt fühlen.

„Complex of tensions“ ist eine Performance der Schwarzen männlichen Emanzipation: Die Ordnungen von Geschlecht und Hautfarbe sind soziale Konstrukte. Schwarze Männlichkeit ist ein gesellschaftliches Produkt, ein „Extrem“, ein Gefängnis. Auf Grundlage zahlreicher im Vorfeld geführter Interviews suchen zwei Performer auf der Bühne die Begegnung, jenseits der antrainierten Verrenkungen, jenseits der Verletzungen, jetzt des Drucks. Lässt sich der Raum für das Individuum erweitern, für die Begegnung?

„Die neue Performance” fragt, wie die Begriffe „alt” und „neu” gesellschaftlich konstruiert und politisch bzw. ökonomisch instrumentalisiert werden. Hierfür errichten die Performer*innen einen Jungbrunnen, in den sie als ewige Kinder steigen und als Grandes Dames* wieder herauskommen. Sie waschen sich nicht nur von ihren Falten rein, sondern auch von herkömmlichen Annahmen eines linearen Zeitverständnisses, Vorurteilen gegenüber Menschen aufgrund ihres Alters und dem Imperativ des Neuen.

LIGNA adaptiert Brechts „Die Rundköpfe und die Spitzköpfe“ – dessen erste Auseinandersetzung mit dem Faschismus. Das Stück stellt das Verhältnis von Klasse, Race und Geschlecht den zentralen Konflikt dar. Brecht folgend, wird das Publikum mit Masken versehen, die die Gesichter anonymisieren, die Augen aber sichtbar halten. Im Spiel der Masken soll erforscht werden, wie die Unterschiede, auf denen Identitätspolitik gründet, produziert werden. Was für die Race gilt, ist ebenfalls als Reflexion der Geschlechterverhältnisse zu lesen.

Die Biotope unserer Städte finden sich ausgetrocknet vom Sonnensturm des billigen Geldes. matthaei & konsorten wenden sich dem feucht Schlammigen zu und erzählen von urbanem Gedeihen als Wirtsverhältnis mit seinen Krankheitserregern, als wabernde Dynamik von Ein- und Ausschlüssen. So wie Stadt immer schon mit Krankheit assoziert wird, evoziert sie Diskurse ihrer Heilung: Von medizinisch/sozialer „Hygiene“ bis zu aktuellen Kämpfen für Vielfalt gegen das ökonomische Diktat. Wo die Plattenbauten über Rieselfelder gewachsen sind, dringen die Mitarbeiter*innen von Start-Ups ins alte Biotop der Arbeiterklasse.

„Behördengang” ist ein performativer Audiowalk für alle, die strafmündig sind, oder es bald werden. Zuschauer*innen verschiedenen Alters begeben sich auf den Weg vom Frankfurter Behördenviertel durch die Säle und Gänge des Oberlandesgerichts und ins ehemalige Polizeigefängnis Klapperfeld. Über Kopfhörer lauscht das Publikum Collagen aus Filmmusik, dokumentarischem Material und Geschichten von Urteilen, Recht und Unrecht, Schuld und Unschuld – ausgehend von der Fragestellung, in welchem Verhältnis die Institutionen Gericht und Theater zueinander stehen.

Der dritte Teil des Zyklus „DER SOZIALE KÖRPER“ verhandelt den rituellen Gebrauch von Gemeinschaftsbildung durch zeremonielle Tänze, zu denen jahrhundertelang die Reigentänze gehörten. Insbesondere das kindliche Bedürfnis nach Ritualen spiegelt sich im Wunsch nach Handlungswiederholung. „REIGEN“ greift dieses entwicklungspsychologisch basale Interesse auf und destilliert aus gemeinschaftsstiftenden Tanzformen, wie etwa Volkstänzen, choreografisch-zeitgenössisches Material.

In einer theatralen Installation wird mit Mitteln des Objekttheaters und des Hörspiels ein Erfahrungsraum für Zustände der Schlaflosigkeit zwischen Wachen und Schlafen geschaffen. Einzeln, mit einem Kopfkissenbezug und einer Pille, betreten die Zuschauer*innen die kleine Schlafkammer und legen sich ins Bett. Die Nachttischlampe geht aus und langsam beginnen Geräusche und Bilder im halbdunklen Raum aufzusteigen. Uhren, Schubladen und Bücher erwachen zum Leben…

Diese Arbeit ist eine politisch-philosophische Denkwerkstatt für Menschen ab 13 Jahren. In einer intimen, direkten Situation zwischen Vorlesungsraum, Talkshow und Wohnzimmer ist die politische Theoretikerin Hannah Arendt Gegenstand und Gastgeberin zugleich. Die Regisseurin Hannah Biedermann selbst und ein*e performende*r Techniker*in erspielen sich Fragmente des Lebens und Denkens von Hannah Arendt. Schließlich entsteht eine multimediale Performance, die den Theaterraum als Ort der Begegnung und Verhandlung begreift.

In einer geheimen Forschungsstation wird ein fremdes Wesen untersucht. Ein Forschungsteam ist zuvor bei dem Versuch gescheitert, mit ihm zu kommunizieren – nun müssen die 15 Spieler*innen herausfinden, was der Gruppe widerfahren ist. Wichtigstes Hilfsmittel sind dabei fünf Augmented-Reality-Brillen, auf denen die Erinnerungen der Forscher*innen gespeichert sind. Mit ihnen lässt sich der Theaterraum um eine zusätzliche Ebene erweitern, die ein hochkooperatives Spiel mit Wissenshierarchien, individueller Wahrnehmung und Kommunikation ermöglicht.

Zwei unterschiedliche, wenn nicht sogar gegensätzliche Bewegungskulturen und Körperkonzepte werden hier zusammengeführt: Zum einen das Muay-Thai (Thai-Boxen), eine der härtesten (männlichen) Kampfarten weltweit, und zum anderen das romantische Ballett, das dem Konzept des immateriellen, ätherischen (weiblichen) Körpers folgt. Durch die Verschmelzung sollen neue Formen der Verkörperlichung, wie auch neue Identitätskonstruktionen, die der Idee der Transkulturalität folgen, generiert werden.

„Love Song" nähert sich Nationalhymnen zunächst aus der Perspektive von Liebesliedern. Daniel Dominguez Teruel komponiert bis zu acht Variationen/Remixe/Cover der deutschen Hymne und von globaler Musik des 15. Jahrhunderts bis zu zeitgenössischer Pop-Musik, die inhaltlich auf Liebes-, Kampflieder und Karnevalsschlager verweisen. In einer Art Installation werden sie als Tableaux Vivants übersetzt und das Publikum, das sich frei zwischen den Settings bewegt, wird selbst zum Teil dessen.

Zusammen mit der Autorin Nino Haratischwilli wird ein Stück für Kinder ab 9 Jahren erarbeitet. Unterschiedliche Lebenswelten weltweit werden anhand der Reise eines Spielzeuglöwen quer über drei Kontinente erfahrbar für die jungen Zuschauer*innen. Globale Zusammenhänge sollen sichtbar und verständlich werden. In Bangladesch, wird der Stoff-Löwe erschaffen, verkauft wird er nach Europa, per Flucht kommt er nach Afrika. Wirtschaftliche Bedingungen, soziale Unterschiede, andere Realitäten bestimmen die Lebenswelt der Kinder global. Dazu kommen das subjektive Empfinden, Träume und Hoffnungen.

Drei Leben. Drei Alter. Drei Körper. Ein 60-Jähriger, ein 30-Jähriger und ein 10-Jähriger treffen aufeinander und befragen sich: zum Kind sein, zum „mitten im Leben“ stehen, zum alt werden. Auch zum männlich sein. Was bedeutet es, heute, früher und in Zukunft? Wie verändert die Zeit unser Bild davon, Kind, Vater oder Großvater zu sein? Und wie schreibt sie sich analog in unseren Körpern fest? Welche Möglichkeiten bietet die Digitalisierung, zukünftige oder vergangene Körperbilder zu simulieren, die über die Gegenwart hinausweisen?

NO LIMIT ist eine Performance von Künstler*innen mit und ohne Behinderung. Mit dem NO LIMIT BALLET (zwei Gebärdensprachdolmetscher*innen, einer Audiodeskriptionistin und einem Musiker) befragt Angela Alves das Label „Inklusion“ und stellt die Verhältnisse auf den Kopf: hier bestimmt die „behinderte Mehrheit“ die Norm. (Über)-Blendungen, Umkehrungen, Übersetzungen und Missverständnisse prägen die Show und treiben den Charity-Charakter von „inklusiven“ Veranstaltungen auf die Spitze. Die Zuschauer*innen werden ihre Blicke und Zuschreibungen an „diverse Körper“ schnell überprüfen.

Wut, eine Basisemotion, wird meist mit aggressiven Reaktionen in Verbindung gebracht und deshalb verleugnet und verachtet: zu Hause, im Kindergarten, in der Schule. Wütende Kinder werden als aggressiv abgestempelt. „Schlagsahne“ ermutigt, Wut als wichtige Emotion zu erkennen, zu akzeptieren, zu äußern, zu kommunizieren. „Schlagsahne“ wird durch einen körperlichen Ansatz neue Zugänge zu Wut und Aggression finden: Auf der Bühne wird geschlagen, geschlagen, geschlagen. Nur kein Mensch. Dafür aber: Sahne, Räder und natürlich ein Schlagzeug.

„Tiere in der Stadt“ ist ein Straßentheaterprojekt mit Figuren auf der Suche nach dem wilden Ich. „Das Tier ist das Andere in uns. Der Mensch ist das Tier, das seine Animalität verleugnet.“, schrieb Georges Batailles. Was genau ist dieses Andere? Und wie sieht das aus? Inspiriert von Shaun Tan`s „Reise ins Innere der Stadt“ und dem Fotokünstler Charles Freger soll mit Figurentheater, Musik, Masken und Material im städtischen Raum nach Narrativen gesucht werden, die das Publikum in Interaktion mit der animalischen Seite ihres Selbst führen.

WIR! nimmt die Volksabstimmung 1920 über die deutsch-dänische Grenze zum Anlass, kollektive und nationale Identitäten zu befragen. Die interaktive site specific-Performance führt das Publikum durch die Geschichte der Volksabstimmung, den „Kulturkampf“ und lässt sie in der „Qual der Wahl“ sowohl die Sicherheit als auch die Willkür und Absurdität fester Identitäten erfahren. Dabei werden immer neue Grenzen zwischen den Zuschauer*innen gezogen.

„prom night“ ist ein feministisches Paartanzevent, queerer Standardtanzkurs, performativer Abschlussball und Macht-kritisches Gesprächsformat im Tanz. Es ist die queerfeministische Zukunftsutopie der Tanzveranstaltung als ein interaktives Theaterformat, bei dem die Zuschauer*innen zu Livemusik miteinander tanzen und von einer weiblichen, queeren Performerin durch den Abend geführt werden. Popkulturelle Bilder des heterosexuellen, weißen, tanzenden „Traumpaares“ werden lustvoll und kritisch hinterfragt, verändert, verqueert.