Konzeptionsförderung 2020

Datum der Jurysitzung: 12. März 2020

Geförderte Vorhaben: 6

Die Kritik an entfremdeter Arbeit, die lange im Zentrum des Kampfes von Arbeitnehmer*innen stand, wurde inzwischen vom Kapitalismus selbst aufgegriffen und hat zu einem neuen Ausmaß prekärer Beschäftigungen beigetragen. Der seit Jahrzehnten anhaltende Trend, eine enge Identifikation von Arbeiter*innen mit ihrer Arbeit herzustellen, wie es in sogenannten Start-ups und insbesondere in künstlerischen Berufen üblich ist, hat keineswegs zu einer Lösung des Problems geführt. Wenn man nicht davon träumen will, dass Entfremdung verschwinden möge, muss man einen positiven Begriff von Entfremdung schaffen, gerade in der Kunst, wo das Dogma selbstverwirklichender Arbeit besonders dominant ist. In drei aufeinander aufbauenden Projekten soll die Entfremdung in der Arbeitswelt in den Blick genommen werden. Von den Berührungspunkten der eigenen, künstlerischen Arbeit mit dem Thema ausgehend, wird versucht ein positives Verständnis von Entfremdung zu entwickeln und zu praktizieren. Ein Verständnis fröhlicher Kritik, das bestimmte Zumutungen des modernen Lebens nicht bejammert, sondern spielerisch und unterhaltsam auf gewisse Paradoxien des gesellschaftlichen Zusammenhangs hinweist.

Für drei Jahre lässt die Plattform Rotterdam Presenta die Spezies Mensch aus dem Scheinwerferlicht zurücktreten und versucht die Performativität des Raumes selbst, seiner Klänge, Oberflächen und Stoffe, Architekturen und Artefakte einzufangen. Das Kollektiv erarbeitet 2020 mit „Gravity Piece“ eine performative Installation über die Eigendynamik von Schmutz. Die zweiteilige Arbeit „Making Forms“ – „Making Forms 1: Performative Archaeology“ (2021) und „Making Forms“ (Musikperformance 2022) – beschäftigt sich mit dem Phänomen, wie sich menschengemachtes Material, etwa der Kunststoff PVC, in die Gesellschaft und den Planeten einschreibt und zum Mitgestalter von Kunst und Lebensraum wird. Welche Akteure prägen das Zusammenleben in unserer Gesellschaft? Wem steht die eigentliche Erzählhoheit unserer Zeit zu? Wie können die Protagonist*innen unseres Theaters aussehen? Rotterdam Presenta (Düsseldorf) besteht aus Theatermacher*innen und Performance-Künstler*innen. Sie verstehen sich als mobile Plattform für interdisziplinäre Kollaboration zwischen Theater, Performance und bildender Kunst. Ihre Arbeiten nehmen den Bühnenraum nicht als gegeben an, sondern erstellen eigene, flüchtige Architekturen – darin und darüber hinaus.

In Zeiten von Hass und Angst richten Markus&Markus in ihrer Konzeption den Blick auf den Menschen als soziales Wesen. Vom großen Wunsch nach zwischenmenschlichen Verhältnissen und dem Bedürfnis, Mitglied einer Gemeinschaft zu sein, erzählt „Die Brieffreundschaft“ (2021): Der Protagonist wartet in einem US-Gefängnis auf seine Hinrichtung, der Briefkasten ist seine letzte Verbindung zur Außenwelt. In „Kleine Welt“ (2022) fordert das Kollektiv die Theorie heraus, die besagt, dass wir jede Person auf der Welt über sieben Ecken kennen. So stoßen sie eine Kontaktkette an, um schließlich bei der Affenforscherin Jane Goodall zu landen und von ihr zu erfahren, warum wir einander verletzen, ausgrenzen, obwohl wir uns doch gegenseitig brauchen. Für das Langzeitprojekt „Das Dorf“ (Premiere geplant ab 2027) werden Markus&Markus schließlich Teil eines kleinen, durch den Bergbau vom Abriss bedrohten kleinen Dorfes. Sie erarbeiten ein Portrait des Dorfes mit seinem über Jahrhunderte gewachsenen sozialen Netz, das nun auseinandergerissen wird und in dem sich wie unter einem Brennglas die menschliche Gemeinschaft mit all ihren Qualitäten und Abgründen sowie ihrem sozialen Verhalten konzentriert.

Human being @ risk: Die Digitalisierung hat zum größten Umsturz gesellschaftlicher Prozesse seit der Industriellen Revolution geführt – und das in dem kleinen Zeitraum von bisher knapp 20 Jahren. Meinhardt & Krauss wollen in den drei konzipierten Stücken die Auswirkungen der Digitalisierung und Technisierung, fokussiert auf unterschiedliche Altersgruppen, untersuchen. Das Kinderstück „A.L.I.C.E. lost in Cyberland“ taucht ein in das „Digitale Kinderzimmer“ und thematisiert Auswirkungen und Folgen von immer früherem Medienkonsum, Geräte-Rausch und Gaming. „SACRE 4.0“ beschäftigt sich mit Jugendlichen, die ihre Kontakte zunehmend auf Soziale Netzwerke outsourcen, über Smartphones kommunizieren und ihre Identität digital kreieren und verwalten. Das dritte Stück, „REPLIKA“, skizziert die Angst der Erwachsenen, in der digitalen Arbeitswelt von Maschinen ersetzt zu werden. Das Ensemble bewegt sich mit seinen Produktionen in digitalen und interaktiven Welten und arbeitet zudem intensiv mit Robotik. So ergibt sich für Meinhardt & Krauss die Dringlichkeit, den Begriff der „Animation“ im Figurentheater vor dem Hintergrund der Technisierung unserer Gesellschaft neu hinterfragen und thematisch, technisch und formal die Vision eines „Figurentheater 4.0“ entwickeln.

Kainkollektiv entwickeln in ihrer Konzeption „Songs of Care. Die Cyborg Operas“ drei Musiktheater-Performances, die im Gegenteil zur katastrophischen Kakophonie der Gegenwartspanik und Apokalypse-Diskurse eine andere Stimme wieder hörbar machen sollen: die oft überhörte Stimme der Sorge, der voice of care. Dabei geht es ihnen um eine vertiefende Weiterentwicklung feministischer und postkolonialer Perspektiven ihrer ästhetischen Arbeit: Der in die postkoloniale Lage verstrickte Mensch, der versucht, dieser Lage und damit sich selbst auf die Schliche zu kommen, ist, was sie „Cyborg“ nennen wollen. In den Vorhaben „Kainsolo“ (2020), „Kassia/Hildegard/Maria“ (2021) und „Die Sorgetragenden“ (2022) werden sie Räume für gemeinsame Studien, Übungen, Rituale, Gesten, Bewegungen und nicht zuletzt Lieder eröffnen –Aushandlungszonen, die eigene Positionierungen und Verstrickungen in der Welt sichtbar, hörbar, begehbar, vielleicht sogar veränderbar machen.

Seit 2011 erarbeitet das verschieden-fähige, post-inklusive Performance-Kollektiv dorisdean kontinuierlich Theater zu Fragen des menschlichen Zusammenlebens, Kommunikation und des Unbehagens in gesellschaftlichen Situationen und Ritualen. Inspiriert von der alten hawaiianischen Ritualarbeit Ho’oponopono, die die Welt als verbundene Ganzheit sieht, nehmen dorisdean in den drei Jahren der Konzeptionsförderung vier Aussagen als dramaturgischen Rahmen: In „Thank you – I love you“ laden sie Künstler*innen für Workshops ein, bilden sich weiter, explorieren und befragen mit ihnen zusammen die Verbindung von Kunst und Behinderung. Es entstehen fünf Positionen in denen sie auch ihre bisherige kollektive Arbeitsweise hinterfragen: Wer darf was entscheiden? „Fuck you“ wird sich inhaltlich mit Wut und Schmerz sowie deren Überwindung beschäftigen, während das Kollektiv in „Please forgive me“, einer Überschreibung des Musicals „Jesus Christ Superstar“, seinem Verhältnis zu Glauben und populären Identitätskonstruktionen im christlichen Kontext nachspürt. Mit „I am sorry“ wird das in den vorigen Arbeiten Erlernte und Erfahrene gemeinsam auf die Bühne gebracht: Unter dem Titel „Nekrologe 22“ erarbeiten dorisdean ein post-inklusives Musiktheater mit Kompositionen für Gesang und elektronische Musik.