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Auf Grashalms Schneide

By Sandra Hetzl

Sandra Hetzl hat sich mit Ming Poon und Ariel Orah getroffen, um über das Labor „Mutating Kinship – Lab for Asian Diaspora Artist-Led Initiatives“ zu sprechen. Eine Begegnung in der Gorki-Kantine.

LABOR – Mutating Kinship – Lab for Asian Diaspora Artist-Led Initiatives

Verbarrikadiert hinter dem aufgeklappten Laptop auf meinen Knien, sitze ich im Regionalzug vom Stadtrand Richtung Stadtmitte. Gleich treffe ich Ming Poon und Ariel Orah. Wir sind in der Gorki-Kantine verabredet. Auf dem Weg dorthin scrolle ich durch das zweisprachige, bunte, liebevoll gestaltete Dokumentations-PDF, das ihr fünftägiges artist lab dokumentiert. „Insgesamt 42 miteinander verbrachte Stunden. Viele Pausen. Unzählige Tassen Kaffee. 1 Million Post-it-Zettel.“ Neun Künstler*innen, die sich bei „Mutating Kinship – Lab for Asian Diaspora Artist-Led Initiatives“ begegnet sind und sich mit dem Leben in der Diaspora auseinandergesetzt haben.

Was artist-led initiatives sind, weiß ich gerade noch, aber bei kinship fängt es schon an. Vielleicht, weil es mich – Berufskrankheit – vor Übersetzungsfragen stellt: Ist kinship nicht eigentlich viel breiter zu verstehen als Verwandtschaft, wie es im PDF übersetzt steht? Bei den meisten Textbeispielen, die ich im Netz finde, scheint die Bedeutung eher in Richtung einer Verwandtschaft der Seele, einer Affinität zu gehen. Wie könnte man es sonst übersetzen? Ich schicke die Frage an einen befreundeten Lyriker, der auf Englisch schreibt und er antwortet prompt: „My kin = my extended people; my family, my tribe, my fellows, my friends, my partners. It’s the largest possible extent of family, in all its variations, instances and kinds.“ Okay, ich übersetze es am Besten gar nicht.

Aber was mutiert hier eigentlich, und warum? Was bedeutet Asian diaspora? Mit diesen Frage haben sich auch die Lab-Teilnehmer*innen beschäftigt, wie ich aus dem PDF erfahre: „Wo gehören wir hin? Asien? Können wir uns bitte ein wenig kritisch mit dem Begriff auseinandersetzen? Was ist mit Pan-Asianismus?“ „Ja, wo gehören wir hin? Wie definieren wir ‚asiatisch’?“ „Wie können wir uns als Asiat*innen bezeichnen, wenn wir hier aufgewachsen sind?“ „Wo gehören wir hin? Hierher? Herkunftsland? Beides? Weder noch? Ins Dazwischensein?“

Mit letzterem kann ich, die zwischen Sprachräumen lebt und arbeitet und adoptiert ist, doch einiges anfangen. Als Versuch, einen persönlichen Anker in den Themenkomplex des Labs zu werfen, überlege ich, Ming und Ariel zu fragen, ob unter den Teilnehmenden jemand war, der oder die adoptiert ist – verwerfe die Frage aber sogleich, da sie die Privatsphäre der abwesenden Labteilnehmer*innen verletzen würde. Dabei wäre es ein interessanter Ausgangspunkt für unser Gespräch. Weil er grundlegende Fragen über das Wesen der Diaspora, über Vereinzelung und Kinship auf die Spitze treiben würde. „Was wir machen, geht doch weit über Essen oder Feierlichkeiten hinaus“, heißt es im PDF. „Es geht um kollektive Erinnerungen, um Ängste und Empathie. Ist das nicht alles mit kinship und einem Gefühl der Zugehörigkeit verwoben?“ Mit diesen Sätzen im Kopf steige ich aus der Bahn.

Ich bin ein bisschen früh dran. Außer mir und einem vertrauten Gesicht hinterm Tresen sitzt bislang nur eine Familie in der Kantine, die tendenziell asiatisch aussieht. Da sind ein Enkelkind, ein Großelternpaar und ein junger Mann, der wohl der Vater ist. Ich blicke kurz in seine Richtung und er in meine, doch er sieht durch mich hindurch und macht nicht den Eindruck, als warte er auf jemanden. Als Ming in der Kantine eintrifft, begrüßt er den Mann. Es ist Ariel – zusammen mit seinem Sohn und seinen Eltern, die gestern aus Indonesien angereist sind.

Ming und Ariel erzählen, wie es zu ihrem Lab kam. Wie Ariel die Ausschreibung sah, und Ming eigentlich viel zu beschäftigt und erschöpft war, um sich damit zu befassen. Wie Ariel ihn dann doch überredete und wie sie den Antrag für das Lab am Tag der Antragsfrist nach einem langen Probentag in nur vier Stunden schrieben. Für das Warum holen die beiden etwas weiter aus. Neben den Motiven, die sie künstlerisch ohnehin beschäftigen – Kinship, Nachhaltigkeit und Kunst als soziale Praxis – streift ihre Erzählung die koloniale Vergangenheit und die postkoloniale Gegenwart Singapurs, Indonesiens und, allgemeiner, Asiens. Sie handelt von den Geschichten des Herkommens und Hierbleibens, an deren Anfang ein „sehr weißer, kolonialer Traum“ von westlichen Studienabschlüssen und Selbstoptimierung steht, der jedoch seinen Preis fordert und bald kompromittiert wird von Lebenszeit fressenden Anpassungsmaßnahmen – dem normierten Erwerb von Sprachkenntnissen oder dem Unterzeichnen unbefristeter Arbeitsverträge für Jobs, die man nicht will, aber braucht, um im Gegenzug eine Niederlassungserlaubnis zu erhalten.

Sie erzählen davon, wie sie einander kennenlernten, wie sie sich austauschten und feststellten, wie wichtig und wohltuend so ein Austausch ist. Es folgte eine Reihe von Ereignissen, die die Dringlichkeit einer Vernetzung von Künstler*innen der asiatischen Diaspora zuspitzten: Im Februar 2020 das rassistische Massaker in Hanau, im März 2020 der Beginn der Pandemie, zwei Monate später der Mord an George Floyd und der Beginn der weltweiten Bewegung Black Lives Matter. Im März 2021 dann ein weiteres Massaker: die Atlanta Spa Shootings, bei denen sich der Hass auf asiatisch gelesene Menschen, der während der Pandemie einen neuen Höhepunkt erfuhr, aufs Widerwärtigste entlud.

Daraus folgte die Protestbewegung Stop Asian Hate, die Berlin erreichte und bei deren Demos Ariel viele andere asiatische Künstler*innen, Kulturarbeiter*innen und Aktivist*innen kennenlernten, darunter auch die späteren Lab-Teilnehmer*innen. All dies fiel zusammen mit einem Moment, als nach vielen Jahren in Deutschland die Herausforderungen der Anpassung passé, die Forderungen des „europäischen Traums“ abgehakt, eventuelle Kinder geboren waren und die beiden innehielten und sich fragten: Was kommt jetzt? Was bedeutet es, in diesem Moment hier zu sein? So entstand die Idee zu Mutating Kinship.

„Es gibt so viele Gründe dafür, warum wir hergekommen sind, warum wir hier sind, warum wir geblieben sind,“ sagt Ariel. „Diese Gründe galt es gemeinsam zu analysieren, damit wir eine Stimme bekommen.“ Eine Stimme, der es in den fünf Tagen des Labs gelungen ist, ein sehr konkretes Bedürfnis zu artikulieren und ihm einen Namen zu geben: CRASH.

CRASH ist ein Akronym und steht für Conflict Resolution and Accountability Safe House. Es ist die im Lab entstandene Idee eines Support-Netzwerks, das sich die Konfliktlösung innerhalb marginalisierter Communities zur Aufgabe macht. „Der Antrag für die Finanzierung ist gerade raus!“, sagen die beiden grinsend.

Aber was hat das alles mit dem Mutieren zu tun, frage ich? Ist es das Erleben von kinship, das mutiert, wie einige der Künstler*innen im PDF sagen? Weil es bei diasporischen Künstler*inneninitiativen häufiger vorkommt, dass Leute nach einer Weile wieder gehen? Weil sie vielleicht ohnehin nur temporär hier waren, oder an irgendwas gescheitert sind – ein Umstand, der es insgesamt schwieriger macht, dass Zusammenarbeit akkumuliert?

Auch, sagen Ming und Ariel, aber nicht nur. Mutieren könne auch ein Virus, das zum Vehikel für Ablehnung und Hass gegenüber Asiat*innen wird. Geteilte Traumata schweißen zusammen, es folgt kinship. Während man bei queerer kinship, die historisch lange im Verborgenen stattfand, oft von einer Erweiterung des Familienbegriffs spricht, sei kinship in der diasporischen Community mehr als erweiterte Verwandtschaft. Eher eine Mutation. „Und mutieren bedeutet, sich anzupassen, ohne selbst der Wirt zu werden“, fügt Ming eine weitere Bedeutungsebene hinzu.

Er erzählt, dass die Sache mit dem Mutieren schon lange ein Motiv seiner Arbeit sei. Er interessiere sich für weed, Unkraut. Weil es so widerstands- und anpassungsfähig ist, so stark, dass es, wie es heißt, nach einer nuklearen Katastrophe das Erste ist, was wieder sprießen würde. Weil es so unscheinbar und peripher und unausrottbar ist. Da fällt mir auf: Ist es nicht interessant, dass die Übersetzung von weed sowohl Kraut, als auch Unkraut sein kann? Und ist es nicht bemerkenswert, dass die gängige Bezeichnung eines Krauts, das an Stellen wächst, wo es – in den Augen des Betrachters – nicht hingehört, im Deutschen gleich zur Verneinung eines Krauts wird, zum Un-Kraut? Jedem Kraut wohnt diese Binarität inne, sie entscheidet sich auf Grashalms Schneide.

Ming erzählt von seinem eigenen Aufwachsen im postkolonialen Singapur, wo Identität und Diaspora poröse Angelegenheiten sind, wo drei Viertel der Bevölkerung wie Ming zwar Chinesen sind, aber kein Chinesisch sprechen, nur Englisch. „Nicht, dass uns jemand dazu gezwungen hätte. Das erlegt man sich ja selbst auf. Kolonialismus arbeitet subtil.“ Ming spricht von unsichtbaren, inneren und sichtbaren äußeren Kolonialist*innen, deren Ansprüchen man nie genügen kann. Er spricht davon, wie er selbst, als er nach Deutschland kam, zunächst einmal dachte, er müsse perfekt Deutsch lernen. Wie er sich aber dann, als der dekoloniale Künstler, der er ist, gegen seinen reflexhaften Perfektionismus wehrte: „Echt jetzt? Muss dieser Kolonialist immer und überall mitmischen? F*ck it. Ich muss meine eigene Mitte bewahren.“

Nun muss ich doch noch einmal auf den Diasporabegriff zurückkommen. Der Kitt der arabischen Diaspora sei ja, führe ich an, zumindest heute und im hiesigen Kontext, sehr stark die arabische Sprache. Das allerdings bedeutet, dass diese spezifische Zugehörigkeit womöglich nur für das Zeitfenster einer Generation hält und mit dem graduellen Verlust der Sprache auseinanderfallen oder zumindest in allgemeineren Konstrukten aufgehen wird.

Ming und Ariel stimmen mir nachdenklich zu. „Wie ist das mit der asiatischen Diaspora“, frage ich nach. „Wen meint ihr eigentlich damit?“ – „Yes, we know“, seufzen die beiden fast im Chor, „das ist natürlich alles etwas problematisch.“ Denn, was heißt schon Asien? Geografisch gesehen, fielen ja zum Beispiel auch Länder und Regionen wie die Türkei, Teile der arabischen Welt, Russlands und des Kaukasus darunter. Man könnte sogar Australien und Neuseeland – minus deren weißer Kolonialgeschichten – dazu zählen. „Deshalb ist unser Begriff von asiatischer Diaspora auch explizit fluide, porös und kontextgebunden. Wir sind gegen Gatekeeping.“

Kein Gatekeeping? Das klingt schön, finde ich und fasse Mut, meine Gedanken dazu in die Runde zu werfen. Ich erzähle, dass ich als Adoptierte ein komplexes Verhältnis zu Bezugssystemen wie Diaspora und kinship habe. Ich erzähle vom Problem vieler transracial adoptees, die nicht wissen, wer oder was sie sind, die damit hadern, sich nirgends zu spiegeln oder ihre Spiegelbilder nicht wiederzuerkennen und mit einem Selbstverständnis als defizitäre weiße Menschen aufwachsen.

„We grow up thinking we are just wrong white people“, sage ich. „W.W.P.“, sagt Ming, „das wäre auch ein toller Name für ein Projekt. Viele Menschen verunsichert ihr Diasporischsein. Alles, was damit verbunden ist, sehen sie als defizitär an. Dabei könnten alle etwas von ihnen lernen. Mir wurde irgendwann klar, wie unzerrüttbar ich bin. Wir sind Meister der Anpassungskunst, gezwungenermaßen. Wir pflegen diese konstante Praxis des Absorbierens und Sich-Anpassens. Wenn die Welt am Brodeln ist, sind wir diejenigen, die klar kommen.“

Sandra Hetzl übersetzt, schreibt, forscht und kuratiert Veranstaltungen mit einem Fokus auf zeitgenössische arabische Literatur. Sie hat Erzähl- und Lyrikbände und Sachbücher von u.a. Rasha Abbas, Kadhem Khanjar, Aboud Saeed und Aref Hamza übersetzt. Sie ist Gründerin des Agenturkollektivs teneleven.org für zeitgenössische arabische Literatur und des Literaturfestivals Downtown Spandau Medina.

Im Sommer haben freie Künstler*innen-Gruppen in 30 bundesweiten Artist Labs die krisenhafte Gegenwart untersucht. Sebastian Köthe, Elisabeth Wellershaus und ein Team an Gastautor*innen haben ihnen dabei über die Schulter geschaut.