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Das Recht auf Forschung

By Sibylle Peters

Zum Auftakt des „Bundesweiten Artist Labors der Labore“ hielt Sibylle Peters – Performancekünstlerin und Kulturwissenschaftlerin – eine vom Publikum gefeierte Keynote über die Freien Darstellenden Künste in der Gesellschaft der sich überlagerten Krisen und warum wir ein Recht Forschung brauchen.

Vor ein paar Wochen war in der Süddeutschen Zeitung über den Schwund des Publikums im Staatstheater zu lesen. Die Autoren schreiben: „Unter darwinistischen Gesichtspunkten könnte man das begrüßen: In der Krise trennt sich die Spreu vom Weizen. Nicht jede unbegabte Dilettanten-Performance-Gruppe ohne Publikum muss bis ins Rentenalter alimentiert werden“.

Ich selbst bin stolzes Mitglied gleich mehrerer unbegabter Dilettanten-Performance-Gruppen, und ich kann Euch gar nicht sagen, wie mich so eine Formulierung ärgert. Ich möchte den Autoren an dieser Stelle ganz klar sagen, dass wir keineswegs ohne unser Publikum dastehen. Die Krise des Staatstheaters ist nicht unsere Krise.

Meine Mutter, die mich selbst als Kind immer wieder ins Theater mitgenommen hat, geht nun nicht mehr oft hin. Es ist ihr zu gefährlich in ihrem Alter und seit Corona zum Alltag gehört. Und das kann man ja verstehen. Meine Mutter war deshalb eine begeisterte Teilnehmer*in von Telefonperformances, wie sie in den letzten zwei Jahren freie Gruppen hier und da entwickelt haben.

Wären im Staatstheater mehr Dilettanten-Performance-Gruppen angestellt, würde man vielleicht ahnen, dass es nicht darum geht, ob einem das Publikum treu bleibt, wenn man Klassiker programmiert, sondern umgekehrt darum, dem eigenen Publikum treu zu bleiben. Kann das Theater da was machen, wenn das eigene Publikum sich nicht mehr traut hinzugehen? Oder schreibt man die dann ab?

Die Freien Darstellenden Künste, die überkommene Herrschaftsideologien wie darwinistische Selektion, Exzellenz und Begabung hinter sich gelassen und kritisch untersucht haben, sind nicht ohne Publikum. Sie haben allerdings schon vor langer Zeit aufgehört, ihr Publikum für eine Selbstverständlichkeit zu halten, oder sich selbst für grundsätzlich interessanter zu halten als ihr Publikum. Sie haben stattdessen damit begonnen Freies Theater als die Kunst zu verstehen, an neuen Versammlungsformen, an alternativen Öffentlichkeiten zu arbeiten und Leuten Plattformen zu bieten, die sonst keine haben. Sie haben das Publikum aufgesucht und es in den künstlerischen Prozess einbezogen: in Schulen, Läden und Bahnhöfen, im Netz, auf dem Land und in der Stadt, lokal, transnational und weltweit.

Ich habe heute keine Zahlen für Euch. Ich stehe hier nur mit meiner Erfahrung als Dilettantin und kann sagen: Fast alle Performances, die die mir bekannten Dilettanten-Gruppen in diesen Tagen veranstalten, sind ziemlich voll. Und zwar nicht, weil wir so berühmt oder begabt sind, sondern weil das Publikum ein zentraler Teil unseres Prozesses ist, weil wir immer wieder versuchen, die Dornenhecken zu durchdringen und unser Publikum wach zu küssen. Einsamkeit und Isolation, Depression und Angst – das alles war schon vor Corona, vor dem Krieg ein Problem. Jetzt ist es epidemisch. Und gerade da können Theater und Performance wirklich helfen, denn sie können Menschen berühren und zusammenbringen, sie können ein Theater der Begegnung, ein Theater der Nähe dagegensetzen, wie wir das beispielsweise mit dem Heteraclub versuchen. Gerade die Freien Darstellenden Künste können das, denn sie sind in der Lage zu fragen: Wer soll unser Publikum sein, jetzt, und wie erreichen wir es, wenn es eben nicht schon topfit ausgehfertig und mit dem Abo in der Tasche vor der Tür vom Schauspielhaus steht?

The picture shows the artist and scientist Sibylle Peters. Standing at the lectern, she gives her keynote speech to the audience in the hall. © Dorothea Tuch

Im September haben wir in Hamburg das neue FUNDUS Forschungstheater, kurz FT, eröffnet, ein Kindertheaterhaus für alle Generationen. Kurz darauf feierte Kampnagel 40-jähriges Jubiläum. Deshalb habe ich zuletzt viele Grußworte gehört und das ist interessanter als man denken könnte, weil man da quasi den Diskurs selbst hört. Warum wird Theater heute gutgeheißen und gefördert? Alle sind sich einig: Weil es einen Experimentierraum ist, in dem wir die Erfahrung machen können, dass die Welt auch anders sein kann, als sie ist. Theater ist Forschung am Andersseinkönnen der Welt. Stimmt, reicht aber so noch nicht.

Denn was passiert, wenn dabei wirklich was rauskommt? Wenn man den Punkt erreicht, in dem alle Beteiligten eines Projekts, Publikum inbegriffen, denken – hei ja, die Welt könnte wirklich ganz anders sein, denn wir haben hier gerade rausgefunden, wie es geht, an diesem Rad zu drehen! Das kommt öfter vor, als man vielleicht denkt. Der Experimentierraum produziert tatsächlich Ergebnisse, aber man kann damit nicht in Serie gehen, nicht hochskalieren, nichts weitergeben, weil an diesem Punkt immer das Projektgeld endet. Und das nächste Projekt beginnt. Das Ergebnis wird dann Anekdote und bestenfalls an der Uni gelehrt:

Als wir es einmal geschafft haben, die Innenstadt von Oberhausen wieder zu beleben,

als wir es einmal geschafft haben, dass Frauen über 40 sich sexy fühlten,

als wir es einmal geschafft haben, dass nigerianische Seefrauen im Hamburger Hafen den Ton angaben,

Ihr könnt sicher alle selbst solche Momente aufzählen. Aber es gibt eben kein Geld, keine Strukturen, keine Vermittlungen für diese Ergebnisse. Kein Geld dafür, die Welt tatsächlich zu verändern. Und das ist leider keine Überraschung.

Die eigentliche Überraschung war, dass das plötzlich anders war: Plötzlich gab es beim Fonds Darstellende Künste Prozessförderung und Netzwerk- und Strukturförderung und Residenzförderung und Laborförderung und so weiter, Förderungen, mit denen es uns möglich wurde, dieses Wissen weiterzugeben.

Wie zum Beispiel in dem Netzwerk Forschung im Theater für junges Publikum, das wir mithilfe einer solchen Förderung gerade aufzubauen beginnen: Da treffen sich zurzeit wöchentlich Hochschullehrer*innen, Künstler*innen, Forscher*innen und Vertreter*innen von Theaterhäusern, um zu dokumentieren, wie Kinder und Erwachsene – mit Mitteln der Performancekunst – gemeinsam etwas darüber herausfinden können, wie wir in Zukunft zusammenleben wollen.

Zum Beispiel indem sie eine alternative Kinderwährung erfinden und im Theater Aktionärsversammlungen der Kinderbank abhalten, um herauszufinden, wie eine Stadt gemeinsam Kinderarmut bekämpfen kann.

Zum Beispiel indem sie eine heterotopische Zone ausrufen, in der alle Spezies, Menschen inbegriffen, gleichberechtigt sind und in der wir die Mittel der Performancekunst und der Kunst der Versammlung nutzen, um Agency zwischen Humans und Non-Humans neu zu verteilen.

Zum Beispiel indem sie, – wie eine Gruppe von Kindern mit Rassismuserfahrung, die das FT beraten, gerade gefordert hat – das Theater in ein Schönfühl-Labor verwandeln, ein Labor, in dem wir herausfinden, wie Theater und Performance dazu beitragen können, dass sich alle schönfühlen können – ohne dass Rassismus und Sexismus dazwischen funken.

Labore – das Wort hat sich die freie Szene, schon vor langer Zeit von der Wissenschaft geliehen, weil künstlerische Schaffensprozesse und Forschungsprozesse vieles gemeinsam haben. Heute sind künstlerische Forschungsprozesse nicht mehr nur der Produktion vorgelagert, sie haben sich für ihr Publikum geöffnet. Theatermacher*innen der Freien Szene sind virtuos darin geworden, sich mit unterschiedlichsten gesellschaftlichen Akteur*innen zusammenzutun, und Situationen zu schaffen, in denen die Ressourcen der Kunst für die gemeinsame Erforschung und Veränderung der Welt zur Verfügung stehen: unwahrscheinliche Versammlungen, Institutionen auf Probe und Toolboxen für den Alltagshack entstehen.

Dies zu sehen und die Strukturen für dieses Geschehen endlich weiter zu entwickeln, – das ist die Aufgabe der Kulturpolitik. Und dafür muss sie sich auch mal gerade machen und ihre eigenen Grenzen in Frage stellen. Denn hier geht es um Kunst und deshalb immer auch um mehr als um die Kunst selbst. Die Freie Szene der darstellenden Künste fängt hier etwas auf, das in anderen gesellschaftlichen Systemen keinen Platz findet: Ein gemeinsames Nachdenken und Ausprobieren, – das Forschen aller. Was könnte wichtiger sein als das?

Doch obwohl wir häufig von Laboren und von Forschungsprozessen sprechen, wird dieses gemeinsame Nachdenken und Ausprobieren offenbar immer noch nicht wirklich als Forschung anerkannt, immer noch nicht in seiner eigentlichen Bedeutung gesehen. Jedenfalls nicht wenn man sich Bundes- und Landeshaushalte daraufhin anschaut.

Im Grundgesetz ist ein Recht auf Bildung verankert, Forschung dagegen ist – und das gilt es ganz klar zu sagen – weiterhin ein Privileg, ein Privileg, über das sich heute Herrschaft und Ausschluss organisiert:

Die Herrschenden, das sind heute diejenigen, deren Erkenntnisse und Erfahrungen als Wissen, als Innovation, als Patent, als Produktionsmittel oder zumindest als Arbeit anerkannt werden. Die, für deren Praktiken, Gefühle und Einsichten Diskurse existieren, die ihre Relevanz, ihre Wirkmächtigkeit und Produktivität sicherstellen.

Alle anderen, haben das Recht zu lernen. Fantastisch.

Diese undemokratische Organisation von Wissen, von Innovation und Wirkmächtigkeit wird uns nicht helfen, die riesigen Probleme unserer Zeit zu lösen.

We need to reassemble the world. Nichts geringeres als das.

Wir brauchen neue Arten von Versammlungen, andere Körperschaften, neue Praktiken des miteinander Handelns. Wir müssen endlich lernen, dass alle Perspektiven und Erfahrungen wertvoll sind. Alle Mitglieder der Gesellschaft, und auch jene, die wir heute noch gar nicht mitzählen, müssen die Möglichkeit haben, an Wissensproduktion teilzunehmen. Wir brauchen ein Recht auf Forschung. Jetzt. Und dafür brauchen wir Theater und Performance. Denn um ein Recht auf Forschung umzusetzen, um überhaupt vorstellbar zu machen, was das im Einzelnen heißen könnte, muss sich Wissensproduktion gründlich verändern. Es muss in allen Sprachen geforscht werden, mit Körpern und Sinnen, in der Cloud und auf der Straße, in Realität und Fiktion. Und wie das geht, das wird in den Laboren, den Prozessen und Arbeitsweisen der Freien Darstellenden Künste gerade entwickelt.

Achso, Quatsch. Stimmt ja nicht. Das wird zwar gerade entwickelt – aber nur noch bis Ende November. Dann endet nämlich der Abrechnungszeitraum und ab Mitte nächsten Jahres sind dann sowieso alle Gelder gestrichen. Und stattdessen stecken wir dann 100 Milliarden in die Entwicklung einer Gesellschaft des Krieges.

Davor habe ich richtig Angst, – richtig Angst.

Und nach einer ganz langen Pause der Angst möchte ich hinzufügen:

Und außerdem – wer wird dann mit den traumatisierten Flüchtlingskindern arbeiten? Wer wird für die Erfahrungen junger Männer eine Plattform bieten, die von Vater Staat einberufen werden, um den Krieg, den Tod, zu performen? Die Freien Darstellenden Künste werden das tun, sie haben damit bereits begonnen.

Deshalb besteht das ärgerlichste Missverständnis der aktuellen Debatte um die Streichung der Mittel für die Freie Szene darin, dass es so dargestellt wird, als wollten die unbegabten Dilettant*innen-Performancegruppen das Geld für sich selbst. Nein.

Es geht vielmehr darum, dass das, was wir mit dem Geld machen, gebraucht und verzweifelt gesucht wird.

Es geht vielmehr darum, dass unsere Mitmenschen und unsere Gesellschaft die unwahrscheinlichen Versammlungen brauchen, und das gemeinsame Ausprobieren verdient haben, für das die Freien Darstellenden Künste stehen.

Es geht darum, dass alle eigentlich dringend noch viel mehr davon brauchen. VIEL MEHR.

Vielen Dank für Eure Aufmerksamkeit.