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Eine Frage der Übung

By Georg Kasch

An der Theaterperipherie machen niedlich&GROSS™ Kinder neugierig auf die Komplexität und Vielfalt von „Musik“.

Was ist Musik? Eine Mischung aus Melodie, Harmonie, Rhythmus? Können? Leidenschaft? Oder doch eine alltägliche Begleiterin, die in allen Dingen steckt, dem Wecker, jedem Klopfen, Brummen, Sirren?

Die Antwort ist in jedem Fall komplex. Und dennoch gut aufgehoben bei Kindern. Denn Musik gehört ja in allen Formen zu ihrem Alltag, im bewussten Singen, im Supermarkt-Hintergrundrauschen, beim Klappern und Schlurfen. Wie vielfältig das Thema ist, umreißt das Klassenzimmerstück für Kinder und Jugendliche zwischen 8 und 12 Jahren mit dem bestrickend direkten Titel „Musik“ von niedlich&GROSS™ im südlichen Sachsen-Anhalt. Die freie Gruppe besteht aus Jennifer Krannich, Florian Krannich und Michael Morche. Alle drei kommen aus dem Umfeld des Thalia Theaters, des Kinder- und Jugendtheaters der Bühnen in Halle an der Saale. Seit 2018 haben sie acht mobile Produktionen gemacht, mit denen sie durch Kindergärten, Schulen und Horts touren, über Themen wie Bäume, Klammern, Essen.

Nun also Musik. Auf der Bühne – meist der schmale Streifen im Klassenraum zwischen Tafel und Stuhlreihen – stehen Jennifer Krannich und Lisa-Marie Schneider. Davor, daneben, dahinter Mikrofone, Kabel, Instrumente: eine E-Gitarre, eine Geige, ein Keyboard, ein Loop-Steuerungsgerät. Sie alle werden im Verlauf der 45 Minuten benutzt. Aber ebenso machen Krannich und Schneider den Körper zum Instrument, wenn die beiden sich auf Brust, Arme, Oberschenkel klopfen, mit ihren Händen Röhren und Holzkästen Rhythmen entlocken.

Schnell etabliert sich zwischen den beiden eine Arbeitsteilung: Schauspielerin Krannich entdeckt in allem Musik, sucht wortreich nach Beschreibungen: „Musik ist, wenn meine Ohren flattern, meine Wangen beben, meine Augen klappern, meine Zunge schnalzt.“ Musikerin Schneider kümmert sich um instrumentale Brillanz, will alles perfekt – und kommt auf merkwürdige Bilder: „Musik ist, wenn ich einschlafe.“ Kein Wunder, dass die Kinder da „Hä?!?“ schreien.

Wenn Krannich allerdings behauptet, sie könne „voll viele Instrumente spielen“, dann aber ziemlich schräg rumklimpert, kommt Schneiders Moment. Sie kontert mit impressionistischen Klangkaskaden auf dem Keyboard, Violin-Läufen und Bachs „Toccata“ auf der Melodica. Da begreift man ziemlich schnell, dass es Musik zwar überall gibt, Könnerschaft aber eine Frage von Übung ist.

Classroom, with rows of chairs facing the blackboard, on which pupils are sitting. In front of them are two performers who sing. In the background are music stands and various musical instruments. © Ayman Srmaney

Warum jetzt Musik? „Wir nehmen uns oft die großen Themen der Menschheit vor, die ja auch die Themen der Kindheit sind“, sagt Florian Krannich, „und versuchen, sie in ihrer Komplexität auszuloten, sie aber zugleich auch aus einem naiven Blickwinkel zu befragen.“ Krannich ist der Dramaturg der Gruppe, hat auch den Text von „Musik“ fixiert. In die ersten Proben sind sie mit musikwissenschaftlicher Literatur gegangen, haben unter der Leitung von Regisseur Michael Morche improvisiert, aber auch geschaut, dass die drei Grundpfeiler der Musik – eben Rhythmus, Melodie, Harmonie – je einen Spielblock bekommen. Dass die unterschiedlichsten Genres von Barock bis Pop vorkommen, auch Musik als Livestyle thematisiert wird.

Und dass deutlich wird, dass es zwar zwölf Töne gibt und theoretisch schier unendliche Kombinationsmöglichkeiten, dass sich aber praktisch die populärsten musikalischen Themen auf eine eng umrissene Ton- und Harmoniefolge gründen. Einmal beginnen Krannich und Schneider mit „Let It Be“ von den Beatles, bauen daraus einen Loop und singen darüber unzählige Hits, von „Lass es los“ aus der „Eiskönigin“ über die „Morgenstimmung“ aus der „Peer Gynt“-Musik von Edward Grieg, A-has „Take On Me“ bis zu ABBAs „Mamma Mia“ und Bob Marleys „No Woman No Cry“. Ist das jetzt ein Beweis dafür, wie begrenzt die Fantasie der Komponist*innen ist? Oder wie sehr wir auf bestimmte Akkorde und Melodien reagieren, während uns anderes „unharmonisch“ erscheint? Das lässt „Musik“ angenehm offen – und überlässt es den Pädagog*innen, hier anzudocken und weiterzudiskutieren.

So durchschreiten niedlich&GROSS™ sehr lässig und oft sehr witzig alle wesentlichen Baustellen, die das Thema hergibt, ohne Begriffe wie Tonika oder Dominantseptakkord in den Mund nehmen zu müssen. Einmal entspinnt sich zwar eine schöne Fachsimpelei über Dur und Moll, aber da geht es darum, dass sich Krannich die Toccata wünscht und Schneider fragt, welche denn: von Vivaldi? Buxtehude? Pachelbel? In A-Dur? C-Moll? Kann Krannich alles nicht sagen, aber vorsingen: Es ist natürlich Johann Sebastian Bachs „Toccata und Fuge in D-Moll“. So wird auch gleich klar, wie komplex das Thema ist und dass hinter Musiktiteln vielleicht doch mehr steckt als beliebige Namen. Gattungsbezeichnungen zum Beispiel. Schön auch, wie die beiden aus dem Motiv per Loop eine Technonummer machen.

Dass niedlich&GROSS™ sich gerade jetzt mit „Musik“ beschäftigen, hat auch damit zu tun, dass sie sich mit Schulklassen ein neues Publikum erobern wollen. Als sie sich vor vier Jahren als Gruppe zusammenfanden, hatten sie einen Vorrat an Themen angelegt, den sie nun nach und nach bearbeiten. Zunächst entstanden viele Projekte für kleinere Kinder, für die sie mit Kindergärten zusammenarbeiten.

Nun bestand die Herausforderung darin, die Schulen zu erreichen. „Es gibt in Halle kein theaterpädagogisches Netzwerk zwischen freier Szene und Erzieher*innen und Pädagog*innen“, sagt Krannich. „In diesem Bereich machen alle ihr Ding.“ Oft funktioniere die Kontaktaufnahme über Mails oder das Telefon nicht, nur über persönliche Kontakte. In dieser Situation hat die Prozessförderung von #TakeHeart, die im Rahmen von NEUSTART KULTUR vom Fonds Darstellende Künste vergeben wird, besonders geholfen, sagt Krannich. Anders als bei regionalen Förderungen gab es nur einen Ansprechpartner, mehr Flexibilität und weniger Druck für ein Ergebnis – bislang musste sich niedlich&GROSS™ im Förderzeitraum zu einer Aufführungsserie von mindestens zehn Terminen verpflichten. Jetzt konnten sie erst mal die Produktion erarbeiten, ohne schon alle Spieltermine fix zu haben.

Zehn Vorstellungen wird die Gruppe bis zum Jahresende auch ohne Verpflichtung erreicht haben. Aber es bleibt auch Raum für die anderen Produktionen, die ja weiterlaufen. 40 bis 50 Vorstellungen spielen sie insgesamt im Jahr – in und um Halle. Damit übernehmen sie eine Funktion, die das Thalia Theater früher erfüllte, nach Umstrukturierungen aber längst aufgegeben hat. Dabei kommen gerade die jungen Menschen an der Peripherie oft nicht so ohne weiteres an Kultur.

Dass die Produktion dort, also an der Peripherie, unbefangen neugierig macht auf Musik frei von E(rnst)- und U(nterhaltungs)-Grenzen, ist auch deshalb so wichtig, weil die musikalische Bildung heute mehr als früher von den Eltern abhängt. Wer nicht mit Nachdruck zur Musikschule geschickt wird, wird vermutlich kein Instrument lernen. Gerade komplexere Musik lässt sich aber nur begreifen, wenn man tiefere Einblicke hat in musikalische Sprachen. Eine derart reiche Opern- und Orchesterlandschaft wie unsere kann nur überleben, wenn Menschen wissen, was sie an ihr haben – und genau hinhören.

Von der Förderung in den Probenraum und auf die Bühne – die Kulturjournalist*innen Georg Kasch und Elena Philipp besuchen im Rahmen von #TakeHeart des Fonds Darstellende Künste geförderte Projekte.