Flucht im Pop-up-Wunderland
By Elena Philipp
Ein großformatiges Bühnenbild von Hila Flashkes, ermöglicht durch eine Prozessförderung, ist Teil der nächsten Produktion von andcompany&Co.
Faltbar, leicht und möglichst günstig: so lautet oft das Rezept für ein Bühnenbild in der Freien Szene. Geld ist knapp, Gastspielreisen sind das A und O – da kann man keine bühnenfüllenden Kulissen bauen. Ein großformatiges Bühnenbild, das seine eigenen bildnerischen Qualitäten voll entfalten darf, können andcompany&Co. mit einer Prozessförderung im Rahmen des Programms #TakeHeart entwerfen lassen. Für ihre Stückentwicklung zu Irmgard Keuns Roman „Kind aller Länder“ über die Flucht der zehnjährigen Kully und ihrer Eltern vor den Nazis, aus dem Rheinland nach Belgien und in die Niederlande bis nach New York, haben sie die israelische Künstlerin Hila Flashkes an Bord geholt. Flashkes ist Puppenspielerin, Bühnenbildnerin und Filmemacherin, sie stellt Bildende Kunst aus, entwirft Installationen mit Maschinen, zeichnet Comics und dreht Animationsfilme. Und ist mit andcompany&Co. lang schon verbunden.
Kennengelernt haben sich die andcompany-Mitgründerin Nicola Nord und Hila Flashkes Anfang der 2000er Jahre in Amsterdam, an der Post Graduate School DASarts. Für „little red (play): ‚herstory‘“ haben sie, mit kleinem Budget, 2006 erstmals kooperiert. „Das Stück wurde unser Riesenerfolg“, erzählt Nicola Nord. „Vom Freischwimmer Festival sind wir direkt zum Brüsseler Kunstenfestivaldesarts und zu den Wiener Festwochen eingeladen worden, danach hat Matthias Lilienthal uns nach Berlin ans HAU geholt. Das war der Kick-off für andcompany&Co.“ Die Zusammenarbeit mit Hila Flashkes hat die Gruppe immer wieder fortgesetzt – „wenn wir es uns leisten können“, so Nord. Flashkes lebt in Tel Aviv, hat zwei Kinder und ist alleinerziehend; Reisekosten, Unterkunft, Kinderbetreuung sind eine Frage des Geldes.
Handgearbeitete Fantasiewelten
Für die Kommunismus-Trilogie von andcompany&Co. gab es Fördermittel auch für die Szenografie, und so hat Flashkes 2009 für „Mausoleum Buffo“ ein retrofuturistisches Räderwerk und in Pappe aufzüngelnde Kulissen verwirklicht sowie Mauseohren und Eierköpfe als Masken entworfen. „Wir entwickeln uns gemeinsam weiter“, beschreibt Nicola Nord die kreative Kooperation. Für „Land aller Kinder“, wie die aus Rechtegründen umbenannte Irmgard Keun-Adaption mittlerweile betitelt ist, hat Hila Flashkes eine Bühne im Stil eines Pop-Up-Buches gestaltet. Meterhohe weiß-schwarze Elemente auf dem Bühnenboden und oben am Portal sind mal Haifischzähne und mal die Klapptische einer Brasserie, von der noch die Rede sein wird. In der baulichen Umsetzung zu aufwändig war ein in den Boden eingelassener Bubble Tea-Becher, der als Bällebad und Trampolin genutzt werden sollte; stattdessen gibt es nun ein manuell animierbares, riesenhaftes „Himmel und Hölle“-Faltobjekt, das sprechen und orakeln kann. „Und die Sonne ist aus einem Stoff, den wir hochkurbeln müssen“, sagt der Musiker und andcompany-Mitgründer Sascha Sulimma, der beim Zoom-Gespräch auf der Probebühne ebenfalls mit dabei ist. Handgemachte Fantasiewelten sind ein Markenzeichen von andcompany& Co.
Eine sich öffnende Blume, die sprechen kann, erinnert in Hila Flashkes Bühnenbild an „Alice im Wunderland“. „Damit knüpfen wir an die Märchenhaftigkeit von Keuns Roman an“, so Sulimma. Kully lässt sich trotz ihrer Fluchterfahrungen nicht unterkriegen. Unverstellt blickt Irmgard Keuns Erzählerin auf die Nazizeit und die Erwachsenen, beschreibt in ihrem Kölnisch unverblümt ihr Umfeld und die von ihr bereisten Länder. Die kindlichen Verschiebungen der Wahrnehmung und das Fassadenhafte von Erwachsenenwelt und Nazizeit spiegeln sich in der Szenografie. „Die Bühne spielt mit den Perspektiven“, sagt Nicola Nord. Für Keuns Romanheldin ist die Welt bei aller Chuzpe bisweilen allzu groß, so wie das Himmel und Hölle-Objekt für die Spieler*innen. Und verloren zu gehen zwischen riesigen Dingen vermittelt für andcompany&Co. auch eine Erfahrung erwachsener Exilant*innen, die sich, wie Irmgard Keun angesichts des Faschismus der 1930er Jahre, in aktuellen politischen Krisen hilflos fühlen.
Flucht geht uns alle an
Mit „Land aller Kinder“ arbeiten andcompany&Co. erstmals für Zuschauer*innen ab zehn Jahren. Ihnen will die Freie Gruppe die brennend aktuellen Themen Flucht und Exil und ihre menschenrechtlichen Problematiken nahebringen. Dafür verbindet sie die Erinnerung an das antifaschistische Exil mit der gegenwärtigen Debatte. Nah dran ist das an der Lebenswelt junger Menschen in Deutschland: Ukrainische oder syrische Klassenkamerad*innen haben traumatisierende Fluchterfahrungen, die Großeltern mancher Kinder sind in den 90er Jahren vor dem Jugoslawienkrieg geflohen, vielleicht ist auch der Zweite Weltkrieg noch ein Thema in den Familien. Und selbst wenn nicht: So lange Menschen auf der Fahrt übers Mittelmeer ertrinken, geht Flucht uns alle an.
Gespielt werden soll abends, vor einem altersgemischten Publikum. „Was ist ein Kinderstück für Erwachsene?“ fragten sich die andcompany-Gründer*innen Alexander Karschnia, Nicola Nord und Sascha Sulimma bei den Recherchen. In den Proben finden sie es seit Februar 2023 gemeinsam mit den Beteiligten heraus. Zwei junge Menschen im Alter der Zielgruppe stehen mit auf der Bühne. Eines der beiden elfjährigen Mädchen ist die Tochter von Nicola Nord und Alexander Karschnia, die andere ihre Freundin und Klassenkollegin. Bei den Proben sind sie als Dramaturginnen und Co-Regisseurinnen gefragt, aber auch als Kommentatorinnen und Korrektiv, sagt Nicola Nord: „Die beiden sind ein tolles Team, sie mischen sich sofort ein, wenn sie etwas nicht verstehen.“ „Das ist total spannend, weil ständig abgefragt wird, wie verständlich das ist, was wir machen“, ergänzt Sascha Sulimma.
Gute Pässe, schlechte Pässe
Auch thematisch führt die Co-Kreation mit den jungen Spielerinnen zu neuen Perspektiven, etwa auf gängige Asylpraktiken. Warum gleicht das Gespräch bei der Antragstellung einem Verhör? Wie harsch Geflüchtete hier angegangen werden, ist den Kids im Protokoll einer Asylbewerbung aufgefallen, die andcompany&Co. ihnen als dokumentarisches Material zur Verfügung gestellt hat. Warum darf man auf den Fotos für ein Visum nicht lachen? Und warum steht in einem Ausweisdokument nicht, in wen wir gerade verliebt sind? Je genauer das Team hinsieht, desto absurder aber auch: veränderbarer erscheinen verwaltungstechnische Vorgänge.
Ausgetauscht hat sich das Team mit den beiden Mädchen auch über den Wert von Reisedokumenten. Während Rokia mit einem deutschen Pass ungehindert in die meisten Länder reisen kann, werden Sümra und ihre Familie an der türkischen Grenze meist angehalten und ihr Auto durchsucht. Die Familie der Autorin und Performerin Luna Ali wiederum, die ebenfalls an „Land aller Kinder“ beteiligt ist, hat ihre Ausweise vor der Flucht an einen Schleuser abgeben müssen. Wie so viele sind Luna Ali, ihre Eltern und Geschwister ohne Dokumente in Deutschland angekommen. Zum Glück hatte Luna Ali den Gepäckschein ihrer Nachbarin aus dem Flugzeug aufbewahrt. Der Zettel galt damals als Beweis, dass sie mit dem Flieger angekommen waren und damit ein Bleiberecht hatten.
Recherche an den Ort des Exils
Man merkt: andcompany&Co. sind tief in ihre Recherche eingestiegen. Mehr als eineinhalb Jahre läuft der Produktionsprozess schon, in Etappen und mit der Möglichkeit, über szenische Lösungen noch einmal nachzudenken oder einen fehlenden Aspekt zu erkunden. „Ohne Prozessförderung haben wir sonst maximal zwei bis drei Monate Zeit für die Produktion“, sagt Nicola Nord. Für „Land aller Kinder“ ermöglichten ihnen die NEUSTART KULTUR-Gelder im März 2022 sogar eine Recherchereise nach Ostende. In dem belgischen Kurort schrieb Irmgard Keun 1936 am Manuskript von „Kind aller Länder“. Mit anderen deutschen Exilant*innen wie Joseph Roth und Stefan Zweig verbrachte sie in dem Nordseebad, das 1936 ein letzter Treffpunkt der bald in alle Welt verstreuten deutschen Autor*innen war, ihre Zeit in Cafés und Bars wie der „Brasserie du Parc“. Ostende spielt auch in Keuns Buch eine große Rolle: Kully wird dort oftmals als „Pfand“ in einem Café hinterlassen. Ihr Vater, der gerne auf großem Fuß lebt, muss Geld beschaffen, weil seine Bücher nicht mehr verkauft werden. Und Kully muss, wie so viele Exilant*innen, warten.
Mit der Prozessförderung konnten andcompany&Co. in Ostende gemeinsam mit Hila Flashkes und dem Musiker Frédéric Bigot nach Spuren von Irmgard Keun und den anderen deutschen Exilant*innen suchen. „Die Brasserie du Parc sieht immer noch so aus wie damals“, erzählt Sascha Sulimma von der Reise. „Ihr Art Deco-Flair ist etwas angeschmuddelt, aber wunderschön.“ Die von der Gruppe in Bild und Ton eingefangene Atmosphäre wird die Inszenierung prägen: Den Eindruck des nebelverhangenen Hafens und eines kaum zu erkennenden „Geisterschiffs“ wollen andcompany&Co. mit Theatermitteln auf die Bühne übertragen. „Ich haben viel aufgenommen, visuelle Eindrücke, Geräusche und Sound, die in den Wochen danach stark in die Musik eingeflossen sind“, erzählt Sulimma. Ihm und Frédéric Bigot stand für die Produktion ein eigenes Musik-Lab zur Verfügung – ein ungewohnter Luxus. So wie die Produktionszeit von „Land aller Kinder“: „Wir hatten die Freiheit, alles in Ruhe zu verarbeiten“, so Sulimma.
In den zwei Wochen im Berliner Lab haben Sascha Sulimma und Frédéric Bigot mit den Samples von der Reise und auf der Grundlage von Lieblingsszenen aus dem Buch erste Tracks entwickelt, vieles begonnen und dann noch einmal neu gedacht. „Das ist eine ganz andere Arbeit, wenn man nicht produktorientiert denkt, das muss in sieben Wochen fertig sein“, sagt Sulimma. „Auch Hila konnte erst einmal absurdere Entwürfe zeichnen, an denen wir uns abgearbeitet und von denen ausgehend wir viele neue Ideen entwickelt haben.“ Im gemeinsamen Prozess entstand so nach und nach das Bühnenbild – und darum herum das Stück. Im Oktober und November zeigen andcompany&Co. Voraufführungen auf Kampnagel in Hamburg, am FFT Düsseldorf und beim internationalen NEXT Festival im belgischen Kortrijk. Im Dezember 2023 feiert die Produktion dann am HAU Hebbel am Ufer in Berlin Premiere. Hila Flashkes Bühnenbild wird mehr sein als nur die perfekte Kulisse für das Spiel um Flucht und Exil: eigenständig und wandelbar wird es zur Mitspielerin.
Von der Förderung in den Probenraum und auf die Bühne – die Kulturjournalist*innen Georg Kasch und Elena Philipp besuchen im Rahmen von #TakeHeart des Fonds Darstellende Künste geförderte Projekte.