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Heftige Haltungsarbeit

By Elena Philipp

Mit Folklore und einer Entgiftung des Erbes befassen sich Johanna-Yasirra Kluhs und Betty Schiel in „Folksy Feelings“.

„Ich weiß, dass ich diese deutsche Volksmusik nicht spielen kann und werde.“ Mit dieser Aussage der Musikerin Gunda Gottschalk bei einem Workshop auf PACT Zollverein begann für Johanna-Yasirra Kluhs und Betty Schiel eine vertiefte Arbeit an der Folklore. Auch wenn Fragen der Tradition die beiden Kuratorinnen schon länger begleiten: Mit dem Erbe im Kontext zweier deutscher Staaten befassten sie sich stetig erst im Rahmen der Ost-West-AG, die sie als die Künste übergreifende Forschungsgruppe mit den Künstlerinnen Eva Lochner und Tanja Krone 2020 gegründet haben. Ausgehend von den Biografien der Mitglieder erschließen sie sich Diskurse und stellen höchst aktuelle Fragen. Zum Beispiel: Wer beansprucht die Tradition für sich und aus welchen Motiven?

In a rehearsal room, workshop participants try their hand at a crescendo dance. In the foreground, a person sits at a piano. © Caroline Creutzburg

Dance workshop "Local Dancing"

Von Diktaturen kontaminiert

Folklore, ob in Tanz oder Musik, ist in Deutschland vom Faschismus kontaminiert. Für die Nationalsozialisten waren Volkslieder und -tänze ein Mittel, um Gemeinschaft zu stiften. In der DDR hat sich das aus Sicht mancher in veränderter politischer Ausrichtung fortgesetzt. Doch das ist für Kluhs und Schiel weniger ein Thema als die Dynamik der (Aus-)Schließung, die alle toxisch wirkenden Traditionen prägt: An der Gemeinschaft darf nur teilhaben, wer bestimmten Merkmalen entspricht – und diese sind meist nationalistisch oder rassistisch. „Das war und ist die Pervertierung: dass der geschlossene Körper eine Ideologie und Genealogie mit einem Territorium verbindet“, sagt Johanna-Yasirra Kluhs. Für Betty Schiel hat die Forschung am Erbe daher eine aktivistische Dimension: „Ich kann es nicht zulassen, dass wir unser folkoristisches Erbe Neo-Faschisten überlassen, die eine erfundene Narration produzieren von einer heilen Welt und Tradition, die es nie gegeben hat.“

Ihre Recherchen zum Thema bündelten die Dramaturgin Johanna-Yasirra Kluhs und die Filmkuratorin Betty Schiel im März und April 2023 mit einer Residenzförderung im Programm #TakeHeart des Fonds Darstellende Künste auf PACT Zollverein. Ein zentrales Anliegen des „Folksy Feelings“ betitelten Projekts war und ist die Reappropriation, eine Wiederaneignung der Folklore unter anderen Vorzeichen: „Die Sehnsucht nach gemeinsamem Tanzen und Singen ist stark, aber ich bin abgeschnitten von einer eigenen Folklore-Tradition“, so Betty Schiel. Neue Anschlüsse zu suchen, war das Ziel: „Kann man lokale Wissensbestände, die den Körper betreffen, jenseits von Nationalismen denken?“, formuliert Johanna-Yasirra Kluhs die wichtigste Forschungsfrage. Vorarbeiten gab es bereits; in unterschiedlichen Formaten setzen sich Betty Schiel und Johanna-Yasirra Kluhs gemeinsam und mit anderen aus ihren diversen künstlerischen Gruppierungen seit vier Jahren mit dem Thema Erbe auseinander.

A woman with short hair and striking earrings holds an original Amiga single record in front of her. The title of the record is "Sing mei Sachse sing". © Betty Schiel

"Sing mei Sachse sing": Tanja Krone shares a performative heritage with the East-West-AG.

Singen mit den Ahnen

Im März 2023 luden sie in Frankfurt am Main mit der Ost-West-AG zu einem performativen Dinner mit Musik und Grüner Soße. Die Gäste wurden gebeten, ein musikalisches Erbe mitzubringen. Gemeinsam mit den Teilnehmer*innen sang Betty Schiel etwa ein Lied aus dem „Zupfgeigenhansl“. Diese Liedersammlung aus den 1910er Jahren war prägend auch für die ursprünglich freiheitlich motivierte, aber 1933 in die Hitlerjugend eingegliederte Jugendbewegung des Wandervogels. „Mein Verhältnis zu dieser Sammlung ist gestört, sie geistert durch meine Familie“, erzählt Schiel. Ihre Großeltern waren seit den 1920er Jahren Teil der katholischen Jugendorganisation Quickborn gewesen. „Ich habe versucht herauszufinden, ob es Bezüge zu faschistischem Gedankengut auch in der Bewegung gab, die Volkstänze und -lieder pflegte und 1939 von der Gestapo verboten wurde.“ Sie ging in Archive, durchkämmte das Internet und korrespondierte mit einer Tante in den USA, deren Vater bis zum Krieg Vorsitzender von Quickborn war. „In den Erzählungen meiner Tante und auch meinen Recherchen überwiegt der revolutionäre und selbstbestimmte Ansatz. Aber es gibt doch den ständig pochenden Verdacht, dass es auch sozial-romantische und völkische Anteile in dieser Jugendbewegung gegeben haben muss“, bilanziert Schiel ihre Recherchen und ergänzt: „Für mich bildet nicht der Wunsch nach einer heilen Vergangenheit Potential für eine gute Gegenwart, sondern der bewusste Umgang mit Brüchen und Uneindeutigkeiten.“

A historical black and white photograph. On a meadow, three groups of three are dancing lively in the foreground. In the background many people sit on the grass and watch. © Familienarchiv Schiel

Youth meeting of the catholic community Quickborn, probably in 1925.

Das von Betty Schiel für das Begleitprogramm zu Caro Creutzburgs Installation "wabe [] ost” im Atelier Frankfurt ausgewählte Lied aus der Sammlung hatten ihre Großeltern gesungen, sie selbst war damit nicht vertraut. „Zwischen mir, meinen Eltern und Großeltern wurde die generationsübergreifende Überlieferung durchgeschnitten“, so Schiel. Zwei ältere Damen, die an der Veranstaltung teilnahmen, kannten das Lied jedoch und trugen die Gruppe über die Unsicherheit hinweg: „Die beiden waren echt dabei. Ich hatte das Gefühl, jetzt ist meine Oma im Raum und wir singen mit den Ahnen. Das war eine rührende Erfahrung und ein kleines Happy End für dieses mit Vorbehalten behaftete Liederbuch."

Neues schaffen aus Belastetem

Getilgt sind die Vorbehalte mit einer berührenden Erfahrung aber natürlich nicht, sagt Schiel. Neben den transgenerationellen Aspekten, die eine Arbeit am toxischen Erbe aufruft, werde man als Künstlerin immer auch auf europäische und koloniale Geschichte zurückgeworfen. Auch hier setzte „Folksy Feelings“ an: Bei einer offenen Probe des Transnationalen Ensembles Labsa, dem sie angehört, sollten die Teilnehmenden einen traditionellen Tanz mitbringen. „‚Können wir diese Tänze gemeinsam lernen?‘, haben wir gefragt. In einer Montage aus unterschiedlichen Folklore-Elementen haben wir unsere eigene Tradition erfunden“, erzählt die Kuratorin und Künstlerin. „Der transnationale Ansatz hat mich sehr hoffnungsvoll gestimmt. Wenn man ein queerendes Element einbringt, als positiv wirkenden Störfaktor, eignet sich folkloristisches Material kaum mehr für Faschismus.“ Und die gemeinsamen Erlebnisse als Gruppe können über traumatische Erfahrungen hinwegtragen, auch das haben Betty Schiel und Johanna-Yasirra Kluhs erfahren.

Bei Johanna-Yasirra Kluhs ist die Erfahrung mit Folklore persönlich noch einmal anders konnotiert – deutsch-spanisch. „Bist Du Spanierin, kannst Du Flamenco tanzen“, benennt sie eine stereotype Vorannahme, der sie als in Deutschland aufgewachsene spanische Staatsbürgerin immer wieder begegnet. „In meiner Kindheit habe ich es geliebt, diese Flamenco-Kleider anzuziehen und mir in diesem Kostüm vorzustellen, dass ich das tanzen könnte.“ Ein befremdliches Gefühl, erinnert sie. Vor allen Dingen später, als sie verstand, dass die Umwertung des Flamenco in einen vermarktbaren Nationaltanz eine kulturpolitische Strategie des national-katholizistischen Regimes unter Francisco Franco gewesen war. Über den Dokumentarfilm „Gurumbe“ stieß Kluhs in ihren Recherchen dann darauf, dass sich der Flamenco eigentlich aus einer Begegnung zwischen Sklav*innen aus Westafrika und Rom*nja, die Bewegungen aus dem indischen Tanzstil Kathak mitbrachten, im Süden Spaniens entwickelte. Als Nationaltanz eignete sich der diktatorische Staat also eine Ausdrucksform der Marginalisierten an – für Kluhs erneut „eine totale Pervertierung“.

Brüchige Geschichten prägen uns

Aus der Kenntnis dieser und vieler ähnlicher Vorgänge beziehen Kluhs und Schiel ihre von Spannungen geprägten „Folksy Feelings“: „Bei dem Gedanken an Volkslieder, Volkstänze und Trachten macht sich oft ein ‚muddy feeling‘ breit“, heißt es in ihrer Projektskizze. Man kann und will diese Noten nicht singen, diese Schritte nicht tanzen – und dann reißen sie einen plötzlich doch mit. Ähnliche Ambivalenzen prägen auch die Erzählungen, die die Künstlerinnen gesammelt haben: „Wir haben ein unglaubliches Konglomerat von Familien- und Nationalgeschichten, aus Ost und West, von Bulgarien bis Kamerun“, sagt Betty Schiel. „Uns interessiert es, diese Geschichten nochmal aufzusprengen und zu fragen, wie können wir das anwenden?“, ergänzt Kluhs. „Wir alle haben brüchige Identitäten und brüchiges Wissen. Könnte genau diese Brüchigkeit ein Anlass sein, sich zu versammeln und sich gemeinsam zu bewegen?“ Die von Gewalt geprägte Geschichte darf nicht dazu führen, dass die Idee von Zusammenkunft und Gemeinschaft von Populist*innen vereinnahmt wird, sagen beide – das ist die zivilgesellschaftlich so relevante Idee hinter „Folksy Feelings“.

Unter dieser Prämisse entstanden im Frühjahr 2023, getragen von der #TakeHeart-Residenz und lose verbunden mit PACT Zollverein, zwei Monate lang Probennotate und performative Ansätze, die in weitere Arbeiten von Johanna-Yasirra Kluhs und Betty Schiel einfließen werden. Öffentlich präsentiert haben sie ihr „Folksy Feelings“-Material bislang nicht. Aber es hat sich in dem Prozess ihr ethisches Ideal weiter gefestigt, das als stets herausfordernder Imperativ künstlerischer Kooperation gelten darf: „Es bleibt in jedem Kontext immer die Aufgabe, einen stabilen, tragfähigen Rahmen für alle Beteiligten zu schaffen, ohne dass Dinge autoritär oder absolut werden“, so Kluhs. „Das sind sehr situationsspezifische, kontextabhängige Aushandlungsprozesse, die stattfinden müssen.“

Als privilegierte weiße Person gelte es besonders, zurückzutreten und zuzuhören. „Wir sind nicht automatisch autorisiert, uns allem zuzuwenden – es braucht für manche Sachen eine Einladung.“ Gastgeber*innenschaft war das Stichwort, auch im Austausch mit den Näherinnen des Amen Juvlja Mundial Kollektivs, mit dem Betty Schiel und die Gruppe Labsa kooperieren. Wann fühlt sich jemand eingeladen, sich zu beteiligen oder gar selbst eine Einladung auszusprechen? „Wir sind sozialisiert, uns alles verfügbar zu machen“, sagt Kluhs. „Aber es gibt Dinge, die einem eröffnet werden müssen.“ Und das ist, so ihr Fazit: „heftige Haltungsarbeit“. Um das Erbe zu entgiften und zeitgemäße, offene Gemeinschaften zu stiften. Die Arbeit geht weiter.

Von der Förderung in den Probenraum und auf die Bühne – die Kulturjournalist*innen Georg Kasch und Elena Philipp besuchen im Rahmen von #TakeHeart des Fonds Darstellende Künste geförderte Projekte.