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„Ich will Frieden“

By Georg Kasch

Berichte aus dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine gibt es viele. Und doch muss man immer wieder hinhören, um zu begreifen, was diese Gewalt konkret bedeutet: „Ich hatte große Angst. Ich wusste, dass ich vielleicht nicht überlebe, ich hatte viel Blut verloren, hatte zahlreiche Schrapnellwunden am ganzen Körper, im Bauch, in den Armen und Beinen. Ich hatte Angst, dass ich meinen Arm und mein Bein verlieren würde. Und was ich mit Sicherheit wusste war, dass ich die Hauptwunde am Bauch hatte und mein Baby dort war, aber in diesem Moment war mir noch nicht klar, wie schlimm das alles war.“

Viktoria Schischkina hat die Offensive auf die ukrainische Stadt Mariupol überlebt. Allerdings nur knapp: Sie liegt in der zentralen Entbindungsklinik der Stadt, als die russische Armee sie am 9. März 2022 bombardiert. Viele Menschen sterben; Viktoria wird schwer verletzt evakuiert. In letzter Minute können Ärzte sie retten. Nicht aber ihr ungeborenes Kind.

Viktorias Geschichte ist nur eine von vielen, die Irina Miller für ihr Projekt „Ukrainische Chroniken: das weibliche Gesicht des Krieges“ gesammelt hat. Berichte vom Schock des Überfalls, von seelischen und körperlichen Wunden, von Flucht und Tod. Aber auch von Hilfsbereitschaft, Freundschaft, Rettung.

Miller ist Schauspielerin und Regisseurin. Geboren wurde sie in Kasachstan, wo Russisch die dominierende Sprache war. In Almaty, der größten Stadt des Landes, in der es neun staatliche und sieben nichtstaatliche Theater gibt, darunter Bühnen der Russen, der Deutschen, der Koreaner und der Uiguren, studierte sie Schauspiel. Elf Jahre lang war sie am staatlichen Akademischen Theater engagiert und lehrte parallel als Dozentin für Schauspiel. 2001 kam Miller als Russlanddeutsche nach Köln und gründetet das multinationale Theater 61, das sich zunehmend professionalisierte und sich seit 2017 Ensemble Integral nennt. Die freie Gruppe zeigt regelmäßig Inszenierungen unterschiedlichster Autor*innen, zuletzt „Turandot oder Theater als Fest“ nach Carlo Gozzi.

Irina Miller, wears a long sweater and has pulled the turtleneck up under her nose. She looks into the distance, lost in thought. © Klaudius Dziuk

Die Liebe zur russischen Sprache und Kultur und Millers Engagement für Flüchtende aus der Ukraine sind zwei Seiten einer Medaille: „Als der Krieg begann, wollten wir helfen“, sagt sie. Viele Ukrainer*innen sprechen Russisch oder verstehen es zumindest. Miller engagierte sich, half ihnen bei Amtsgängen, in Krankenhäusern, beim Arzt. „Ich wollte aber nicht nur als Privatperson auf diesen schrecklichen Krieg reagieren, sondern auch als Künstlerin“, sagt Miller. Deshalb organisierte sie eine Lesereihe zeitgenössischer Schriftsteller*innen aus der Urkraine, Weißrussland und Russland – als Benefizveranstaltung. Das Geld ging an Hilfsorganisationen in der Ukraine.

Einer dieser Texte war „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“ der belarussischen Literaturnobelpreis-Trägerin Swetlana Alexijewitsch. „Für uns hat der Krieg aber ein weibliches Gesicht, weil es überwiegend Frauen sind, die nach Deutschland kommen. Je mehr Gespräche ich mit ihnen geführt habe, desto stärker hatte ich den Eindruck, dass wir hier die weibliche Perspektive auf den Krieg reflektieren können.“

So entstand die Idee, Erfahrungsberichte zu sammeln, zu übersetzen und zu präsentieren – zunächst als Lesung. Wie am 25. Februar bei einer Veranstaltung in Köln anlässlich des Jahrestags der russischen Offensive, eine Kooperation mit der Hilfsorganisation United World Organisation und der Volkshochschule Köln: Miller las Auszüge aus dem Bericht von Viktoria Schischkina, leise knackend, pathosfrei und gerade deshalb so berührend. Davor und danach sang das Ensemble Dyvyna aus Donezk in der kraftvoll-sehnsüchtigen Mehrstimmigkeit der ukrainischen Folklore Lieder von Krieg, Trauer und Gemeinschaft. Das Ensemble musste bereits 2014 vor dem Krieg in den Westen der Ukraine fliehen, 2022 dann nach Deutschland.

Millers Sammeln und Übersetzen der Berichte wird über die Rechercheförderung von #TakeHeart finanziert, die im Rahmen von NEUSTART KULTUR vom Fonds Darstellende Künste vergeben wird. Die Förderung erlaubt ein flexibles Arbeiten unabhängig von einer konkreten Präsentation. Deshalb sammelt Miller immer weiter – und setzt sich auch in ihrer nächsten Inszenierung „TROJA – Agonie der Frauen“ mit ukrainischen Schauspielerinnen aus Kiev und Dnipro mit dem Thema Gewalt und Krieg aus weiblicher Sicht auseinander. Die geflüchteten Schauspielerinnen werden dabei mit ukrainischen Liedern den Bezug zum aktuellen Geschehen herstellen. „Diese Frauen haben es verdient, gehört zu werden“, sagt Miller. „Wir geben ihnen eine Stimme, ein Gesicht.“

Dass es Menschen gibt, die kritisieren, dass eine Künstlerin, die mit russischer Kultur sozialisiert wurde, sich nun um ukrainische Perspektiven bemüht, ist Miller bewusst. „Literatur spiegelt die Wirklichkeit. Wir müssen trennen zwischen Künstlern, die auch heute noch russische Propaganda betreiben und allen anderen.“ Ja, es gebe viele russisch sozialisierte Menschen, die auf der Seite Putins stehen, auch in Deutschland: „Sie gucken russisches Fernsehen und glauben, was sie da gesehen haben. Sie haben ihre Empathie verloren.“ Aber Anton Tschechow zum Beispiel sei ein ausgewiesener Humanist; es wäre fatal, ihn nicht mehr aufzuführen, nur weil er Russe war.

Ihre „Turandot“-Inszenierung mit dem Ensemble Integral, die im Januar in Köln Premiere feierte, hat sie deshalb trotz des Krieges als Hommage an den großen russischen Regisseur Jewgeni Wachtangow gestaltet, der 1922 eine legendäre Fassung der Komödie schuf. Eigentlich war das Stück als großes, befreiendes Theaterfest nach Corona geplant. Plötzlich erwies es sich als Herausforderung, auf den Proben Leichtigkeit und Witz herzustellen und hinterher wieder Flüchtende zu unterstützen und Berichte aus dem Krieg zu sammeln.

Wie den von Viktoria Schischkina. Ihr gelang es, zusammen mit ihrem schwer verletzten Mann über St. Petersburg nach Deutschland zu fliehen. Und doch ist nicht alles gut. „Wir gehen zum Arzt, in die Klinik. Ich behandle mein Bein, die Schrapnellwunden, ich erhole mich mental. Und natürlich ist es immer noch schwer zu akzeptieren, dass alles im Leben so ungerecht ist. Menschen sterben, Kinder sterben! Ich will Frieden.“


Von der Förderung in den Probenraum und auf die Bühne – die Kulturjournalist*innen Georg Kasch und Elena Philipp besuchen im Rahmen von #TakeHeart des Fonds Darstellende Künste geförderte Projekte.