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Nach vorne denken

By Esther Boldt

Welche Spuren haben die Erfahrungen der Pandemie physisch und psychisch hinterlassen? Wie haben sie die Arbeit von Tänzer*innen und Choreograf*innen beeinflusst? Diese Fragen werden seit einer Weile im Dachverband Tanz Deutschland (DTD) diskutiert. Sabine Gehm hat sie im Lab „Thinking Forward“ aufgegriffen und fragt: Wie verändern Social Distancing und Covid-Erkrankungen künstlerische Prozesse und Perspektiven? Ein Interview von Esther Boldt.

LABOR – Think Forward – Move Forward

Ester Boldt: Wie entstand das Lab „Think Forward – Move Forward“ des Dachverbandes Tanz Deutschland (DTD)?

Sabine Gehm: Während der Pandemie hat der DTD das Förderprogramm DIS-TANZEN initiiert. Es umfasste unter anderem eine Rechercheförderung und eine Förderung für Tanzvermittelnde, Tanzpädagog*innen und -schulen. Daraus entstand das DIS-TANZEN Festival, bei dem Tanzschaffende vorstellten, was sie im Rahmen ihrer Projekte erarbeitet und recherchiert hatten. Dabei kamen immer wieder bestimmte Fragen auf, die nicht weiter vertieft werden konnten. Im Rahmen unseres digitalen Labs wollten wir diese Fragen erneut aufgreifen und in kleineren Gesprächsrunden vertiefen. Dafür haben wir vier Termine angeboten, die sich in jeweils fünf moderierten Breakout-Rooms den Themenschwerpunkten Tanz und Körperlichkeit, Tanz und Lebensphasen, Kunstproduktion und Nachhaltigkeit, Tanz und Digitalität sowie Tanz und Öffentlichkeit widmeten. Die Themen wurden anhand der eigenen Arbeiten, Projekt- und Forschungsergebnisse diskutiert.

An audience sits in 4 rows of chairs in a kind of conference room. You see them from diagonally behind and in front of them you see a wall on which a film is running. © Theresa Beschnidt

Wie viele Tanzschaffenden haben an den Labs teilgenommen?

Wir wollten eine möglichst breite Teilnahme ermöglichen, weswegen wir vier Termine angeboten haben. Es waren insgesamt 60 Tanzschaffende dabei. Viele von ihnen haben an mehreren Time-Slots teilgenommen und ihre Erfahrungen zu verschiedenen Themenschwerpunkten eingebracht. Das Spektrum der Teilnehmenden umfasste Künstler*innen, die eigene Choreografien schaffen, solche, die vermittelnd tätig sind und sich der Forschung oder der Archivierung widmen.

Was haben die Tanzschaffenden in den Labs berichtet?

Viele berichteten von einer Art Schockstarre, zu Beginn der Pandemie, ausgelöst durch die Erfahrung, völlig ausgebremst, auf sich selbst zurückgeworfen und isoliert zu sein. Außerdem ging mit der Pandemie auch eine hohe wirtschaftliche Unsicherheit einher. Nach der anfänglichen Lähmung entwickelte sich aber ein kreativer Umgang mit der Situation, sei es durch die Entwicklung neuer künstlerischer Formate oder den Versuch, andere Wege des Trainings zu finden – Stretching am Küchentresen beispielsweise oder gemeinsames Training online. So sind viele Solo- und kollaborative Arbeiten auf Distanz über soziale Medien oder Videotreffen entstanden. Es hat sich auch ein neues Bewusstsein für Bewegung und ihre Notwendigkeit entwickelt. Bewegungsräume waren für eine Zeitlang ja komplett eingeschränkt. Dadurch haben viele das Pausieren für sich entdeckt, das in gewisser Weise auch als Bewegung verstanden werden kann. Die Auseinandersetzung mit der aktuellen Situation hat also noch einmal das Bewusstsein für die Möglichkeiten des Tanzes erweitert. Zugleich erzeugte das permanente Re-Thinking und Re-Planing eine große Müdigkeit, wenn sich, kaum dass man einen Weg gefunden hatte, die Verordnungen änderten und man wieder neue Lösungen finden musste, um miteinander zu arbeiten. Aber der Tanz bietet eben auch immer wieder die Möglichkeit, aktiv zu werden und mit dem eigenen Körper zu arbeiten.

Hat die Pandemie die künstlerische und gesellschaftliche Bedeutung des Tanzes verändert?

In gewisser Weise hat die Pandemie das Bewusstsein für die Bedeutung des Tanzes geschärft. Die Tänzer*innen arbeiten mit dem Körper, mit Bewegung und Beziehungen. Der Körper ist schließlich real und der Ausgangspunkt unserer Wahrnehmung. Gerade das Erleben von Social Distancing hat vielen vor Augen geführt, dass die Interaktion zwischen Menschen fundamental und unverzichtbar ist. Wir brauchen das gemeinsame Schaffen, und der Tanz bietet dies – sowohl analog als auch digital.

Auch das Verständnis darüber, was Bewegung überhaupt ist oder sein kann, hat sich erweitert. Es gab Zeit und Möglichkeiten, durch die stipendienartige Rechercheförderung, die eigene Arbeitspraxis zu reflektieren, neue Themen anzugehen, sich mit anderen auszutauschen, neue Kooperationen einzugehen und verstärkt interdisziplinär zu arbeiten.

Auch wurden neue Räume erschlossen. Die Bühnen standen eine Zeitlang gar nicht zur Verfügung, so gingen die Tanzschaffenden in den digitalen oder in den öffentlichen Raum – ins Freie – wofür natürlich auch neue Formen und Formate geschaffen werden mussten.

Gerade in der strengen Lockdown-Zeit wurde nochmal deutlich, wie sehr es die Kunstform Tanz in ihrer Körperlichkeit ermöglicht, miteinander in Kontakt und in Bewegung zu kommen. Tanzvermittler*innen haben sich viel damit beschäftigt, wie sie ihre Kurse fortführen und ihre Schüler*innen – Kinder, Jugendlichen und älteren Menschen – weiterhin erreichen und aus der Bewegungslosigkeit herausholen können. Sie haben beispielsweise ältere Menschen an digitale Werkzeuge herangeführt, ihnen gezeigt, wie das Wohnzimmer zum Studio werden kann und wie man sich wieder bewegen, miteinander tanzen kann.

Seven dancers are arranged in a row, but all dance on their own. © Theresa Beschnidt

Tanz als kollektive Kunstform hatte es besonders schwer während der Pandemie. Gab es Lösungen oder Herangehensweisen, die Sie überrascht haben?

Tatsächlich hat das Digitale neue Möglichkeitsräume geschaffen und viele Tanzschaffende erwähnten, dass sie in diesem Bereich neue Skills entdeckt oder alte weiterentwickelt haben. Manche Ensembles haben ganze Choreografien per Zoom erarbeitet. Videokonferenzen sind noch vergleichsweise übersichtlich. Doch wie kann ich ein Stück, das ich eigentlich gern auf der Bühne gezeigt hätte, ins Digitale übertragen und einem Publikum nahebringen, ohne es einfach nur aus der Totalen abzufilmen? Dafür musste über Konzepte beziehungsweise eigene Dramaturgien nachgedacht werden. Die Künstler*innen mussten andere Herangehensweisen entwickeln, auch in Hinblick auf die Rolle der Zuschauer*innen. Die analogen Aufführungen leben von der Präsenz der Tänzer*innen und des Publikums und seinen Reaktionen im Raum. Daraus ergab sich die Frage, ob und wie sich diese Ko-Präsenz und konkrete Teilhabe im Theater ins Digitale übersetzen lassen. Einige Tanzschaffende setzten sich daher mit Möglichkeiten aus der Gamingbranche auseinander und experimentierten damit.

Wurde das Publikum durch seine Abwesenheit anders wahrgenommen? Und wie haben sich die neuen Förderungen auf die Arbeit der Tanzschaffenden ausgewirkt?

Ja, das Präsenzpublikum hat natürlich gefehlt. Vom Einlass bis zum Applaus. Aber wie eben beschrieben, haben viele Künstler*innen auch hier neu gedacht, an anderen Formaten gearbeitet. Sie sind raus in die Stadt oder den ländlichen Raum gegangen, um das Publikum zu erreichen oder um andere Wege der Teilhabe zu schaffen.

Durch fehlende Auftrittsmöglichkeiten einerseits und die Rechercheförderungen andererseits hatten viele Künstler*innen erstmals Zeit, ihre Arbeit zu reflektieren, und ihre zumeist unsichtbare Arbeit von Konzeption über Recherche bis hin zu den Proben wurde erstmals honoriert und damit wertgeschätzt. Für viele war es eine ganz grundlegende Erfahrung, dass der Prozess im Vordergrund stand und nicht die Produktion. Es gibt den großen Wunsch, dass dies fortgesetzt wird.

Betont wurde aber auch das Miteinander, das Aufbauen von Netzwerken, der Austausch, den viele gern fortsetzen wollen. Gemeinsames Arbeiten kann – im Gegensatz zum Konkurrenzdenken – für alle Seiten ein gemeinsames Wachstum bedeuten. Auch der Wissenstransfer hat eine große Rolle gespielt, in Hinblick auf Produktionsmethoden oder digitale Tools.

Viele der Fragen und Aspekte, die im Rahmen des Labs aufgeworfen wurden, wird der Dachverband Tanz Deutschland sicherlich nochmal aufgreifen – unter anderem die Frage nach weiterer Vernetzung, Diversifizierung oder den dringenden Wunsch der Künstler*innen nach einer Fortsetzung prozessorientierter Stipendien- und Rechercheförderung.

Esther Boldt studierte in Gießen Angewandte Theaterwissenschaft. Sie arbeitet als Autorin und Theaterkritikerin u.a. für nachtkritik.de, Theater heute, tanz Zeitschrift und den Hessischen Rundfunk. Seit 2019 leitet sie gemeinsam mit Philipp Schulte die Akademie für zeitgenössischen Theaterjournalismus.

Im Sommer haben freie Künstler*innen-Gruppen in 30 bundesweiten Artist Labs die krisenhafte Gegenwart untersucht. Sebastian Köthe, Elisabeth Wellershaus und ein Team an Gastautor*innen haben ihnen dabei über die Schulter geschaut.