Sorry, this page has not been translated yet.

Welcome and Bienvenue: People formerly known as audience, Teilnehmer*innen, User*innen, Communities

Eröffnungsrede des Artist Labs Gremiums beim B.A.L.L. – Bundesweites Artist Labor der Labore in Hamburg

Sie waren von der ersten Stunde dabei: Benjamin Foerster-Baldenius. Dan Thy Nguyen, Mable Preach, Moritz von Rappard, Laia Ribera Cañénguez, Anne Schneider, Felizitas Stilleke, Eva Stöhr, Mateusz Szymanówka, Caspar Weimann. Als interdisziplinäres, zehnköpfiges Gremium wählten sie aus den eingegangen Einsendungen 64 Konzepte aus, die von Künstler*innen und Kunstschaffenden im Auftrag des Fonds Darstellende Künste bundesweit in Artist Labs umgesetzt wurden. Mehr noch: Sie begleiteten die Artist Labs, schlugen Brücken, traten in den Austausch, trugen zusammen und weiter. Ihre Erlebnisse, Eindrücke und Erfahrungen, Methodisches und Visionäres fassten sie zum Auftakt des B.A.L.L. – Bundesweites Artist Labor der Labore in einer vielstimmigen Eröffnungsrede zusammen:

Mable Preach: Wir sind eine Gruppe von 10 Personen und sitzen auf Stühlen in einem halben Oval auf der Bühne. Wir haben unterschiedliche Hintergründe, unterschiedliche Größen, Haarfarben und Hautfarben. Einige von uns tragen eine Brille …und wir haben alle sehr sehr nice Outfits.

Und wir sind das zehnköpfige Gremium, das vom Fonds Darstellende Künste mit der Auswahl der 64 Artist Labs beauftragt wurde, die auch das Fundament dieser zweitägigen Veranstaltung bilden. Wir freuen uns sehr, dass wir heute endlich alle zusammenkommen - also literally wir zusammen und vor allem mit Euch und allen Laborant*innen, politisch Verantwortlichen, Fachexpert*innen, Freund*innen und Interessierten. Auch von unserer Seite, herzlich Willkommen!

In the foreground on the right is a Black woman speaking into a microphone. She is sitting on a chair, looking at a piece of paper in her hand and laughing. Next to her are other people sitting in chairs. © Alexandra Polina

Mable Preach giving the opening remarks.

Felizitas Stilleke: Mit der Entscheidung, sich von einem zehnköpfigen Gremium in der Vergabe der Mittel für die Labore beraten zu lassen, die auch selbst alle Teil der Freien Darstellenden Künste sind, ist der Fonds selbst bereits in eine Art künstlerisches Labor getreten. Der Fonds hat sich darauf eingelassen, viele – wir betonen viele – Kommunikationskanäle auf einmal zu öffnen und das Aushandeln (mit uns) als konstanten Modus zu ertragen. Parallel dazu waren wir wiederum geladen, je ein eigenes Labor zu eröffnen und fleißig mit über die Fragen zu Publika zu evaluieren. Das machte es vielleicht in der Organisation nicht gerade einfacher und konfrontierte uns mit kritischen Fragen zu unserer eigenen Rolle, es half aber vor allen Dingen dabei, die Perspektive der Schaffenden als Ausgangspunkt jeder Entscheidung mit einzubinden. Und da wir alle zusätzlich noch je 5-7 weitere Labore auf dem Weg bis heute begleitet haben, vermengen sich Erfahrungswissen, Austausch und Kollektivität zu der Gemengelage, vor der wir heute stehen. Wir bedanken uns an dieser Stelle für das Vertrauen und die Nerven des Fonds und auch Offenheit der anderen Künstler*innen und ihrer Labore und sind froh, dass wir am Ende dieses Versuchs in der Lage waren, zu zehnt diese Rede zu schreiben.

Dan Thy Nguyen: Evaluation bedeutet „Schätzen“ und „Beurteilen“. Es lässt sich etymologisch zudem auf „bei Kräften sein” zurückführen. Und das möchten wir über all die neoliberalen Verwertungszusammenhänge stellen, die eine vom Bund beauftragte Evaluationsstudie mit sich bringen könnte. Nein, wir danken dem Fonds Darstellende Künste, dass er diesen Auftrag an die Künstler*innen und Kulturarbeiter*innen direkt übergeben hat – und damit die Möglichkeit, nach einer von Pandemie, Kriegen und Zusammenbrüchen geprägten Zeit, Kraft zu spenden und Orte zu etablieren, die Kräfte wieder mobilisieren konnten. Sei es in der Sammlung von Wissen, dem Experimentieren mit Bestehendem oder dem Zusammenführen bislang unzusammenhängender Energien. Danke für die Kraft der Evaluation!

Moritz von Rappard: Dabei hat diese Evaluation gar nicht erst versucht, die Erfahrungen aus der Corona-Zeit mit einer einzelnen Methode über einen Kamm zu scheren. Das Evaluationskonzept, die offene Ausschreibung, die Heterogenität dieses Gremiums hier und vor allem die Kreativität aller beteiligten Akteur*innen der Szene haben dazu beigetragen, dass es mehr als in herkömmlichen Verfahren gelungen ist, Unterschiedlichkeit und Vielfalt herauszustellen – wenngleich natürlich auch viele Perspektiven in unserer Runde und auch unter den Artist Labs nicht repräsentiert sind.

Mit Blick auf die Bewerbungen und die Auswahl der beauftragten Labore muss ausdrücklich betont werden, dass es das noch nicht gewesen sein kann! Formate wie dieses haben sich längst noch nicht so weit herumgesprochen, wie es sinnvoll und notwendig wäre.

Wichtig für die besondere und höchst innovative Qualität dieser Evaluation war sicher auch die Offenheit der Methode, insofern, als dass es den Beteiligten überlassen war, sich mit einer Arbeitsweise zu bewerben, die ihrem jeweiligen Wirkungsfeld angemessen ist. Sie ließ sie dort forschen und fragen, wo aus ihrer Sicht der jeweils größte Bedarf ist. Und sie ließ sie auf ausdrücklich künstlerische Weise forschen und dafür unterschiedlichste Formate wählen.

Benjamin Foerster-Baldenius: Somit trägt die strukturelle Anlage dieser Evaluation dazu bei, dass die Ergebnisse eben nicht in irgendwelchen Schubladen landen, sondern im Eigeninteresse der Beteiligten auf dem besten Weg bereits in eine direkte Umsetzung sind. Noch dazu konnten sehr unterschiedliche, vielleicht auch widersprüchliche Erfahrungen gemacht werden.

Tatsächlich wurden mit der Maßnahme der Artist Labs die Arbeitsweisen der Freien Darstellenden Künste mit Blick auf die adressierten, involvierten und erreichten Publika erstmals bundesweit in diesem Umfang und so zumindest ansatzweise evaluiert.

Anne Schneider: Die Ergebnisse belegen eine spezifische Haltung bzw. ein spezifisches Interesse der Akteur*innen an ihrem gesellschaftlichen Umfeld, das bereits von zahlreichen Vertreter*innen der Gründer*innengeneration als ausschlaggebendes Kriterium für das Agieren im Kontext des Freien Theaters bzw. der Freien Darstellenden Künste benannt wurde und wird: Es geht um Auseinandersetzung, Einbeziehung, Durchdringung – um einen aktiven Beitrag zur Ausgestaltung einer solidarischen und zukunftsfähigen Demokratie.

Und die Ergebnisse zeigen auch, dass die gemeinsam mit Menschen aus der künstlerischen Praxis entwickelten Vorschläge für notwendige Rahmenbedingungen für diese Arbeit genau die richtigen waren. Die Förderansätze der vergangenen Jahre konnten die Wirkkraft der Künste vor allem erhöhen und die Wirkkreise erweitern, weil sie einer überregional und bundesweit agierenden, dynamischen Szene Rechnung getragen und dem Innovationspotenzial, wie wir es gerade beschrieben haben, vertraut haben.

Erstmals entschied nicht der Wohnort von Akteur*innen über die Möglichkeit, ob wir unser künstlerisches Potential ausschöpfen können oder nicht. Erstmals profitierten auch sogenannte strukturschwache Regionen von den spezifischen Arbeitsweisen unserer Szenen. Neue Beziehungen entstanden in die Gesellschaft, in andere Disziplinen hinein. Von ihnen erzählen die hier versammelten Artist Labs.

In the center of the image is a woman with glasses sitting on a chair, speaking into a microphone. The two people to her left and right are facing her. © Alexandra Polina

Eva Stöhr

Eva Stöhr: Über 64 Labore zusammenfassend zu sprechen und dabei der Tiefe der Beschäftigung innerhalb der Labore gerecht zu werden, ist im Zeitraum dieser Eröffnungsrede unmöglich. Als begleitendes Team haben wir sehr unterschiedliche Einblicke gewonnen, für die wir uns an dieser Stelle sehr herzlich bedanken wollen. Mehr als punktuelle Einblicke waren in der Anzahl der Labs aber nicht möglich. Unser Wissen über die Labore ist also lückenhaft. Wenn wir über die Labore sprechen, sprechen wir also auch aus einer beobachtenden Perspektive, filtern, verkürzen, interpretieren, übersetzen, projizieren – kurz, wir sind ein Publikum. Etwas, was uns dabei aufgefallen ist und was alle Artist Labs miteinander verbindet, sind zwei Herausforderungen:

Wie bringen wir als Akteur*innen der Freien Darstellenden Künste uns und unsere künstlerische Praxis produktiv in gesamtgesellschaftliche Prozesse ein?

Wie können wir Solidarität, Demokratie, Gleichberechtigung aller Menschen durch unsere künstlerische Praxis stärken?

Was die Menschen in diesem Raum also alle miteinander verbindet, ist der Wunsch nach Partizipation an gesellschaftlichen Entwicklungen. Und da Partizipation das Gegenteil von Trennung ist, wird mit diesem Anliegen auch die binäre Aufteilung in Künstler*innen und ihr Publikum, in Bühne und Zuschauer*innenraum herausgefordert und radikal abgeschafft. Viele Akteur*innen der Freien Darstellenden Künste unterscheiden nicht mehr in Publikum und Nicht-Publikum. Sie finden neue Begriffe:

Caspar Weimann: People formerly known as audience, Teilnehmer*innen, User*innen, Communities, Dorf- bzw. Stadtgesellschaft, Kompliz*innen, Beteiligte, Expert*innen, Bürger*innen, Tester*innen, Zielgruppe, Follower*innen, Crowd, Zuschauende, (zahlende) Gäste, Abonnent*innen, Mitwirkende, Co-Hosts, Anwesende, Besucher*innen, passive bzw. aktive Mitspieler*innen, Applaudierende, Mitleidende, Gemeinde, Dunstkreis, Co-Kreateur*innen, Allianzen, Communizer, Kollaborateur*innen, Gegenüber, glokale PUBLIKA und viele mehr.

Mateusz Szymanówka: Auch weist die Vielzahl der Begriffe darauf hin, dass ein Publikum zu keinem Zeitpunkt eine homogene Masse bildet, es setzt sich immer aus mehreren Öffentlichkeiten zusammen. Vielleicht sollte man den Begriff Publikum also von seinem Singular befreien und nur noch von Publika sprechen.

Communities – als Publika von heute und morgen – scheinen dabei das Wort der Stunde zu sein. Was würde die Umwandlung vom Audience Development zum Community Building bedeuten? Weg von der Marketinglogik hin zu intersektionaler Solidarität, wo Identitäten mehr als Marken, Menschen mehr als „Zielgruppen“ sind; und wo mit dem Begriff „breites Publikum" nicht nur die weiße heterosexuelle Mittelschicht gemeint ist?

Laia Ribera Cañénguez: Die zusätzlichen Mittel, die während der Pandemie u.a. in Deutschland für die Kunst zur Verfügung standen, gaben vielen Künstler*innen die Möglichkeit, Szenen bzw. Menschen in ihre künstlerischen Projekte einzubinden und für ihre Arbeit angemessen zu honorieren, die von vornherein Probleme beim Zugang zu Ressourcen haben. Für die Communities, die nicht so leicht den Weg in die Kunstinstitutionen finden, für die Kunst aber dennoch täglich gelebte Praxis ist. Für Räume, wo demokratische Werte praktiziert werden, Wissen und soziale Gerechtigkeit verkörpert sind und wo die Rollen von den Performenden und den Zuschauenden ständig wechseln. Es ist symptomatisch, dass in der medialen Berichterstattung der vergangenen Jahre gerade solche Orte zu kurz kamen, in denen das Gegenteil von Publikumsrückgang zu beobachten war, weil diese zahlreichen Beispiele nicht in die Erzählungen über „Bubbles“ und „Wokeness“, den angeblichen Grund der halb leeren Publikumsräume wie in vielen Stadt- und Staatstheatern, passten.

Anne Schneider: In diesem Kontext beobachteten wir Labore, die sich mit der Erforschung der Möglichkeiten des Miteinanders in ländlichen Regionen beschäftigt haben, die von einem überproportionalen Bevölkerungsrückgang und einer Zuspitzung der ökonomischen Situation geprägt sind. Hier wurde besonders deutlich, dass es eine dringende Notwendigkeit gibt, neue und womöglich wirklich andere Beziehungen im Sinne eines zukunftsweisenden Miteinanders zu knüpfen. Zahlreiche Akteur*innen der Szene konnten dabei auf bereits erarbeitete Netzwerke aufbauen und erprobte Arbeitsweisen vertiefen, auch neue Beziehungen entstanden und bisher nicht erreichte Menschen konnten für das Theater gewonnen werden.

Mable Preach: Gleichzeitig begaben sich auch Künstler*innen aus den großen Städten auf die Suche nach Möglichkeiten der Überwindung bestehender Dichotomien von Stadt und Land. Daraus entstanden neue Impulse, aber auch komplexe Fragestellungen und teilweise Verunsicherungen für die ansässige Bevölkerung. Diese postpandemische, stellenweise Hybridisierung von urbanen und ländlichen Impulsen, Lebensstilen und Ideen ist eine Folge aus der Pandemie, die Chancen und Herausforderungen für das soziale Leben birgt, wo die Labs mithelfen, eben diese zu erörtern und zu untersuchen. Gerade der als „digital” markierte Raum, so die Erkenntnis aus einigen Laboren, bietet bisher zu wenig erforschte Möglichkeiten für die Begegnung von Menschen aus der Stadt und vom Land mit den Mitteln der Kunst.

A person with a dark baseball cap and a red sweater is sitting on a chair. The person is holding a microphone in the left hand and a cell phone in the right. © Alexandra Polina

Caspar Weimann: Außerdem zeigt sich innerhalb der Labore, dass postdigitale Diskurse ein selbstverständlicher Teil geworden sind in der Auseinandersetzung mit Kunst in einer digitalisierten Wirklichkeit. Die Kunstschaffenden, die noch vor einigen Jahren als „digitale“ Theatermacher*innen bezeichnet und damit als anders, fremd, unverbunden markiert wurden, weisen heute darauf hin, wie stark sich die Realität in „digitalen” und „analogen” Wechselbeziehungen konstituiert und dass sich physisch soziale Begegnung durch Interaktionen in digital sozialen Räumen transformiert und umgekehrt. Wir existieren hybrid und unsere gemeinsamen Räume längst auch. Unter den Laboren gibt es sogar einige, die Publikumskontakte in postdigitalen Kontexten erforschen, die komplett neue Fragestellungen aufwerfen: Wie kann VR genutzt werden, um Exiltheater in Zeiten von Krieg zu machen? Wie kann bezahlte Reichweite auf Social Media als künstlerisch interventionistisches Vermittlungstool genutzt werden? Wie können Kunstprojekte vor Online-Publika geschützt werden, die nicht bewusst angesprochen wurden, die aber die Beteiligten trotzdem zur Zielscheibe ihrer Gewalt machen?

Mateusz Szymanówka: In vielen Labs wurden die Erfahrungen marginalisierter Gruppen – Menschen mit Behinderung, Migrant*innen und Asylsuchende, BIPOC, Kinder, Jugendliche und ältere Menschen, die LGBTQIA+-Community und/oder sozial benachteiligte Menschen – vor und während der Pandemie diskutiert. Und wie Theater und andere Kultureinrichtungen von Räumen lernen können, die sich an Werten wie Awareness, Respekt, Geselligkeit, kinship, Schwesternschaft oder access intimacy orientieren.

Laia Ribera Cañénguez: Es besteht ein großes Bedürfnis, Klasse und Rassismus im Feld des Freien Theaters intersektional zu untersuchen und Formen der Sprachlosigkeit in einer Gesellschaft, in der Kritik an Ungerechtigkeit zu oft unerhört bleibt, zu erforschen. Es besteht ein großes Interesse, Förderstrukturen zu erweitern oder umzuwandeln, damit migrantische und transnationale Künstler*innen einen Einstieg und Platz finden und berufliche Erfahrung im globalen Süden und Mehrsprachigkeit als Merkmale und Mehrwerte der Freien Szene anerkannt und gefördert werden. Es besteht ein großes Bedürfnis, die von den Förderorganisationen und Kunstinstitutionen praktizierten Hierarchien zwischen Künstler*innen, Publika und Personal zu hinterfragen und Rahmen und Formate zu schaffen, die für Diskriminierung und soziale Ungerechtigkeit sensibilisiert sind. Und es besteht der Wunsch, diese Diskurse in den Räumen der öffentlichen Kunstinstitutionen öffentlich zu führen, diese herauszufordern und gemeinsam neue Wege zu finden.

Eva Stöhr: Die durch die breite Förderung der vergangenen Pandemie-Jahre ermöglichte Öffnung für vielfältige Erfahrungen und Perspektiven unter Künstler*innen und Publika sollte erhalten bleiben. Erstmals konnten Kosten für notwendige Assistenzen für Menschen mit Behinderung in Förderanträgen geltend gemacht werden. Erstmals konnten im produktiven Zusammenspiel von Künstler*innen und Menschen, die von der Gesellschaft in verschiedenster Weise ausgeschlossen werden, fundierte Konzepte für eine künstlerische Praxis entwickelt werden, die wirklich alle Menschen involviert und adressiert.

A man with black hair and glasses in a dark shirt and jeans is sitting on a chair. In his right hand he holds a microphone into which he speaks. He raises his left hand to a gesture that supports what he is saying. © Alexandra Polina

Dan Thy Nguyen

Dan Thy Nguyen: Fragen wie Dekolonisierung, Queer-Feminismus oder Access sind keine abstrakten akademischen Theorien, sondern Aufforderungen zu konkretem Handeln. Besonders angesichts des rechten Backlashs in Deutschland und weltweit brauchen wir Kunstinstitutionen, die zu Safer Spaces für ihre Künstler*innen und Mitarbeiter*innen und für ihre Publika werden.

Die Clubkultur, die Ballroom-Szene, die Drag-Szene und andere Kontexte, die auch in Labs vertreten waren und die von queeren und BIPoC-Communities selbstbestimmt werden, zeigen uns, wie man Räume schaffen kann, ohne sie elitär zu kodieren, und wie man dies mit Fürsorge und Aufmerksamkeit tut. Marginalisierte Gruppen auf den Bühnen und in den Spielplänen (sehr oft als Tokens) reichen nicht aus, um die Publika zu diversifizieren, wenn der entsprechende Wandel in den Teams der Institutionen und unter den Menschen in Führungspositionen nicht folgt.

Es braucht eine gerechtere Umverteilung von Anerkennung und materiellem Reichtum, Platz für radikale Vielfalt, horizontale Mitgestaltung und breitgefächerte Teilhabe. Unser Wunsch ist es, solidarische, handlungsfähige Netzwerke, Allianzen und Förderstrukturen aufbauen zu können, in denen wir uns auf Augenhöhe begegnen und dafür zu sorgen, dass die gesellschaftliche Vielfalt auch auf und hinter der Bühne gerecht (re)präsentiert wird.

Moritz von Rappard: Auch bei diesem B.A.L.L. müssen wir uns fragen, wer und aus welchen Gründen wo und wann nicht dabei sein kann. Für wen sind bestimmte Teile der Veranstaltung nicht barrierefrei? Welcher Raum lässt sich nur über eine Treppe erreichen? Was würde in diesen Fällen Solidarität praktisch bedeuten? Menschen werden durch Barrieren und gesellschaftliche Ausschlüsse behindert. Barrierefreiheit benötigt die Haltungsänderung der ganzen Theaterkultur, indem behinderte, Taube und chronisch kranke Menschen gleichberechtigt in Projekte als Publika, Kollaborateur*innen und künstlerische Leitungen eingebunden werden. Dies zu gewährleisten, ist in der UN-Behindertenrechtskonvention festgeschrieben, was sich zukünftig noch stärker in Kulturangeboten und -strukturen abbilden muss, mit dem Bewusstsein, dass auch insbesondere hier Zuschauer*innenzahlen nicht der Maßstab für Erfolg sind.

Mable Preach: In den Laboren haben sich Menschen mit unterschiedlichsten „professionellen” und „nicht-professionellen” Biografien verbunden, um gemeinsam nach Fragen oder künstlerischen Lösungen für die postpandemische/digitalisierte/transformierende/komplexe Realität zu suchen.

Es wird deutlich, dass die Kunstproduktion der Freien Darstellenden Künste ein Community Effort ist. Sie entwickelt sich in Schwarmintelligenzen, aus gemeinsamen Learnings und Teachings heraus und markiert dabei die Unterscheidung in Künstler*in und Nicht-Künstler*in als obsolet und nicht mehr zeitgemäß. Die Crowd hier vor Ort ist eine gemixte.

Caspar Weimann: Hier im Raum sind Visual Artists, Städteplaner*innen, Handwerker*innen, Coder*innen, Performer*innen, Wissenschaftler*innen, Gamer*innen, Musiker*innen, Aktivist*innen, DJs, Dramaturg*innen, Tänzer*innen, Architekt*innen, Sozialarbeiter*innen, Szenograf*innen, Choreograf*innen, Leerstandsbespieler*innen, Kurator*innen, Produzent*innen, Audiowalkersteller*innen, Narrative Designer*innen, Trauerredner*innen, Bauchredner*innen, Figurenspieler*innen, Figurenbauer*innen, Kinder, Schüler*innen, Student*innen, Rentner*innen, Techniker*innen, Berufseinsteiger*innen und viele mehr.

Mable Preach: Und alle haben sich in den Laboren in gemeinsame, neue Forschungsbereiche künstlerischer Teilhabe und kollektiver Begegnung bewegt und dabei Formate erforscht, in denen sich sowohl die Macher*innen als auch ihre Publika als Mitgestaltungskraft ihrer Wirklichkeit emanzipieren können.

Ten people sit lined up on a stage. They hold slips of paper in their hands. A Black woman speaks into a microphone. There are smiles on many faces. © Alexandra Polina

Opening speech of the committee for the selection of the Labs.

Caspar Weimann: Die Labore können also als transdisziplinäre Keimzellen verstanden werden. Transdisziplinär deshalb, weil das geteilte Wissen verschiedener Kunstformen die partizipierenden Disziplinen transformiert, uns alternative Wege weist und uns dabei hilft, den Bullshit, den wir uns in unserer eigenen Kunstform über Jahre antrainiert haben, als Bullshit zu markieren. Transdisziplinär auch deshalb, weil wir uns dagegen resistent machen müssen, strukturell in Disziplinen gedrängt zu werden. Auch hier beim B.A.L.L. bilden sich sogenannte Cluster, die versuchen, komplexe Laborvorhaben in Überschriften zu vereinfachen. Als wir die Labore im Juni unter uns „aufgeteilt” und dabei versucht haben, den zehn Bereichen Übertitel zu geben, haben wir gemerkt, dass das gar nicht möglich ist. Wie auch, wenn so viele Labore an der Überwindung von Grenzen arbeiten, am Auflösen von Binaritäten, am Hinterfragen der Spielregeln? Aber Transdisziplinarität wird uns nicht beigebracht, sondern im Laufe unserer Schul- und Ausbildungszeit abtrainiert. Auch deshalb brauchen wir Labore wie die 64: um transdisziplinäres Arbeiten ganz praktisch und konkret zu üben.

Mateusz Szymanówka: Mit dieser Energie erweitern sich sowohl die Formate als auch die Perspektiven der Freien Darstellenden Künste ständig selbst. In den letzten Jahren haben sich Audiowalks und VR-Erlebnisse als selbstverständlich etabliert. Ständig werden neue Begegnungs- und Partizipationsformate entwickelt. Die Potenziale transdisziplinärer Forschung sind unbegrenzt, bergen Innovation und erzeugen Strahlkraft auch in Wirkfeldern, die sich nicht als Teil der Freien Darstellenden Künste einordnen.

Felizitas Stilleke: Die Freien Darstellenden Künste stehen genuin für diese Form der Forschung, in vielen Bereichen auch für Evaluation als künstlerisches Tool. Was sich mit der Neustart Kultur Förderung jetzt aber verändert hat, ist, dass das Ganze unter veränderten Bedingungen passieren konnte. An manchen Stellen sogar ohne Erschöpfungszyklen und übermäßigen Druck – und wenn doch, dann wenigstens ein bisschen fairer bezahlt. Diese Förderungen sind am Ende kleine, aber wichtige Schritte, die uns als Künstler*innen der Freien Darstellenden Künste einerseits aus prekären Arbeitsbedingen verhelfen, die sich aus wenigen Förderquellen und einer hohen Konkurrenz um diese ergeben und andererseits die Basis dafür schaffen, dass wir Beziehungen aufbauen und pflegen können, die notwendig sind für unsere Kunst, die nicht vom Werk sondern vom künstlerischen Prozess und einem Miteinander ausgehen.

Anne Schneider: Die Ergebnisse der Labore zeigen, dass wir gerade mit Blick auf die bevorstehenden immensen Veränderungsprozesse enorm von den Künsten profitieren können. Hier gilt es anzuknüpfen!

Dringend benötigen wir eine Förderarchitektur, die Grundlagen für Allianzen einer nachhaltigen Kunstpraxis schafft. Wir benötigen Finanzierungsansätze für transdisziplinäre und dynamische Prozesse, die belastbare Beziehungen zur Folge haben! Wir benötigen Planungssicherheit, wie überjährige Förderung oder ein Grundeinkommen sie ermöglichen würde.

Ein Mann mit grauen kinnlangen Haaren sitzt auf einem Stuhl. Er trägt einen grünen Pullover und Jeans. In seiner rechten Hand hält er ein Mikrofon, in das er spricht. Den linken Unterarm hat er auf seinem Oberschenkel abgelegt. In der linken Han hält er locker ein paar Zettel. © Alexandra Polina

Benjamin Foerster-Baldenius

Benjamin Foerster-Baldenius: Und – das darf man in der zunehmend kapitalisierten urbanen Umgebung, in der wir – auch auf dem Land – arbeiten, nicht vergessen: wir brauchen auch Räume. Wir brauchen gesicherte Räume, langfristig nutzbare, gute Räume, die im Rahmen der Fördermöglichkeiten bezahlbar sind, die barrierefrei und flexibel nutzbar sind. Wir fordern das gleiche Recht wie Sportvereine – auf Räume in öffentlichen Gebäuden.

Eva Stöhr: Daher braucht es dringend einen Runden Tisch von Kommunen, Ländern und Bund, um tragfähige Lösungen für die in den Zeiten der Pandemie angestoßene Entwicklung nun produktiv in die postpandemischen, aber nicht weniger krisengebeutelten Zeiten zu übersetzen! Und dies geht nur mit entsprechender Planungssicherheit.

Dan Thy Nguyen: Die Sonderrolle des Bundes mit Blick auf die überregionale Arbeitspraxis freier Akteur*innen muss anerkannt werden!


Laia Ribera Cañénguez: Und es braucht aktuell starke Allianzen, um diesen Prozess aus der Praxis heraus gut zu begleiten!

Benjamin Foerster-Baldenius: Die Auseinandersetzung mit Publika führt uns auf vielfältigste Weise vor Augen, dass es um die Frage danach geht, was einen Ort zu einem „guten Ort”, zu einem „offenen Haus” macht. Machtstrukturen wurden diskutiert und in ihre Einzelteile zerlegt.

Felizitas Stilleke: Und liebe Freie Szene, lasst uns an dieser Praxis des Zerlegens, Auseinandernehmens, Neuzusammenstellens und Wiederbeginnens festhalten. Von uns aus kann es auch weiterhin „Neustart” heißen, wenn wir damit immer wieder das konstante Abschaffen meinen.

Eva Stöhr: Wir müssen uns die Möglichkeit schenken, jeden einzelnen Stuhl neu in die Institutionen hineinzutragen und vielleicht auch jeden einzelnen Gast in unseren Shows an den Platz zu begleiten.

Moritz von Rappard: Lasst uns die Neugierde und den offenen Forschungsgeist mitnehmen, die sich in den vergangenen drei Monaten mit dem Evaluieren ausgebreitet hat.

Mateusz Szymanówka: Zugleich ist es natürlich wichtig, die Erfahrungen der einzelnen Labs hier und heute zusammenzubringen: Lasst uns schauen, wo wir gerade im Hinblick auf die Unterschiede voneinander lernen können.

Mable Preach: Lasst uns darüber hinaus herausarbeiten, wo es Überschneidungen gibt, wo sich Synergien entwickeln lassen und wo politische Forderungen abgeleitet werden müssen, weil es hier natürlich um weit mehr als nur lokale, spezifische Herausforderungen geht.

Es geht um Alle. Vielen Dank!