QUESTS IM TEST
Von Yasmine Salimi
Das Artist Lab „Performing Technology“ am HAU Hebbel am Ufer im Rahmen der Forschungsplattform HAU4 hat sich mit der Frage beschäftigt, wie das digitale Theater der Zukunft aussieht. Um spielerische und spekulative Antworten darauf zu finden, haben die Beteiligten ein Live Action Role Play mit individuellen Charakteren und passenden thematischen Quests entwickelt und erprobt.
LABOR – Performing Technology
Was passiert, wenn Performance-, Spiel- und Internetkultur sich gegenseitig infizieren? Angeregt von Feminismus, Kritik und Lust beschäftigt sich das interdisziplinäre Kollektiv dgtl fmnsm seit einigen Jahren mit dieser und ähnlichen Fragen. Mit dem HAU4, der digitalen vierten Bühne am HAU Hebbel am Ufer Berlin, haben dgtl fmnsm und weitere Künstler*innen und Kompliz*innen einen institutionellen Ort gefunden, wo sie digitale und performative Praktiken jenseits disziplinärer Grenzen ausprobieren können. Sarah Reimann, Kuratorin des HAU4, hat das Artist Lab „Performing Technology“ gemeinsam mit Ulla Heinrich und Anna Krauß entwickelt. Ulla Heinrich, Mitgründer*in von dgtl fmnsm, hat die Grundidee beigesteuert: „Ich habe da wirklich ein Format machen können, das ich schon immer mal machen wollte“. Von Ulla Heinrich und Sarah Reimann habe ich mir berichten lassen, was sich beim Artist Lab „Performing Technology“ am 6. Juli 2022 auf der Probebühne des HAU 3 ereignet hat.
Eingeladen waren Künstler*innen aus performativen, technischen und angrenzenden Kunstbereichen, die bereits im Kontext des HAU4 gearbeitet hatten: Andara Shastika, Anna Fries, Nushin Yazdani, Paola Bascón, Petja Ivanova. Die Organisator*innen wurden unterstützt von Huyen Trang Nguyen Le und Lisa Maria Ahrens. Für die Dokumentation waren Echo Can Luo und Hjördis Lyn Behncken zuständig. Sie alle waren eingeladen, gemeinsam den Prototyp des digitalen Theaters der Zukunft zu beschwören. Denn Beschwören ist das neue Erarbeiten: Für ein derart ambitioniertes Vorhaben braucht es schon ein wenig spekulative Energie, magische Kräfte und Hexerei. Sie fanden sich also zu einer tech-positiven Séance ein und empfingen dabei nicht nur Nachrichten aus der Zukunft, sondern auch aus ihrem Telegram-Kanal. Über diesen Messengerdienst, den viele auch im Alltag nutzen, liefen die Fäden zu der Frage zusammen, welches digitale Theaterprojekt es schon immer gebraucht haben würde. Da die Frage nicht neu war, sollte sie diesmal etwas anders gestellt werden.
Schließlich gab es schon gemeinsame Erfahrungswerte. Durch die Pandemie ist das digitale Theater bekanntlich aus seinem Nischendasein ins Rampenlicht gerückt. Im März 2020 sollten dgtl fmnsm im Rahmen des Festivals „Spy On Me #2 “ zum Thema „Künstlerische Manöver für die digitale Gegenwart“ eine interaktive Rauminstallation zeigen, die sich dank der langjährig erarbeiteten digitalen Kompetenz des Kollektivs in kürzester Zeit ins Internet verlegen ließ. Seitdem hat das HAU zwei digitale Labore ausgeschrieben und Künstler*innen über einen Open Call eingeladen: im September 2020 zu einem Online-Hackathon und anschließenden Forschungsresidenzen , wo Utopien für das Theater der Zukunft entwickelt werden sollten. Und im März 2022 zu einem Online Hack Space und anschließenden Residenzen für partizipative künstlerische Strategien. Dgtl fmnsm betreuten die digitalen Labore als Mentor*innen. Aus diesem Umfeld wurden auch Teilnehmende für das Artist Lab gewonnen. Die Beteiligten hatten also schon häufiger gemeinsam überlegt, welche Strukturen und Veränderungen es braucht, wenn das mit der Digitalität im Theater wirklich ernst gemeint ist und verantwortungsvoll umgesetzt werden soll. Ein kleiner Hint: Funktionierendes W-LAN im Theater ist schon mal ein Anfang. Doch die mächtigste Technik ist immer noch die Imagination, wie die Praxis feministischen Spekulierens zeigt, die auf Gegenerzählungen und Utopien aus minorisierten Positionen setzt.
Es war Zeit fürs next level: Live Action Role Playing. Statt immer nur die eigene Expertise vertreten zu müssen, sollten die Lab-Teilnehmer*innen gewohnte Arbeitsweisen hinter sich lassen und auf eine spekulative Spielebene kommen. Also bekamen alle einen LARP-Charakter. Live Action Role Playing, kurz LARP, wirkt aus einer konventionellen Theaterperspektive vielleicht wie ein obskures Vergnügen für Mittelalterfans, die gern in die Rolle von Rittern und Fabelwesen schlüpfen. Das Prinzip des Rollenspiels ist allerdings auch in Videospielen und Online-Games sehr beliebt. Eine technologieaffine Community hat daher weniger Berührungsängste mit dem Prinzip des Live-Rollenspiels. Hier werden Menschen zu Charakteren, zu Spielfiguren, nehmen vorgegebene Rollen an, innerhalb derer sie frei agieren können. Darin liegt doch eigentlich auch der Reiz des Theaters: in der Überformung durch eine Rolle ein transformiertes Auftreten möglich zu machen, ein Handeln, das die eigenen Kräfte auf andere Weise aktiviert.
Die zwölf Spieler*innen bekamen also jeweils einen Charakter mit so nerdig-glamourösen Namen wie „Nu Style Diamond Domain“, „Soft Demon“, „Metaverse Hellblossom“, „Glitter Glitch“ oder „Princess of the Golden Browser“. Dazu gab es jeweils eine Rollenbeschreibung: „Du bist eine Top-Level-Domain und verbindest Erfahrungswissen aus den Anfängen des Internets mit den neuesten Styles der datenbasierten Verarbeitung“. Oder: „Du bist ein ambivalenter Demon zwischen Radical Softness und zerstörerischer Power. Du existierst außerhalb von Raum und Zeit. Materialität spielt keine Rolle für dich. Wenn etwas nicht funktioniert, faszinierst du mit Sounds aus einer anderen Welt“. Doch damit nicht genug: Jeder Charakter musste im Laufe des Tages drei Quests lösen, drei Aufgaben, deren Inhalt den anderen nicht bekannt war. Quest 1 war das Einstiegslevel: „Sage mindestens zweimal in der Gruppe ‚Das ist ein strukturelles Problem‘“. Quest 2 zielte stärker auf die Gruppendynamik ab: „Erschaffe einen Moment in der Gruppe, von dem die Gruppe nachher sagt: ‚Das habe ich wirklich nicht kommen sehen‘“. Das sorgte immer wieder für überraschende Wendungen. Mit Quest 3 wurde allen Spieler*innen eine aktuell brennende Frage anvertraut, zu der sie eine eigene Antwort finden sollten: Dekolonisierung des Theaters/ post-kapitalistische Arbeitsformen/ Partizipation in virtuellen und hybriden Theaterräumen/ Abbau von Barrieren/ Klimafragen/ virtuelle und digitale Pleasure u.v.m.
Das klingt nach einer Herausforderung mit Spaßfaktor, die neue Prozesse anstoßen kann. Sarah Reimann berichtet: „Durch den spielerischen Charakter ist die Gruppe an diesem Tag sehr gut zusammengewachsen. Wir konnten uns so auf sehr unterschiedlichen Ebenen begegnen. Bei den inhaltlichen Diskussionen war es sehr interessant, dass wir auf der einen Seite natürlich eine persönliche Position vertreten wollten und auf der anderen Seite hatten wir von Ulla diese Rolle bekommen und mussten gucken, wie wir beides miteinander vereinen konnten“. Den neuen Strategien, die im Kontext des HAU4 erprobt werden, komme dabei zugute, dass das Wandelbare und Unkonventionelle schon Teil des Performancebegriffs sei, der ein Haus wie das HAU immer wieder mit neuen Formaten konfrontiere.
So war das Artist Lab „Performing Technology“ Teil einer Strategie, bestehende Räume zu nutzen, um neue Räume zu schaffen. Das wird auch in der Dokumentation erfahrbar: Als Portal zu dem, was sich beim Artist Lab „Performing Technology“ abgespielt hat, öffnen virtuelle 3-D-Räumlichkeiten ihre Tore. Beim „Bundesweiten Artist Labor der Labore“. Und natürlich im Internet.
Im Sommer haben freie Künstler*innen-Gruppen in 30 bundesweiten Artist Labs die krisenhafte Gegenwart untersucht. Sebastian Köthe, Elisabeth Wellershaus und ein Team an Gastautor*innen haben ihnen dabei über die Schulter geschaut.