Konzeptionsförderung 2021

Datum der Jurysitzung: 18. März 2021

Geförderte Vorhaben: 12

Die konzeptionelle Arbeit steht unter dem Motiv der [in]operabilities – ein Wortspiel, das die Kunstform Oper mit der Frage nach ihrer Zugänglichkeit, nach Möglichkeiten inklusiven Arbeitens und nach der Nützlichkeit von „Opera-abilities“ für unser Zusammenleben verknüpft. Welche abilities braucht man, um Zugang zur Oper zu bekommen? Welche „Opera-abilities“ können wir lernen und wie helfen sie uns im Leben und Zusammenleben? In drei Jahren sollen drei Musiktheater-Produktionen entstehen, die von einer Recherche zu diesen Fragen begleitet werden. Während das erste Projekt „A Singthing“ das Verhältnis von Musik und Emotion mit einem Team von hörenden und gehörlosen Performer*innen befragt, beschäftigt sich „Das Glatte“ kritisch mit dem Phantasma der Makellosigkeit und Exklusivität in der Oper. Das dritte Projekt „Die Wellen“ untersucht auf Basis von Virginia Woolfs gleichnamigem Roman die Musikalität sozialer Beziehungen und Vielgestaltigkeit der menschlichen Stimme mit einem intergenerationalen Ensemble. Der inhaltliche Fokus der Produktionen dient je als Ausgangspunkt für ein fachliches Begleitprogramm, zu dem Künstler*innen und weitere Expert*innen eingeladen werden.

Im Sommer werden sich boat people projekt mit dem Thema Geld beschäftigen. Inspiriert von der Situation, dass zur Zeiten der Pandemie Milliarden „neues Geld“ auf der Bildfläche erscheint, wollen sie in den unterschiedlichsten Disziplinen recherchieren, auch mit Hilfe von Koop, Partner*innen aus der Wirtschaft und Wissenschaft/Uni Göttingen. Das Ergebnis besteht aus unterschiedlichen kleinen Performances, welche von verschiedenen Künstler*innen gestaltet werden. Auch die Ausgangsfragen werden gemeinsam besprochen und sind gemeinsamer Startpunkt. Ziel ist eine Art szenischer Spaziergang innerhalb unserer Spielstätte und im Außenbereich derselben. Wird in dieser Konzeption ein analoges, coronataugliches Format umgesetzt, das mit Audioguides, mobilen Spots und open air funktioniert, soll im Sommer 2022 ein Projekt zur Künstlichen Intelligenz einen digitalen Schwerpunkt haben: Hybride Bühne, Experimente und Forschung mithilfe von Hackathons an Übersetzungs- und Untertitelungsmöglichkeiten ist das Ziel. In der darauffolgenden Sommer 2023 wird es um Körper gehen: auf der Grundlage von „arab porn“ von Youssef Rakha diskutieren wir die politische Kraft der Pornographie im arabischen Frühling und heute auch für Emanzipation.

2021-2023 stehen für Gob Squad Arts Collective unter den Motti Polylog und Diversität, der Erweiterung und Verstetigung unserer eigenen ästhetischen und künstlerischen Mittel. „Gob Squad: Radical Empathy“ steht für die Entwicklung neuer Formen der Kollaboration mit Kunstschaffenden oder Passant*innen einer jüngeren oder älteren Generation, einer anderen Herkunft oder Sozialisierung, für ein wechselseitiges Lernen und Lehren. Als Künstler*innenkollektiv wollen wir uns noch mehr der Vielfalt von Sichtweisen öffnen, diese in unsere Arbeit integrieren und unsere Narration erweitern. Wir wollen die eigene Organisationsform mittels Beratung durch Expert*innen auf Diversität überprüfen. Annemie Vanackere und Aenne Quiñones (HAU Hebbel am Ufer Berlin) sind für die drei Jahre unsere Partner*innen. Wir arbeiten auf zwei Uraufführungen hin: eine Videoinstallation „Sensibility And Sense“ sowie eine interaktive Performance „Class“, in die die Ergebnisse unseres oben beschriebenen Wegs einfließen. Wir wollen u.a. die Experimente mit Virtual Reality und Streaming-Technologie fortsetzen, die verspricht, dem Individuum eine Vielzahl von Erfahrungen auch außerhalb des Theaterraums zu ermöglichen.

Thematisch schließt Grupo Oito an ihre bisherige Arbeit an. Antirassismus, Dekolonisierung und Feminismus bleiben wichtige Grundkomponenten der künstlerischen Arbeit. Leitidee ist, sich aktiv in Räume und Zustände der Ambiguität und Unsicherheit zu begeben und von dort aus Visionen für Neues zu entwickeln – in Bezug auf gesellschaftliche und politische Themen ebenso wie in Bezug auf die Arbeitsweise der Gruppe selbst. Grupo Oito setzt sowohl auf Kontinuität thematischer Setzungen, bewährter Arbeitsweisen und Formate, als auch auf eine Weiterentwicklung der künstlerischen Arbeit und ihrer Sichtbarkeit. Vier große Produktionen werden flankiert von kleineren Austausch-, Vermittlungs- und Präsentationsformaten, die künstlerische Impulse setzen, die eigene Entwicklung und Vernetzung fördern und gleichzeitig eine gewisse Flexibilität und Kontinuität ermöglichen, sollte die pandemische Situation weiter anhalten. Nach langjähriger Zusammenarbeit mit dem Ballhaus Naunynstraße öffnet sich die Gruppe zunehmend für andere Orte und Publikumsgruppen in Berlin und darüber hinaus. Besonderer Schwerpunkt für die nächsten Jahre ist die Suche nach Gastspielmöglichkeiten und Kooperationspartnern.

Die Cooperativa Maura Morales ist ein produktionsbedingt offenes, international ausgerichtetes Ensemble von europaweiter Resonanz. Gemeinsam mit ihren Kooperationspartnern Mülheimer Ringlokschuppen und Düsseldorfer FFT will sie ihren besonderen konzeptionellen Ansatz der Bewegungserforschung, der dialogischen Ensemblearbeit, der dramaturgisch getragenen ästhetischen Formfindung und Stückentwicklung dauerhaft verstärken, verstetigen und angesichts zahlreicher Kooperationsangebote und Mentoren- und Forschungsanfragen produktiv vermitteln. Der Blick der Cooperativa ist in den vier anstehenden Produktionen in dezidiert femininer Perspektive gerichtet auf den Körper in seiner Ambiguität zwischen normierender Machtpolitik und utopische Ressourcen bergender Nullpunkt. Dies auch in Erweiterung bislang vorherrschender europäischer Perspektiven: Für das Tanzfestival „Time 2 Dance“ in Tansania wird mit dem Goethe-Instituts und der MuDa Africa nicht nur vor Ort mit jungen Künstler*innen ein zeitgenössisches Tanzstückes entwickelt – zugleich soll in mehreren interkulturellen Research-Projekten der Blick der dortigen Kultur auf das stets prekäre Verhältnis von Körper und Macht erforscht werden.

Overhead Project fokussiert sich in den kommenden Jahren auf die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis des Menschen zu den ihn umgebenden Dingen und Objekten. Dabei steht die Begegnung von Mensch und Objekt, dem Subjekt und seiner Umwelt, im Mittelpunkt. Die Reibungspunkte zwischen Körper und Material sowie die Beschäftigung mit Raum und Materialität sind der Ausgangspunkt für eine Weiterentwicklung der zirkus-choreografischen Körperarbeit und der dramaturgischen Schreibweise der Kompanie. Overhead Project verlegt 2021 seinen festen Standort auf das Gelände des TPZAK Zirkus- und Artistikzentrums Köln. Dieser wird zum regelmäßigen Proben- und Spielort für Premieren und Repertoirestücke der Kompanie werden. Um Strategien zum Aufbau eines lokalen Publikums für Zeitgenössischen Zirkus in Köln zu entwickeln, wird im ersten Jahr die Personalstruktur im Bereich P&Ö, Vermittlung, Organisation und Digitales verstärkt werden. Die Kooperation mit dem TPZAK wird im Bereich Vermittlungsarbeit vertieft. Ab 2022 entstehen dann die zwei Produktionen „Greenroom“ (2022) und „Blueprint“ (2022).  

Unter dem thematischen Fokus „Zukünfte neuer Gesellschafts- und Weltordnungen: Neue Welten in und nach der (Klima-)Krise“ sollen bis 2023 in drei interdisziplinären, multiperspektivischen Performances und einer Summerschool als Kick-Off Arbeiten entstehen, die in unterschiedlichen Schwerpunkten mit den Mitteln der Kunst Utopien oder Dystopien einer neuen Welt erdenken. Drei wesentliche konzeptionelle Entwicklungen sollen mit der Produktionsgenese einhergehen: Die Stärkung kollaborativer Strukturen und Netzwerke, eine Bewegung hinein in die Räume der Bildenden Kunst und schließlich die Erweiterung um damit einhergehende Zielgruppen, v.a. auch in studentischem Umfeld. Alle Arbeiten sollen über das Kernteam der Kompanie und evtl. Ergänzung durch die Teams institutioneller Koproduktionspartner und Spielorte hinaus in kollaborativen Arbeitsprozessen mit Expert*innen in verschiedenen Konzeptionsteams entstehen. Durch die konzeptionelle Nähe zu Bildender Kunst und Musiktheater erfahren die Produktionen eine inhaltliche und formale Erweiterung und sollen auch räumlich weiterhin Perspektivwechsel zwischen Bühnen, Galerie- und Ausstellungsräumen und auch gänzlich kunstfernen Orten wagen.

Mit dem Fokus Access als künstlerisches Tool entstehen drei Tanzprojekte für Publikum mit und ohne Sehbehinderungen und 5-6 Tänzer*innen: 1. Inspiriert von G. Saunders „Fuchs 8“, die Überlebensgeschichte eines Fuchses, der versucht mit menschlicher Zerstörungsnormalität klar zu kommen, entsteht „fux“, ein Tanzstück für junges Publikum über die Klimakrise und das Aussterben. Wie wollen wir zusammen leben? fragt „fux“, denn wir erleben alle den gleichen Sturm, aber wir sitzen nicht im selben Boot! 2. „ANIMALS“ befaßt sich auf Basis von Paul Preciados Essay „feminism is an animalism“ mit dem Erbe des Humanismus indem es Nekropolitiken in Nekroästhetiken verwandelt: Es wird: Honig gemacht, Roaming, Wetter gemacht und gefeiert! Tierisches Wissen wird durchqueert und mit dem Publikum durch die Medien: Körper, Film, Audiodeskription geteilt. 3. „In ERDEN“ angelehnt an Ocatvia Butlers SciFi „Parable of the Sawer“ wird eine Choreografie entwickelt, die hyper-emphatische Erfahrungen ermöglicht indem sie Empfindungswelten anderer Körper erforscht, beschreibt, übersetzt und verkörpert. Field Recordings, Gebärdensprache und Audiodeskription sind auch hier die künstlerisch-tänzerischen Tools.

Das künstlerische Team um die Hamburger Choreografin Regina Rossi entwickelt während der dreijährigen Konzeption zu „Space-Games and Dance-Machines“ Zugänge zu Räumen, in denen sich Kinder von 11-13 Jahren zwischen Schule und Freizeit bewegen. Dabei liegt ein Fokus auf Grenzerfahrungen, die das Verhältnis der Kinder zur Umgebung prägen. Die Regelwerke der jeweiligen Räume werden hinterfragt und Potentiale zu Eigengestaltung und Mitbestimmung herausgearbeitet. In der Spielzeit 21/22 wird der digitale Raum thematisiert, der durch die Covid-19-Pandemie eine neue Gewichtung im Alltag der Kinder bekommen hat. Es entsteht ein interaktives TANZTOOL im virtuellen Raum. In der folgenden Spielzeit dreht sich alles um den Stadtraum und die Erfahrung desselben durch Techniken wie z.B. Flanieren und Parkour. Das Aufführungsformat ist eine Audiowalk-Choreografie im öffentlichen Raum. Abschließend steht in der Spielzeit 23/24 der Theaterraum mit einer choreografischen Installation im Mittelpunkt. Das Konzeptionsprojekt geht neue Wege in der Verbindung von Tanzproduktion und Vermittlung und bezieht die Zielgruppe kontinuierlich und nachhaltig in den künstlerischen Arbeitsprozess ein.

deufert&plischke vertreten ein transdisziplinäres Kunstverständnis, das Menschen ganz unterschiedlich an künstlerischen Prozessen und Aufführungen mitwirken lässt. Ihre Arbeiten ermöglichen eine alternative Bespielung von Theaterräumen, die mediale Erweiterung von Aufführungssituationen, das An-archivieren von künstlerischen Dokumenten, die Öffnung von künstlerischen Prozessen, sowie die Einbeziehung öffentlicher Räume in choreografische Situationen. Mit der Eröffnung der Spinnerei Schwelm schaffen sie einen lebendigen Ort, an dem zeitgenössische Kunst als soziale Aktivität in die Stadt hinein wirken kann. Dabei geht es gar nicht primär um eine Kunstvermittlung, sondern vor allem um die Ermöglichung überhaupt von Kunsterfahrung, den primären Zugang zu Kunst nicht als Produkt sondern als ergebnisoffenen spielerischen Prozess. Kunst soll im Alltag der Menschen eine Rolle spielen dürfen und ihnen einen sinnlichen und kritischen Zugriff auf Welt ermöglichen. Mit „A Worn World“ und „Anarchiv Tanz“ entstehen zwei Pilotprojekte, die in Schwelm im Verbund mit Künstlerkolleg*innen erarbeitet und im internationalen Austausch über mehrere Jahre weiter entwickelt werden.

Der Kamm ist Metapher für eine Utopie: Alles ist verstrubbelt und verfilzt und wir brauchen gute Ideen und Mittel, um uns als Gesellschaft neu zu erfinden. Deshalb brechen wir in neue Richtungen auf und verlassen mit unseren Projekten den schwarzen Theaterraum: Mit dem eigens entwickelten Format des Wanderkinos zeigen wir den theatralen Animationsfilm „Aufstand der Dinge“ bundesweit in Repair-Cafés, loten damit einerseits die für uns neue Film-Ästhetik aus, gewinnen gleichzeitig neue Kooperationspartner*innen und widmen uns dem Thema Nachhaltigkeit. Das „Dingdarium“ kann an jedem Ort auch in öffentlichen Räumen aufgeschlagen und beforscht werden und zur Auseinandersetzung mit Kapitalismus anregen, während ein „Material-Theater-Club“ junge Menschen zum Wissenstransfer mit Künstler*innen einlädt. Die Stückentwicklungen „König Ubu“ und „Mein Name ist Tisch. Prak Tisch“ zu den Themen Machtstrukturen und Gesellschaftsformen können nicht nur im Theater gespielt werden, sondern sind mobil, um sie auch in Schulen und Generationshäusern zu zeigen und die regionale Vernetzung des Ensembles zu stärken. Im Zentrum aller Formate steht die Befragung der Dinge als Allegorie auf uns Menschen.

Auf der Suche nach einer Umsetzung der künstlerischen Stoffe auf der Höhe der Zeit, bemüht Theater Strahl sich gerade in letzter Zeit um die theatrale Erforschung von Interaktion und Digitalität, um die Partizipation seines jungen Publikums am Bühnengeschehen weiterzuentwickeln. Es werden die Möglichkeiten des digitalen Theaters gerade im Format Strahl.NeueRäume erforscht, welches einen digitalen Jugendclub, digitale theater- und tanzpädagogische Fortbildungen und die Entwicklung eines Prototypen für ein digitales Klassenzimmerstück vereint. In dem beantragten Projekt „WER….?“ soll diese Expertise, die Strahl in den letzten Jahren erworben hat, noch durch eine weitere formale Säule ergänzt und verschmolzen werden: dem Tanz für junges Publikum. Wie können wir physical computing mit physical theatre verbinden? Welche Formen der Interaktion können sich entwickeln? Welche körperlichen Ausdrucksformen finden wir? Welche Räume brauchen hybride Theaterformen? Theater Strahl setzt in den nächsten drei Spielzeiten einen Fokus auf die Einbeziehung der digitalen Entwicklung im Theater und bezieht dabei ganz bewusst die Körperlichkeit des Analogen mit ein.