Alte Fragen an ein junges Publikum

Von Annika Haas

Welche Strategien Künstler*innen diskutieren oder bereits anwenden, um nachhaltige Beziehungen zum Publikum der Zukunft zu gestalten, erfährt Annika Haas im Gespräch mit Beteiligten von drei Bundesweiten Artist Labs.

Wie kommt das Publikum zum Theater? Und was macht Theater aus, wenn es plötzlich keinen Ort mehr hat? Diese Fragen stellten sich während der Pandemie auch in Bezug auf junges Publikum, da es meist noch keine „gefestigte“ Beziehung zum Theater als Institution und Ort hat. In der freien Szene sind konstante Spielorte ohnehin nicht immer gegeben. Daher verwundert es nicht, dass freie Kinder- und Jugendtheatergruppen sich erfindungsreich zeigten und rasch Stücke entwickelten, die auch ohne physische Bühne funktionierten. So entstanden während der Pandemie beispielsweise der Audiowalk „Schulausflug“ (imaginary company, 2021) oder die Videokonferenz „Spiel dich erwachsen!“ (pulk fiktion, 2021).

Neben der Rückschau auf solche pandemiebedingten Formatexperimente teilen die Macher*innen von drei Labs zu Fragen rund um die post-pandemischen Beziehungen zwischen jungem Publikum und Freier Theaterszene, eine zentrale pragmatische Erfahrung: Ohne die üblicherweise durch Schulen vermittelten Theaterbesuche und Gastspiele war der Kontakt zu Kindern und Jugendlichen während der Pandemie gar nicht so leicht herzustellen. An diese Erfahrung anknüpfend, stellen sich insbesondere Freie Gruppen mit betont partizipativen Praktiken die Frage, wie sie selbst nachhaltigere Beziehungen zu ihren Publika aufbauen können. Denn das macht nicht nur unabhängiger von Mediator*innen wie Eltern und Lehrpersonal. Damit verbunden ist auch die Überzeugung, dass Theater für ein „junges Publikum“ – worunter Babys über Grundschulkinder bis junge Erwachsene fallen – den Kontakt zu den entsprechenden Altersgruppen nicht erst suchen sollte, wenn das Stück bereits fertig ist.

Wie Vanessa Stern mit ihrem Lab „Publika Kartographie“ in Berlin erforscht hat, sind Publika so gut wie nie die in Förderanträgen benannten Zielgruppen. Vielmehr entwickeln sie sich mit der Zeit, wie pflanzliche Wurzelgeflechte, und sind letztlich nicht in ihrem Wuchs zu steuern oder lenken. Sterns Versuch, das Publikumsrhizom rund um ihre Stücke in einem experimentellen Dokumentarfilm zu kartografieren, ist komisch und ernsthaft zugleich. Stern hat mehr als 40 Menschen interviewt, die ihre Stücke gesehen haben und dazu befragt, durch wen sie auf ihre Arbeit aufmerksam geworden sind. Die Wege führten teils über Schwestern, Freund*innen oder den Nachbarn der Kollegin und waren oft abenteuerlich. In den Interviews zeigt sich zudem eine weitere Beobachtung: Die Menschen auf der Bühne generieren erhebliche Teile des Publikums. Zum einen sitzen unter den Zuschauer*innen von Produktionen der Freien Szene oft Freund*innen und Familie. Zum anderen verhält sich Diversität im Publikum proportional zur Diversität auf der Bühne. So geht es in Vanessa Sterns Produktionen auch um die Frage, wie sich über die Repräsentation diverser Gruppen hinausdenken lässt. Wie die Themen dieser Gruppen glaubhaft vertreten und diskutiert werden können.

Eine Gruppe von Menschen sitze in einem Kreis auf Stühlen und applaudiert. © Salar Baygan

In Bezug auf junge Menschen und ihre Themen ist es allerdings gar nicht so leicht, sie auf die Bühne zu bekommen. Warum auch, fragt sich die Gruppe pulk fiktion schon länger, sollten Kinder und Jugendliche sich für ein Theater interessieren, das von Erwachsenen gemacht wird. Die Erwachsenen bei pulk fiktion bleiben deshalb nicht unter sich, sondern arbeiten bei der Produktion ihrer Stücke auf einer langfristigen Basis mit jungen Menschen zusammen. Der Titel des von pulk fiktion initiierten Labs „Beziehungsweise Maker Space“ am FFT Düsseldorf bringt auf den Punkt, dass die Beziehung zu diesen jungen Kollaborateur*innen sich nicht von selbst entwickelt. Wie die Beziehung zu allen Publika, muss diese Arbeitsbeziehung hergestellt werden und dafür braucht es „Begegnungstools“, wie die Dramaturgin der Gruppe, Lisa Zehetner schildert.

Diese Tools können dabei helfen, bestehende Hierarchien in der Kommunikation und Zusammenarbeit zwischen Theatermacher*innen und künstlerisch arbeitenden Jugendlichen wahrzunehmen und einen realistischeren Umgang damit zu entwickeln. „Augenhöhe ist fake. Beziehung aber nicht“, heißt es sinngemäß auf der Webseite von pulk fiktion. Zehetner konkretisiert, was das für ihre Arbeit bedeutet: „Wir wollen Dialoge zwischen unserer eigenen Gedankenwelt und den Perspektiven von Kindern und Jugendlichen produzieren. Aber wenn wir sie in unsere Produktionen mit einbeziehen, ist es unausweichlich, dass wir uns ihre Perspektiven dabei immer auch ein Stück weit aneignen.“ Neben gegenseitigem Interesse sei daher auch eine aufrichtige Anerkennung der Zeit und Inhalte nötig, die die aktuell sieben Personen zwischen 12 und 20 Jahren in die Arbeit mit pulk fiktion investieren.

Eine solche Einbeziehung junger Publika in die Theaterproduktion verändert nicht nur deren Entstehungsprozesse, sie bedeutet auch einen Wandel in der Vermittlungsarbeit, den die Erziehungswissenschaftlerin Kristin Westphal so beschreibt: „Weg von einer Vermittlungspraxis im Sinne einer klassischen Belehrung“ hin zu „einer performativen Praxis“, in der „die Erfahrungswirklichkeiten von Kindern aufgegriffen“ werden.

Obwohl die Tendenzen zu partizipativer Vermittlung weit verbreitet und nicht neu sind, stellen Produktion und Vermittlung auf Förderebene weitgehend getrennte Bereiche dar. Auch gibt es, jenseits der Projektelogik, zu wenig Instrumente, die ein Arbeiten an langfristigen Beziehungen zu jungen Publika erlauben. Célestine Hennermann und Ossian Hain machen im Gespräch zum Lab „Publikum der Zukunft“ in Frankfurt/Main auch auf ein ökonomisches Dilemma aufmerksam: „Die Arbeit im Bereich Kinder- und Jugendtheater wird weniger wertgeschätzt als andere Kunstsparten. Es herrscht die Vorstellung, die Produktionen seien nicht so aufwendig, ‚man macht schließlich nur was für Kinder‘.“ Dass sich diese Vorstellung hält, ist bitter, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Belange von Kindern und Jugendlichen auch während der Pandemie nie oberste Priorität waren. Hennermann und Hain verwehren sich aber gegen jeden Zynismus und setzen alles in Bewegung, um einladende Räume für ein Publikum der Zukunft zu schaffen. Schließlich seien Theater Teile des „Demokratischen Ganzen“.

Junge Menschen aller gesellschaftlichen Gruppen an Demokratie zu beteiligen, heißt also auch, sie als Teil der Theaterwelt zu betrachten und ernst zu nehmen. Auch dann, wenn sie nicht an den etablierten Theaterorten anzutreffen sind. So zieht Hain aus der Pandemie die Anregung, sich noch konsequenter in den Stadtraum hineinzubegeben. Denn dort kommt das Publikum der Zukunft ja bereits hin. Zum Beispiel steht es in der Schlange vor dem Frankfurter Zoo. Direkt neben dem Zoo wird im kommenden Jahr eine temporäre Theaterwerkstatt der Freien Szene in das alte Zoogesellschaftshaus einziehen. Als Hain bei einer Erkundung des Geländes rund um das Haus während des Labs die Schlange sah, kam ihm eine Idee: Könnte man die Schlange vor dem Zoo nicht einmal komplett ins Theater umleiten? „Der Zoo hat ein diverses Publikum und er hat eine Art informellen Vertrag mit seinen Besucher*innen: ‚Du bist hier willkommen und bekommst in Sachen Unterhaltung und Bildung was geboten.‘“

Wie das Publikum der Zukunft aussieht, hat also auch etwas damit zu tun, was das Theater ihm anbieten kann. Die Labsin Düsseldorf, Frankfurt und Berlin zeigen, dass Theatermacher*innen mit jungen Menschen längst an guten Formulierungen und nachhaltigen Beziehungs-Deals arbeiten, die sich nicht mehr auf einer „Augenhöhe“-Rhetorik ausruhen.

Im Sommer 2023 haben freie Künstler*innen-Gruppen in 64 Bundesweiten Artist Labs das Verhältnis zum Publikum in post-pandemischen Zeiten untersucht. Unsere Redakteurin Elisabeth Wellershaus und ein Team aus Gastautor*innen haben ihnen dabei über die Schulter geschaut.

Annika Haas ist Medientheoretikerin und freie Autorin. Sie forscht und lehrt am Institut für Geschichte und Theorie der Gestaltung an der Universität der Künste Berlin.