Auseinandersetzungen mit der Wirklichkeit
Von Christine Wahl
Der Künstlerische Leiter Wagner Carvalho, die Künstlerin Magda Korsinsky und der Dramaturg Fabian Larsson vom Ballhaus Naunynstraße im Gespräch mit Christine Wahl über die Auszeichnung mit dem Theaterpreis des Bundes 2023.
Wagner Carvalho, Magda Korsinsky, Fabian Larsson – herzlichen Glückwunsch zum Theaterpreis des Bundes! Prinzipiell ist natürlich jede Bühne auf ihre Art einmalig, aber mit dem Ballhaus Naunynstraße, an dem Sie arbeiten, wurde ein Haus ausgezeichnet, das tatsächlich in einem ganz konkreten Sinn über ein Alleinstellungsmerkmal verfügt: Es schafft – um es mit den Worten der Theaterpreis-Jury zu sagen – „einen singulären Rahmen für die selbstbestimmte Produktion von Schwarzen, queeren und Künstlerinnen und Künstlern of Color“…
Wagner Carvalho: … und hat natürlich ganz viel mit Shermin zu tun!
Mit Shermin Langhoff, Ihrer Vorgängerin in der Künstlerischen Leitung des Ballhauses Naunynstraße, die inzwischen das Berliner Maxim Gorki Theater leitet.
Carvalho: Shermin hat hier 2008 mit vielen enthusiastischen Ideen und wenig Geld das postmigrantische Theater ins Leben gerufen und türkisch-, kurdisch- oder armenisch-deutsche Kolleginnen und Kollegen der zweiten und dritten Generation ins Theater gebracht. Die meisten kamen aus anderen Branchen – und wurden hier zu Protagonistinnen und Protagonisten.
Die Einladung von Nurkan Erpulats und Jens Hilljes Produktion „Verrücktes Blut“ 2011 zum Berliner Theatertreffen, die dem Ballhaus auch überregional viel Aufmerksamkeit einbrachte, markierte dann einen Wendepunkt: Das Haus erhielt eine institutionelle Förderung. Das begann damals mit rund 40.000 Euro, heute sind es knapp 1,5 Millionen.
2011 war auch das Jahr, in dem Sie ins Spiel kamen, richtig?
Carvalho: Genau. Ich arbeitete bereits künstlerisch am Haus und besuchte damals gerade eine Probe von Michael Ronens „Warten auf Adam Spielmann“, als Shermin ganz geheimnisvoll auf mich zukam und sagte: Ich muss mit dir reden! Dann erzählte sie mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit, dass sie für die Leitung der Wiener Festwochen angefragt worden sei und mich gern als ihren Nachfolger am Ballhaus vorschlagen würde.
Letztendlich ging Shermin Langhoff dann zwar nicht nach Wien, sondern wechselte innerhalb Berlins von Kreuzberg nach Mitte, ans Gorki. Aber daran, dass in der Naunynstraße der Leitungsposten frei wurde, änderte das natürlich nichts. Hatten Sie damals sofort Lust auf den Job?
Carvalho: Ich bin am Tag nach diesem Gespräch mit Shermin nach Brasilien geflogen und habe, ehrlich gesagt, gar nicht darüber nachgedacht, weil ich das für einen Witz gehalten hatte. Aber als ich zurück war, rief Shermin mich sofort wieder an. Ich habe mich dann mit meiner Familie besprochen und schließlich zugesagt – zusammen mit Tunçay Kulaoğlu, der bis Mitte 2015 mit mir das Leitungsteam bildete. 2013 fingen wir – mit dem Festival „Black Lux“ – an, Schwarze Perspektiven in den Fokus zu rücken. Dazu gehören auch intersektionale Fragestellungen, queere Positionen sowie Verknüpfungen unterschiedlicher diasporischer Erfahrungen.
Was bedeutet Ihnen die Auszeichnung mit dem Theaterpreis des Bundes?
Carvalho: Der Preis ist die Anerkennung für die hier entstandene künstlerische Praxis und bedeutet für uns, dass wir jetzt im Fokus stehen. Das ist toll, weil das auch innerhalb des Hauses noch einmal eine Welle der Euphorie ausgelöst hat. Denn, wie Karl Valentin schon sagte: Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit.
Und kostet außerdem auch Geld, ließe sich hinzufügen. Mit dem Theaterpreis des Bundes sind Sie jetzt nicht nur um symbolisches, sondern auch um ökonomisches Kapital reicher – konkret um 200.000 Euro. Gibt es dafür schon Investitionspläne?
Fabian Larsson: Wir möchten unsere Schreibwerkstatt für neue postmigrantische Theatertexte fortsetzen. Diese fand erstmals in der Spielzeit 2020/21 statt, unter dem Motto „unconventional signs“, und war sehr produktiv, der Output war enorm. Abgesehen davon, dass auf diese Art wichtige neue Stücke entstehen – postmigrantisch-literarische Spiegel der Gesellschaft –, ist die Schreibwerkstatt auch als Erfahrungsraum für die teilnehmenden Künstlerinnen und Künstler wesentlich, weil es institutionell betrachtet kaum Orte gibt, an denen sich so diverse Autorinnen und Autoren sowie Kulturschaffende austauschen können.
Carvalho: Da wir aber kein künstlerisches Budget haben, sondern die institutionelle Förderung nur die Betriebs- und Personalkosten abdeckt, sind wir mit unseren Projekten grundsätzlich drittmittelabhängig.
Larsson: Und das Fördersystem setzt auf Innovationen: Die Jurys wollen das noch nie Dagewesene unterstützen. Fortsetzungen eines erfolgreichen Projekts bekommt man daher schwer finanziert. Insofern bedeutet das Theaterpreisgeld für uns eine einzigartige Möglichkeit, tatsächlich Bewährtes einmal in einem größeren Rahmen fortzusetzen. An der letzten Schreibwerkstatt haben elf Autorinnen und Autoren teilgenommen, die über ein Dreivierteljahr mit auskömmlicher Finanzierung die Gelegenheit hatten, an ihren Texten zu arbeiten. Wenn man sich vorstellt, dass wir jetzt noch einmal eine vergleichbare Zahl von Künstlerinnen und Künstlern ansprechen können, ist das natürlich fantastisch.
Carvalho (auf Larsson zeigend): Fabian spielt in unserem Team eine absolut zentrale Rolle, als Dramaturg, Mitdenker, Fragesteller – und Nervensäge. (Einhelliges Lachen am Tisch) Aber das muss so sein!
Larsson: Das steht praktisch in der Stellenbeschreibung!
In welchen Kontexten sind Ihre Nervensägen-Qualitäten denn besonders gefragt?
Larsson: Dramaturginnen und Dramaturgen nerven ja immer! Das gehört zu ihrer Funktion, weil sie bereits in einem Stadium versuchen, einen Sinn zu entschlüsseln, in dem er noch nicht erkennbar ist. Für Leute, die gerade Regie führen oder komponieren, ist das tatsächlich eine wahnsinnig nervige Tätigkeit, weil sie permanent gespiegelt werden.
Magda Korsinsky: Also ich habe die Nervensäge sehr positiv wahrgenommen! (Erneutes Gelächter) Da ich aus dem Tanz komme, bin ich nicht gewohnt, Texte zu schreiben. Oft existiert am Anfang bei mir nur eine Idee – aus der dann mithilfe der Dramaturgie eine ganz präzise Projektbeschreibung wird. Insofern ist es für mich total wichtig, diesen Spiegel zu haben – zumal die Arbeitsgespräche häufig auf Spaziergängen oder in Cafés stattfinden: wirklich ein absoluter Luxus!
Frau Korsinsky, Sie gehören zu den prägenden Künstlerinnen des Hauses. Nach Ihrem Studium am Hochschulübergreifenden Zentrum Tanz (HZT) Berlin haben Sie auch an anderen Theatern gearbeitet. Was macht das Ballhaus Naunynstraße aus Ihrer Sicht aus?
Korsinsky: Oh, das ist eine schwere Frage, denn da gibt es tatsächlich sehr vieles! Einerseits ist es das Zusammenkommen einer Vielzahl von Künstlerinnen und Künstlern of Colour und Schwarzen Kulturschaffenden mit ihren vielfältigen Handschriften. Andererseits ist es die Flexibilität: Normalerweise gibt es in Theatern – speziell in Staatstheatern – ja bestimmte Schemata, in denen die kreativen Prozesse abzulaufen haben. Am Ballhaus existieren mehr Möglichkeiten für Experimente und Innovation – ein Stück weit vielleicht auch deshalb, weil es kleiner ist. Als interdisziplinär arbeitende Künstlerin bin ich zum Beispiel nicht von vornherein auf ein bestimmtes Format festgelegt, ich konnte hier auch schon eine Ausstellung machen. Für mich ist das Ballhaus tatsächlich ein Ort, an dem ich immer wieder mit Ideen andocken und sagen kann: Hey, ich habe gerade diesen oder jenen Gedanken im Kopf, und dann wird das einfach vom Beginn bis zur Premiere begleitet.
Einer Ihrer Abende, die auf diese Weise entstanden und inzwischen nicht nur überregional, sondern auch international erfolgreich sind, ist „Stricken“: eine komplexe theatrale Installation, die auf Interviews mit afrodeutschen Frauen basiert, deren weiße Großmütter zur Zeit des Nationalsozialismus aufgewachsen sind.
Korsinsky: Was ich selbst daran interessant finde, sind die unterschiedlichen Perspektiven, die diese Frauen auf ihre Großeltern und auf die nationalsozialistische deutsche Geschichte haben – auch dadurch, dass sie in verschiedenen Berufen arbeiten. Als Erziehungswissenschaftlerin, Politologin, Frauenärztin und Psychologin beleuchten sie das Thema aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln – auf einem sehr hohen, reflektierten Niveau.
Larsson: „Stricken“ ist für uns natürlich auch deshalb ein wichtiger und exemplarischer Abend, weil er mit einem geschickten Zug die Frage aufwirft: Wer darf eigentlich über die deutsche Geschichte sprechen? Wer darf über die Erfahrungen sprechen, die durch den Nationalsozialismus verursacht wurden und bis in die Gegenwart reichen? Wer hat da die Deutungshoheit?
Sie bringen durch Ihre Arbeit neue Perspektiven ins Theater und im Idealfall auch in andere Institutionen ein, sind in dieser Hinsicht also Avantgarde – allerdings eine, die von sich aus darauf angelegt ist, zum Mainstream zu werden, weil das Ziel ja darin besteht, dass die Perspektivenvielfalt in der Gesellschaft selbstverständlich wird. An welchem Punkt stehen wir Ihrer Meinung nach diesbezüglich?
Larsson: Für uns ist zentral, dass wir mit Künstlerinnen und Künstlern arbeiten und mit den Themen, die diese Menschen mitbringen, was konkret heißt: mit politischen Herausforderungen, die die Gesellschaft Schwarzen Künstlerinnen und Künstlern sowie Artists of Color auferlegt. Dass wir darüber in eine Avantgardefunktion kommen, ist nicht gewählt und nicht gesucht. Das bedeutet für uns, dass wir uns einerseits darüber freuen, dass die postkolonialen Diskurse inzwischen eine breitere Aufmerksamkeit bekommen. Andererseits bestehen aber auch Bedenken, dass andere Institutionen sich diese Diskurse nur als kurzfristige Mode aneignen. Ich denke, wir können es uns nicht leisten, bestimmte Themen wie Teilhabe, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit etc. als diskursive, Kapital bringende Mode zu betrachten.
Sehen Sie diese „Diskursmoden“-Gefahr auch, Frau Korsinsky und Herr Carvalho?
Korsinsky: Ja. Mit dem Tod von George Floyd und Black Lives Matter schienen zum Beispiel Schwarze Perspektiven im Mainstream angekommen zu sein, ich konnte ganz viele Zeitungen und Zeitschriften bei mir zu Hause sammeln, in denen sie präsent waren. Das ist jetzt drei Jahre her, und inzwischen finde ich nicht mehr so viele Artikel mit Schwarzen Perspektiven – das ist die eine Sache, die ich beobachte. Und die andere: Wenn ich mit meinen Freundinnen in Stuttgart spreche, mit denen ich in die Schule gegangen bin, merke ich immer wieder, dass die Diskurse, die wir hier für selbstverständlich halten, dort oft noch gar nicht angekommen sind.
Carvalho: Unser langfristiges Ziel als postmigrantisches Theater besteht ja tatsächlich darin, uns überflüssig zu machen – in dem Sinn, dass eines Tages einfach keine Notwendigkeit mehr für unsere Bühne besteht, weil die Diversität, mit der wir hier arbeiten, selbstverständlich Teil der Gesellschaft ist. Aber als ich neulich zur ersten Lesung des neuen Kulturhaushaltes im Berliner Abgeordnetenhaus war, waren der Kultursenator Joe Chialo und ich die einzigen Schwarzen Personen im Raum. Das spiegelt Berlin natürlich in keiner Weise wider! Und es zeigt, welche Auseinandersetzungen wir mit der Wirklichkeit da draußen in den nächsten Jahren noch zu führen haben werden.