Begegnungen im Chaos der Gegenwart

Von Elisabeth Wellershaus

Wenn Begegnungsräume verstellt scheinen und die Wege zu gesellschaftsübergreifender Empathie auch: Wie lässt sich Soziabilität kuratieren? Einige Labs haben sich auf die Suche nach Antworten gemacht.

Nachhaltige Verbindungen aufzubauen ist in diesen Tagen kein leichtes Geschäft. Zu gehetzt werden viele durch die Überforderungen der Gegenwart getrieben. Zu oft wird der Austausch zwischen komplexen Erfahrungen durch polarisierende Debatten erschwert. Ruhig zu bleiben und den Blick auf ein unbekanntes Gegenüber scharfzustellen, kann in diesen Zeiten zur Herausforderung werden. Und vielleicht haben sich gerade deshalb einige der diesjährigen Labs darauf eingelassen.

Anica Happich und Maren Barnikow etwa spüren den Verbindungen zu verlassenen und vergessenen Orten nach. „Ich gehöre zur Nachwendegeneration und habe die Kulturhäuser und Begegnungsorte des Ostens nur dicht und geschlossen erlebt“, erzählt Happich im Zoom-Gespräch. „Mich interessieren diese verlassenen Orte in meiner Heimat und ihre Geschichten.“ Als Vorstandsmitglied des Thüringer Theaterverbands kennt Happich die kulturellen Strukturen in der Region ebenso wie die Theatermacherin und Kulturwissenschaftlerin Maren Barnikow, die in Gera aufwuchs. Beide gehören heute zum Team des PHOENIX Theaterfestivals, das sich mit der Wiederbelebung von Kulturstätten beschäftigt, die lange brach lagen. Ihr Lab Moving audience – moving artists?! – Ein Mobility-Check im Flächenland Thüringenknüpft unmittelbar an diese Auseinandersetzung an.

Der Fokus richtet sich damit auf ein Bundesland, auf das viele Deutsche derzeit sorgenvoll blicken. Doch die Künstlerinnen wollen weder das Thema eines „verlorenen Ostens“ ausschlachten, noch in die verzweifelte Rhetorik über eine nicht aus- und aufzuhaltende AfD einstimmen. Vielmehr wollen sie an Orten arbeiten, an denen nachhaltiger Austausch herausfordernd ist.

Eine einzige weitere Bewerbung wurde aus Thüringen für den Forschungsauftrag des Fonds Darstellende Künste eingereicht. Darum sind Sichtbarkeit und Vernetzung mit den Kolleg*innen durch das Artist Lab für Happich und Barnikow ein echtes Anliegen. Noch immer seien die ostdeutschen Länder von starken Bewegungsströmen zwischen „florierenden Ballungsgebieten und ländlich ausblutenden Regionen geprägt“, sagen beide. Meist verläuft die Bewegung nur in eine Richtung, und unter der Abwanderung leidet auch der kollegiale Austausch.

Fünf Personen sitzen auf Stühlen und Tischen in einem hellen Studioraum. Sie schauen alle fröhlich in die Kamera. © Elena Kaufmann

Mit einer Workshopreise durch Thüringen sind Barnikow und Happich in ihrem Lab angetreten, um Begegnung in die entgegengesetzte Richtung zu denken. Denn was passiert, wenn Künstler*innen in diese Gegenden zurückkehren? Wie begegnen sie einer professionellen Freien Szene mit poröser Infrastruktur? Einer Gesellschaft, die unter anderem durch Abwanderung, Arbeitslosigkeit, die Erschöpfung von Eltern- und Großelterngenerationen und dem Erstarken der Neuen Rechten geprägt wird? Was bedeutet es, an solchen Orten Theater zu machen? Wie kommen Künstler*innen mit einem Publikum ins Gespräch, das bislang in den Theatern gefehlt hat? Und wie gehen sie damit um, dass sie manche vielleicht nie erreichen werden?

Am Tag unseres Zoom-Gesprächs sind Happich und Barnikow gedanklich in Erfurt. Dort findet ihr Theaterfestival seit drei Jahren statt. Und dort lässt sich manches über die kulturellen Leerstellen der gesamten Region erfahren. „Es gibt kein Produktionshaus für die professionellen Freien Darstellenden Künste, nur wenige freie Bühnen und weite Wege“, sagt Happich. So arbeiten sie unter anderem am Platz der Völkerfreundschaft, erproben Formen des Pop-Up Kuratierens, tun sich mit Sozialarbeiter*innen zusammen. Sie bespielen Orte wie den Parkplatz vor einem Aldi auf dem Melchendorfer Markt oder das ehemalige Schauspielhaus in Erfurt.

„Das Wechseln der Bewegungsrichtung, das Umkehren der Verhältnisse, das ist die ko-kreative Praxis der Freien Darstellenden Künste Thüringens“, sagt Barnkikow. „Wir haben in den letzten Jahren begriffen, wie wichtig das Arbeiten auf kommunaler Ebene ist.“ Es ist ein individuelles Verständnis von Soziabilität, das sie und Happich antreibt. Das sie motiviert, um sich mit den Strukturen, den Kolleg*innen und Publika vor Ort zu verbinden.

Der Begriff Soziabilität beschreibt das Auf- und Ausbauen sozialer Beziehungen. Er beschreibt das Erfassen und Verstehen komplexer sozialer Strukturen und die Fähigkeit zur Zusammenarbeit. Der Versuch, Formen des Gemeinsamen und der multiperspektivischen Offenheit zu stärken, kommt gegenwärtig fast einem radikal zärtlichen Akt gleich. Und viele Labs haben sich 2023 auf die Suche nach neuen Verbindungsmöglichkeiten begeben. Sie haben dort gesucht, wo der Weg in die Begegnung seit geraumer Zeit verstellt scheint. „Weil Theater mehr sein muss, als Raum auf Bühnen zu bespielen“, sagt die Kuratorin und Dramaturgin Felizitas Stilleke. Auch ihr Lab „Zusammenfinden“, das sie mit Philine Rinnert leitet, verfolgt im kollektiven Prozess den Ansatz, künstlerische Arbeit im Austausch mit Publika und Kolleg*innen aus unterschiedlichsten Bereichen neu zu denken. Nach Räumen zu suchen, in denen man* sich unmittelbar begegnen kann.

Stillekes Lab hat zunächst intern versucht, das eigene Arbeiten zu verhandeln. Es hat sich im engeren Kreis aus Performenden und szenischen Forscher*innen durch die Stadt bewegt, um dann im nächsten Schritt das Publikum in die Auseinandersetzung mit der eigenen Praxis einzuladen. Umgesetzt haben sie ihren Gedanken des „fliegenden Kulturzentrums“ an täglich wechselnden Orten mit klaren Zeiten, in denen das Lab zum offenen Spielraum wurde. Es ging ihnen darum, nicht allein in Örtlichkeiten, sondern auch in Begegnung zu denken. Beim „Deep Hanging“ mit gemeinsamem Kochen, Musik machen, Marmorieren, Manifestieren, Spielen – sowie dem konstanten Erproben der eigenen Abschaffung.

Auch beim Hamburger Verein Hajusom findet Empowerment in verschiedensten Konstellationen statt. Die Arbeit des transnationalen Zentrums, das seit 1999 im Hamburger Karolinenviertel sitzt, beschreibt diverse Formen der Selbstbestimmung. Vor Ort finden regelmäßig Workshops und Seminare statt, die sich in erster Linie an geflüchtete Menschen richten. Nach dem Prinzip „Each One Teach One“ werden Mentoring-Programme angeboten, und das hauseigene Theaterensemble trägt die gemeinsam erarbeiteten Inhalte auf regelmäßigen Touren in die Welt. Von diesen Strukturen sollen vor allem junge Menschen profitieren, die im unvertrauten deutschen Alltag vor verschiedenen Hürden stehen.

Im Idealfall wären es genau diese Menschen, die bei den Theaterprojekten von Hajusom auch in der ersten Reihe säßen. Doch wie erreicht man Kinder und Jugendliche mit Flucht- und Migrationsgeschichten? Wie bezieht man sie noch effektiver in die eigene Arbeit ein, schafft unterstützende und inklusive Umgebungen, in denen sie von Anfang an mitgestalten können?

Das Lab „Brücken schaffen“ geht diesen Fragen nach und tastet sich zu neuen Modellen des Partizipativen vor. Gemeinschaft soll bei Hajusom durch gemeinsames Handeln entstehen – ob beim Kochen, Essen, bei Audio Walks mit Performance Gruppen wie JAJAJA oder durch biografische Projekte. „Mit einer geplanten Führung, die um das Leben und Sterben von Semra Ertan kreisen soll, wollen wir etwa Formate der Erinnerungskultur erproben, die sich speziell an Jugendliche und junge Erwachsene richten“, erzählt Melike Bilir von Hajusom. Es sollen Führungen durch Hamburg angeboten werden, die das Wirken der Schriftstellerin auch für ein junges Publikum erfahrbar machen. „Wo hat sie gelebt, wo hat sie gelesen – wer war sie?“

Und wer sind heute all diese anderen Menschen, die sich in überlagernden sozialen Milieus, in anonymen und privaten Sphären mit unserem Leben verbinden? Wie begegnen wir einander, wenn wir uns die Distanz in pandemischen Jahren so sehr antrainiert haben?

„Dasein, Bleiben und es ernst meinen. Mit radikalen Kooperationen und Ko-Kreationen“, sagt Anica Happich. „Das sind die Antworten, die autoritäre Ideologien und deren Luftschlösser nicht liefern können.“

Im Sommer 2023 haben freie Künstler*innen-Gruppen in 64 Bundesweiten Artist Labs das Verhältnis zum Publikum in post-pandemischen Zeiten untersucht. Unsere Redakteurin Elisabeth Wellershaus und ein Team aus Gastautor*innen haben ihnen dabei über die Schulter geschaut.

Elisabeth Wellershaus ist Journalistin und Autorin und beschäftigt sich mit Fragen der Dekolonialisierung sowie mit kulturellen Aushandlungsprozessen rund um die Themen Nachhaltigkeit, Solidarität und gesellschaftlicher Zusammenhalt. Als Redakteurin arbeitet sie für verschiedene deutschsprachige Medien, unter anderem für die Kolumne 10nach8 bei Zeit Online. Ihr Buch „Wo die Fremde beginnt“ erschien im Januar 2023 bei C.H.Beck und wurde für den Deutschen Sachbuchpreis nominiert.