Bewegung in der Vertikalen
Von Tom Mustroph
Overhead Project verbindet Akrobatik und zeitgenössischen Tanz. Der Kulturjournalist Tom Mustroph im Gespräch mit den Preisträger*innen der Tabori Auszeichnung (national) 2022.
Overhead Project wurde 2008 von den gelernten Partnerakrobaten Tim Behren und Florian Patschovsky gegründet und wird heute von Tim Behren künstlerisch geleitet. Die Kompanie kreierte seit ihrer Gründung 15 Produktionen und Gastchoreografien. Zum langjährigen Kernteam gehören der Komponist Simon Bauer, die Lichtdesignerin Charlotte Ducousso, die Performerin Mijin Kim und die Produzentin Mechtild Tellmann. Behren ist Mitbegründer des Bundesverbandes Zeitgenössischer Zirkus und neben seiner choreografischen Tätigkeit auch Initiator und Kurator des CircusDanceFestivals in Köln. Das Interview führte Tom Mustroph.
Tim Behren, Overhead Project operiert zwischen Akrobatik und Tanz. Wie kam es zu dieser doch ungewöhnlichen Verbindung?
Die Kompanie ist als Duo gestartet. Mit Florian Patschovsky, meinem langjährigen künstlerischen Partner, bin ich gemeinsam als Akrobaten-Duo an der École supérieure des arts du cirque in Brüssel ausgebildet worden. Zurück in Deutschland haben wir unseren Platz in der Tanzszene gefunden und uns zum Choreografen-Duo entwickelt. In der Kölner Szene hat sich für uns ein offenes Feld zum künstlerischen Arbeiten geboten, es gab eine gute Nachwuchsförderung und viel Unterstützung von Kolleg*innen. So hat sich uns auch die Möglichkeit der öffentlichen Förderung eröffnet, denn für Zeitgenössischen Zirkus gab es keine Fördermöglichkeiten. Das ändert sich inzwischen. Wir sehen uns als zeitgenössische Zirkuskompanie und gleichzeitig verstehe ich mich als Choreograf und bin fest im Tanz verortet.
Woher kam die Orientierung auf den Tanz?
Für mich sind Zirkus und Tanz sehr nah, viel näher als beispielsweise Zirkus und theatrale Formen. Es geht um Bewegung und es geht um den Körper. Hinzu kommt: Die Zirkushochschule in Brüssel ist sehr geprägt durch die flämische Tanzszene. Wir sind stark beeinflusst worden durch akrobatische Tanzformen, wie beispielsweise von Wim Vandekeybus. An der Zirkushochschule gab es zudem zu unserer Zeit einen starken Fokus auf die Verbindung zum Tanz und Austauschprojekte mit der Partnerhochschule PARTS von Anne Teresa De Keersmaeker. Und Brüssel ist einfach eine riesige Kulturmetropole. Viele große Kompanien aus der internationalen Tanz- und Zirkusszene sind dort zu Gast. Ich habe sehr viel sehen können zu der Zeit.
Was sind die größten Unterschiede zwischen einem Tänzer*innenkörper und einem Akrobat*innenkörper? Welche Bewegungsformen schlagen sich anders im Körper nieder?
Für mich arbeitet der Tanz sehr stark in der Horizontalen und der Zirkus eröffnet die Vertikale, den Luftraum. Akrobat*innen denken in anderen Kategorien: Was ist möglich, Was können wir gemeinsam schaffen, wo lässt sich klettern, wie können wir uns tragen? Das Spiel mit dem Risiko ist noch ein anderer Faktor. Zirkus hat etwas Raues für mich. Im Tanz hingegen ist viel mehr feine Artikulation, es geht um Feinheiten, um Details, um Nuancen. Und das verbindet sich eigentlich ganz schön, die Rauheit des Zirkus und die Feinheit des Tanzes. So ist auch das Aufeinandertreffen von Tänzer*innen und Akrobat*innen im Probenprozess für mich. Es ist ein gegenseitiges sich aneinander inspirieren und das Vermischen von Perspektiven auf Raum und Körper.
Und verwischen sich dann die Bewegungsqualitäten? Oder sieht man immer noch, ob jemand vom zeitgenössischen Tanz herkommt oder von der Akrobatik, selbst wenn sie jetzt mehrere Jahre zusammengearbeitet haben?
In unserer Arbeit geht es darum, dass es nicht mehr diese Zuordnung gibt, sondern dass Tänzer*innen und Akrobat*innen gemeinsam agieren und man gar nicht mehr sieht, kommt die Person jetzt aus der Akrobatik oder aus dem Tanz. Die Spartenabgrenzung ist für die Arbeit im Studio und auf der Bühne nicht relevant. Denn die künstlerische Sprache ist eine sehr hybride. Dazu kommen auch die Musik und die visuelle Dramaturgie aus Licht und Bühnenbild, die einen wichtigen Platz einnehmen. Das einzige, wo es für mich wichtig ist zu sagen, wir sind im zeitgenössischen Zirkus und auch diese Sparte zu stärken, hat mit den Arbeitsbedingungen zu tun. Wo finden wir Räume, die nicht niedrig sind wie ein Tanzstudio, Räume mit Hängepunkten, wo wir in die Höhe denken und schwere Dinge an die Decke hängen können?
Das Pauschenpferd spielt in Ihren Arbeiten eine wiederkehrende Rolle. Nicht nur in Circular Vertigo, der aktuellen Produktion, sondern bereits auch in Surround haben Sie das eingesetzt. Wie kamen Sie auf die Idee, so ein starres, großes, klobiges, schwer bewegliches Objekt in die Arbeit zu integrieren?
Es kam eigentlich als ein metaphorisches Objekt hinein. Wir arbeiten seit 2017 in Trilogien. Die erste war Geometrie und Politik mit der Frage, wie räumliche Anordnungen menschliche Kommunikation bedingen. Wir haben dazu drei Stücke entwickelt, mit jeweils wechselnden räumlichen Settings. Mich interessiert bei Räumen immer wieder: Wie beeinflussen sie eine Situation, wie gestalten sie Kommunikationshierarchien und welche Rolle spielt der Körper darin. Inspiriert haben uns Recherchen aus der Architektur zu Grundrissen von Parlamentsgebäuden.
Im ersten Stück Surround ging es um den Kreis, um die Befragung dieser Idee des Demokratischen, die der Kreis immer wieder verkörpert: wir sitzen in ein und demselben Kreis, wir sprechen auf Augenhöhe, wir sind alle sichtbar. In die leere Mitte des Kreises wollten wir ein einnehmendes Objekt an die Decke hängen. Durch das Schwingen im Kreis definiert es den Raum. Das ist das Pauschenpferd geworden, mit seiner Referenz zum traditionellen Zirkus mit Kreis trabenden Tieren, aber auch zu Erinnerungen aus dem Schulsport sowie die Qualität des Rigiden und Starren im olympischen Turnen. Es ist ein sehr mächtiges, schweres Objekt, in dem Fall mit 100 Kilogramm, zu dem man sich positionieren muss. Man kann sich gar nicht entziehen. In Surround schwingt dieses Pferd im Kreis und zwingt sowohl die Performer*innen als auch später das Publikum sich physisch dazu zu beziehen, also sich zu positionieren. Und das ist etwas, das mich sehr interessiert in der künstlerischen Arbeit: Dass wir Erfahrungsräume schaffen, die ein physisches Zuschauen kreieren. Sei es das Aufschauen in den Luftraum oder der Wind, den man beim Schwingen des Pauschenpferds auf der Haut spürt. Und es macht nicht nur Wind, sondern man spürt, dass das Ding einen letztendlich umhaut, wenn man sich nicht bewegt. Es bringt uns dazu uns zu bewegen, uns zu positionieren.
Wie groß ist tatsächlich die Gefahr, wenn da so ein großes Turngerät auf mich zugewirbelt kommt?
Gefahr ist auch ein Thema im Zirkus. Einmal ist sie natürlich real. Damit arbeiten wir, um Grenzen auszuloten. Und gleichzeitig ist es auch immer ein kalkuliertes Risiko. Es geht weniger darum Gefahr auszustellen. Es geht mehr um eine Form der körperlichen und mentalen Präsenz, die sich sehr körperlich auf die Zuschauer*innen übertragen kann.
Welches sind Ihre typischen Auftrittsorte? Sind es die klassischen Orte der Freien Darstellenden Künste oder sind es auch Zirkusorte? Wie mischt sich das?
Wir sind an Orten der Freien Szene zu Hause, mit Partnern wie dem Ringlokschuppen Ruhr, dem LOFFT in Leipzig oder dem Mannheimer Eintanzhaus. Aber wir haben mittlerweile auch unseren eigenen Standort auf einem Zirkusgelände in Köln. Hier haben wir die räumliche und technische Infrastruktur, die wir brauchen. Das Büro der Kompanie ist tatsächlich in einem Zirkuswagen. Das ist immer etwas witzig, wenn ich dann in meinem Zirkuswagen im Büro sitze und den Leuten in Videokonferenzen etwas von Zeitgenössischem Zirkus erzähle. Irgendwie ist es auch ganz schön, weil natürlich das Neue auch aus dem Alten erwächst und sich immer wieder Reibungs- und Referenzpunkte dazu herstellen lassen. Und Leute in ein Zelt einzuladen, in dem sie etwas völlig anderes zu sehen bekommen, als der äußere Anschein suggeriert, finde ich auch spannend.
Sie sind nicht nur künstlerisch aktiv, sondern auch Sprachrohr für eine Sparte, eine Szene. Ich habe gehört, dass die Gründung der Initiative Neuer Zirkus im Grunde genommen davon ausging, dass Sie mal einen Flyer anfertigten, um bei der Kölner Kulturpolitik auf die Zirkusinitiativen, die schon da sind, aufmerksam zu machen. Und daraus ist später ein Bundesverband entstanden. War der Flyer tatsächlich der Gründungsmoment? Und was hat das bewirkt?
Genau so war es. Das war 2011, eine Gruppe engagierter Zirkusschaffender in Köln, die ihre zeitgenössischen Zirkusformen sichtbar machen wollten und sich Zugang zu öffentlicher Förderung wünschten. Das war der Startschuss für den sich später gegründeten Bundesverband BUZZ, der mittlerweile europaweit vernetzt ist als bundesweit anerkannte Institution dieser Sparte. Er arbeitet immer noch ehrenamtlich, was sich dringend ändern muss. Er ist ein Antriebsmotor dafür, dass sich jetzt auch die Förderstrukturen langsam in Deutschland verändern und Zeitgenössischer Zirkus sich als Teil der Darstellenden Künste etablieren kann.
Wo sehen Sie den Zeitgenössischen Zirkus jetzt, also auch im Kontext der Freien Darstellenden Künste? Ist das eine Sparte davon? Wollen Sie überhaupt eine solche sein oder ist das Verhältnis dazu doch noch ein anderes?
Der Zeitgenössische Zirkus ist als Kunstform ein Teil der Darstellenden Künste. Und andererseits: Müssen wir nicht dieses Spartendenken auch überdenken? In dem Moment, in dem es um die Fragen der Förderwürdigkeit und den Eintritt in die öffentliche Förderlandschaft geht, fängt man automatisch an, andere Formen, wie zum Beispiel die klassischen Zirkusformen, abzuwerten, weil man sich davon absetzen will. Diese Abwertung als niedere Kunst hat der Zirkus bereits im 19. Jahrhundert erfahren. Zu dieser Zeit war er sehr populär und zog Massen von Menschen an. Zirkus ist ein historisch unglaublich spannendes Kulturphänomen, das sehr stark in unserem kollektiven Gedächtnis verankert, aber vor allem durch die Rezeption in Malerei, Literatur, Musik, Pop-Kultur und Werbung geprägt ist. Es geht also heute auch darum andere neue Bilder von Zirkus zu schaffen. Ich denke, es ist wichtig, Zirkus zukünftig als immaterielles Kulturerbe anzuerkennen und einen bewussten und kritischen Umgang damit zu ermöglichen. Insbesondere mit der Kolonialgeschichte des Zirkus, der mit seiner Geschichte des Exzeptionalismus und der Präsentation marginalisierter und exotischer Lebewesen ab Mitte des 19. Jahrhunderts seinen Höhepunkt hatte. Zeitgenössischer Zirkus hat das Potenzial andere Bilder von Zirkus zu kreieren und Diskussion und Diskurs zu eröffnen.
Wie würden Sie Ignorant*innen aus den freien und den institutionalisierten Darstellenden Künsten, die mit dem Zeitgenössischen Zirkus noch nichts anzufangen wissen, erklären wollen, was Zeitgenössischer Zirkus ist?
Das ist immer die Preisfrage. Ich starte meist historisch. Zeitgenössischer Zirkus ist eine in Deutschland noch sehr junge, aber aufstrebende Kunstform, die sich in Frankreich und anderen europäischen Nachbarländern schon seit den 70er Jahren mit entsprechenden Strukturen und einer großen Szene an Künstler*innen entwickelt konnte. Es sind Stücke, die den Körper und Mensch-Objekt-Beziehungen in den Mittelpunkt stellen, Künstler*innen, die ihren Aktionsraum gerne in den Luftraum verlagern und oft einen sehr direkten Kontakt zum Publikum suchen. Es ist eine Kunstform, die Menschen überrascht, mitreißt und begeistert. Die nicht bierernst daher kommt und sich nicht scheut, dem Schrägen, teilweise auch dem Lustigen, sehr viel Raum zu geben. Eine Kunstform, die es zu entdecken lohnt.
Was bedeutet die Tabori Auszeichnung für Sie, und vielleicht auch für den Zeitgenössischen Zirkus insgesamt? Und welche Hoffnung verknüpfen Sie damit?
Das ist eine stärkende Anerkennung. Vor allem für die kontinuierliche künstlerische Arbeit und Entwicklung der Kompanie. Es ist wunderbar, dass diese Anerkennung an einen Akteur aus dem Bereich Zeitgenössischer Zirkus geht und in Deutschland eine Sichtbarkeit für diese Kunstform, für die wir stehen, schafft. Ich wünsche mir mehr Produktionshäuser als feste Partner für Gruppen aus dem Zeitgenössischen Zirkus. Und dass hierzulande mehr Räume entstehen, in denen Produktionen wie unsere gezeigt werden können. Eine Vision wäre ein Circus-Choreografisches Centrum in Deutschland nach französischem Vorbild, das Kreation, Recherche und Aufführungen von Produktionen mit zirkusspezifischen Anforderungen unterstützt und fördert.