Blockbuster übers Abbaggern

Von Elena Philipp

Markus&Markus folgen in „Titanic II“ den Spuren des globalen Sandraubbaus. Das Team über ihre Recherchen im Rahmen der Prozessförderung im Gespräch mit Elena Philipp.

Das Team von Markus&Markus steht, mit Eimern in den Händen, vor großen Sandskulpturen in einer großen Halle in Travemünde. © Markus&Markus

Trotz Eimerchen kein Sand zum Mitnehmen: Besuch bei den Sandskulpturen in Travemünde.

Teil Zwei von „Titanic“: Das wäre doch was, James Camerons Blockbuster aus dem Jahr 1997 fortzusetzen. Hollywood holt aus allem ein Sequel heraus. Warum nicht auch die Darstellenden Künste? Das Markus&Markus-Kollektiv stellt sich mit seiner neuen Produktion dieser Aufgabe. Und kommt auf eine überraschende Idee für die Fortsetzung. Das Unhappy Ending ist bekannt, der Luxusdampfer sinkt, zwei Drittel der Passagiere und Besatzung ertrinken, nur wenige Hundert werden gerettet. Hollywood würde hier vom Leiden der Familien erzählen oder ein Gerichtsdrama rund um die Kreuzfahrtgesellschaft White Star Line inszenieren. Markus&Markus denken szenisch und gehen vom Filmbild aus: Die Titanic liegt am Schluss auf dem Meeresgrund, dort muss also „Titanic II“ beginnen. „Wir wollten einen sauberen Anschluss“, sagt Lara-Joy Bues, eine von vier Mitgliedern des Theaterkollektivs, beim Besuch auf ihrer Probebühne. „Und für diese erste Einstellung brauchten wir Sand. Viel Sand.“

Von der Sandgrube an den Strand

Sand, das klingt simpel. Die Bühnenbild-Beschaffung gestaltete sich dann jedoch nicht so einfach wie gedacht. Aus „Titanic II“ wird eine Recherchereise, die in Brandenburg beginnt und in Nordindien endet. Oder vielmehr im Lichthof Theater Hamburg, wo die Stückentwicklung Anfang April 2023 auf Jungfernfahrt geht. In der ersten Szene machen sich die Mitglieder des Theaterkollektivs mit Eimerchen auf den Weg zur Sandgrube in Brandenburg. „Das bisschen, was da noch lag, wird nicht reichen“, meldet jedoch Katarina Eckolds’ „Ekke“ an die Kolleg*innen. „Dann müssen wir eben noch wo anders gucken.“ Doch auch am Nordseestrand ist der Sand knapp. In Sylt pumpt ein Saugschiff Sand vom Meeresgrund vor der Küste, um ihn am Strand aufzuspülen. „Damit der Strand nicht verschwindet. Damit Sylt nicht verschwindet“, lässt sich Markus Schäfers „Schäfi“ erklären. Ihr gelbes Gold können Markus&Markus also auch hier nicht schürfen.

Sand ist eine knappe Ressource, das ist ein Fakt der globalen Ökonomie. „Der Grund ist: Beton“, erklärt Markus Schäfer. Das Bauwesen ist auf Quarzsand angewiesen, so wie die Glas- und Halbleiterindustrie. Als nächste Station steuern Markus&Markus also ein Betonwerk an. Dort lernen sie Thorsten kennen, der – trotz oder aufgrund seines Jobs – eine tiefe Liebe zum Rohstoff seiner Branche hegt. Zehntausende von Jahren dauere es, bis Gestein zu Sandkörnern verwittere. Größere Brocken werden von Wind und Wasser abgeschliffen die Körnchen weitertransportiert, verweht oder in Flüssen angespült. „Und dann sagte er diesen Satz, als würde er ihn in Stein meißeln“, heißt es über Thorsten im „Titanic II“-Skript. „Dass die gesamte Menschheit jährlich doppelt so viel Sand verbraucht, wie alle Flüsse der Welt nachliefern.“

Aus einem dicken Rohr wird Sand an den Strand von Sylt gespült - im Hintergrund die Nordsee © Markus&Markus

Rohre, die ein Idyll stabilisieren: Auf Sylt wird der Strand aufgespült.

Recherchen formen die Stückentwicklung


Zweimal so viel Sand wie jährlich entsteht: das klingt wie aus dem Lehrbuch für die Klimakatastrophe. Ein für die Folgen blinder Verbrauch einer knappe Ressource. Öl, Kohle, Sand: Wir plündern unseren Planeten. Auf Sylt ist das noch nicht so offensichtlich, denn mit den aufwändigen, ganzjährigen Maßnahmen zum Küstenschutz wird die Nordseeinsel derzeit noch stabilisiert. Wo sind die Folgen des Raubbaus heute schon sichtbar?, fragte das Markus&Markus-Kollektiv Expert*innen auf diesem Gebiet. Nadja Ziebarth, die Leiterin des Meeresschutzbüros beim Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland, verwies sie weiter an eine Nichtregierungsorganisation in Indien. Mit den Mitteln aus der Prozessförderung des Fonds Darstellende Künste konnten die vier Markus&Markus-Mitglieder Kontakt zum South Asian Network on Dams, Rivers and People, kurz SANDRP, aufnehmen und zu Recherchezwecken nach Nordindien reisen.

„In dem Modus, in dem wir arbeiten, hat die Prozessförderung uns enorm geholfen“, sagt Lara-Joy Bues. Markus&Markus entwickeln ihre Stücke recherchebasiert. Ihre eminent politischen Themen – Engagement für die Demokratie, Demenz oder Sterbehilfe, wie in ihrer Ibsen-Trilogie – verhandeln sie direkt mit betroffenen Personen und Expert*innen, die sie aufsuchen und filmen. „Damit haben wir sauberes dokumentarisches Material, das wir möglichst kontraststark auf der Bühnenebene kommentieren“, beschreibt Bues die Arbeitsweise, die das Kollektiv für sich entwickelt hat. „Das heißt aber auch, wir können unsere Inszenierung und das Texteschreiben erst beginnen, wenn wir das Filmmaterial haben oder konkret wissen, mit wem wir zusammenarbeiten.“ Vor den Probenphasen gibt es, wie bei den meisten freien Gruppen, einen langen Recherchevorlauf, der von der üblichen Einzelprojektförderung nicht abgedeckt wird. „Deswegen war es super, durch die Prozessförderung die Möglichkeit zu haben, diese Teile der Arbeit zu trennen“, sagt Lara-Joy Bues.

Sichtbare Folgen des Sandabbaus

Am Fluss Yamuna im nordindischen Bundesstaat Haryana sind eindrückliche Aufnahmen entstanden. „Die Landschaft sieht furchtbar aus“, erzählt Bues. „Ein riesiges Gebiet wird zur Wüste. Es gab dort einen Fluss, durchs Ausbaggern wurde er breiter, dann ist er ausgetrocknet.“ Das hat schon jetzt enorme Folgen. Landwirtschaft, wie sie traditionell hier betrieben wurde, ist kaum mehr möglich, sagt Markus Schäfer: „Dort gab es Flussfarmen, die Bauern haben Melonen oder Gurken im Wasser angebaut.“ Am ausgetrockneten Flussbett ist das natürlich nicht mehr möglich. Berufe sterben aus – auch Fährleute oder Fischer kommen am Yamuna kaum mehr über die Runden.

Hügelige Sandlandschaft an den Ufern des Flusses Yamuna in Indien, an dem Sand gefördert wird. © Markus&Markus

Hier werden natürliche Ressourcen zu Baustoffen: Eine Steinbrecheranlage in Indien.

Wie der Sandabbau das Land schädigt, konnte Markus Schäfer live beobachten: „An den Ufern entstehen sehr viel schroffere Abbruchkanten. Dort wird Zuckerrohr angebaut. Wenn man eine Stunde lang über den Fluss schaut, bricht in der Zeit dreimal Land ab.“ Die Anbauflächen werden kleiner, der Fluss verschlammt, die Lebensgrundlagen verschwinden. „Die Lebensader, die der Fluss für Millionen von Menschen ist, versiegt.“ Die bedrohlichen Veränderungen sind natürlich auch den Einheimischen bewusst: „Ein Farmer, mit dem wir gesprochen haben, schätzt, dass bis 2050 die Hälfte aller Arten verschwinden wird. 70 Tierarten haben sie in den letzten Jahren schon verloren.“ Trotzdem vermieten die Grundbesitzenden ihr Land an die Abbaufirmen, die dort abgebaggerten Sand oder Schutt zwischenlagern. Was sollen sie auch machen, wenn sie es nicht mehr bewirtschaften können?

„Uns ist es wichtig, die Menschen dort nicht zu stigmatisieren“, sagt Lara-Joy Bues. „Das ist kein ‚indisches Problem’. Wir hätten auch an anderen Orten den Sandraubbau recherchieren können. In Indonesien verschwinden ganze Inseln, weil vor Singapur so viel Sand gefördert wird.“ Die Sache mit dem Sand, der Markus&Markus auf der Spur sind, ist ein ziemliches Riesending. Und „Titanic II“ ist, wie die popkulturelle Filmvorlage von James Cameron, ein solide recherchiertes disaster piece. „Die Titanic hat etliche Eiswarnungen erhalten, sich aber entschieden, mit Vollspeed auf den Eisberg zuzuhalten Das ist es, was wir als Menschheit gerade auch machen“, sagt Lara-Joy Bues. Wie die Besatzung und die Reederei 1912 glauben wir offenbar alle an den Mythos vom unsinkbaren Schiff. Wie ist unser Status – sind wir schon mit dem Eisberg kollidiert, laufen die ersten Kabinen voll Wasser, gehen wir bald unter? „Darüber haben wir lang diskutiert und waren im Kollektiv nicht einer Meinung“, so Bues. „Bei einem Probedurchlauf mit Publikum haben die Besucher*innen im Anschluss darüber geredet, wo wir stehen. Und wir haben gemerkt, dass es schön ist, wenn das offen bleibt.“ Und das Markus&Markus-Kollektiv hat Stoff für die nächste Fortsetzung.