„Blümerie, Poesie & irgendwas mit Keksen“?

Von Elena Philipp

Zukunftsideen und konkrete Handlungsempfehlungen entstehen an Tag 3 des Bundesforums.

Was ist eine Vision? Eine versponnene, realitätsferne Vorstellung der Zukunft? Oder ein handfestes Vorhaben? Wirklichkeitsnah stellt sich Ulrike Seybold Visionen vor. Die Geschäftsführerin des NRW-Landesbüros Freie Darstellende Künste, Vorstandsmitglied des BFDK, hält den Impuls zur AG III.2 („Visionär: Weiterentwicklung der Förderarchitektur & -strukturen für die Zukunft“). Größer als das Ziel, kleiner als die Utopie – mit dieser Vorgabe geht’s in die Arbeitsgruppe. Einprägsame Begriffspaare hat Seybold entworfen, um die Überlegungen in Gang zu bringen: Begegnung statt Bubble, Förderarchitektur statt Förderdschungel, Funken statt Funktion, Kollaboration statt Konkurrenz, Verständnis statt Verwaltung. Kreativ, kooperativ, vielleicht sogar ein wenig kuschelig soll’s werden? Das deutet ihr auf ein Post-it gekritzeltes Motto an, das anstelle der zuvor gezeigten Stockphotos mit ihren nach oben weisenden Pfeilen für das Visionäre steht: „Blümerie, Poesie & irgendwas mit Keksen“.

Ulrike Seybold hält am Redner*innepult ihren Impulsvortrag. Im Hintergrund ist der Schriftzug "visionär!?! Eine Einstimmung auf die Förderarchitektur der Zukunft" zu lesen. © Dorothea Tuch

Bundesforum 2021: Impuslvortrag von Ulrike Seybold

Keksfrei, aber konkret listen wir Teilnehmenden nach angeregter Diskussion die Ideen und Handlungsempfehlungen auf, die anhand von fünf Fragen entstehen. Im kleinen Kreis werden die generellen Grundlagen des Kunstschaffens noch einmal gerade gerückt. Sollten Förderinstrumente der Argumentation folgen, dass Kunst dazu beitragen könne, gesamtgesellschaftliche Krisen zu bewältigen? Klares Nein in einer Gruppe, der zwei Kulturamts-Mitarbeiterinnen angehören: Die Kunst ist frei. Inwiefern sie gesellschaftlich wirksam werden wollen, entscheiden die Künstler*innen selbst. Vorgeschlagen wird, ebenso überzeugt, künftig nicht mit starren Förderkriterien an die Künstler*innen heranzutreten, sondern Optionenkataloge zu entwickeln, die Vorschläge unterbreiten und nach Maßgabe der Frage „was braucht Ihr?“ erweitert werden können. Wirksam wird hier ein Generationenwechsel in den Verwaltungen, über den auch gesprochen wird: Statt quasi-feudaler Amtsträger*innen sind dort zunehmend Menschen am Werk, die selbst aus den Freien Künsten kommen und wissen, wie sich die Arbeit in dem Bereich anfühlt.

Gedacht wird in der AG III.2 von den Künstler*innen aus. Deren Bedürfnisse in enger Abstimmung mit der Kulturpolitik und Verwaltung besser zu berücksichtigen, scheint mittlerweile Usus, zumindest bei den Verwaltungsvertreter*innen, die auf dem Bundesforum unterwegs sind. Als Modellprojekt genannt wird der Runde Tisch Tanz Berlin, an dem 2018 im Austausch zwischen Kulturpolitik, Verwaltung und Künstler*innen ein Entwicklungsplan für die hauptstädtische Tanzszene entstanden ist. Leise meldet sich in meinem Hinterkopf wieder der Einwand der vorherigen Tage: Wird hier nicht das Publikum – oder, mit Ulrike Seybold: die Begegnung statt der Bubble – allzu sehr ausgeblendet? Erstaunlich einmütig ist das Einverständnis der AG-Untergruppe, dass neue „Scharniere“ der Vermittlung zwischen Künstler*innen und Gesellschaft nicht nötig seien: „Die Kunst findet ihr Publikum.“

Ändern soll sich eher etwas im Verhältnis von Verwaltung und Förderempfänger*innen. Von einer Partner*innenschaft auf Augenhöhe, stetiger Kommunikation und gemeinsamen ThinkTanks ist die Rede. Dialog ist gut und schön, bricht es da aus Elisabeth Bohde von der Theaterwerkstatt Pilkentafel heraus – aber verschleiert das nicht die Machtverhältnisses eines solchen Austauschs? Als Künstlerin sei sie abhängig von den Fördergeber*innen, diese aber nicht von ihr. Verwaltungsangestellte gingen bezahlt in ein Treffen, sie hingegen unbezahlt. „Es wird so viel über Machtkritik gesprochen. Wir können doch nicht über Kommunikation so tun, als würde das Machtgefälle nicht existieren.“ Kritik statt Kuscheln, das könnte auch ein Merkspruch sein, den wir alle uns gelegentlich vergegenwärtigen müssen. Und, auch wenn es nicht besonders angenehm klingt: Manchmal ist Abstand angesagt statt Annäherung.

Ans Eingemachte geht es hier zu Recht. Blümerie, Poesie und Kekse können allenfalls in Stimmung bringen, zum Beispiel für die harten Verhandlungen, die angesichts der absehbaren Post-Corona-Ebbe in den Haushalten anstehen. (Als Vorbedingung fürs visionäre Denken hat Ulrike Seybold ihr Motto auch vorgestellt, um hier Missverständnisse zu vermeiden.) Aufwuchsforderungen und Ausbauphantasien wirken derzeit in der Tat utopisch – aber für die Freien Darstellenden Künste gilt, in Umkehrung des Bonmots, dass zum Arzt gehen sollte, wer keine Visionen hat.

Pragmatisch wirken, aber systemstürzend wären denn auch die Vorschläge, welche für die AG III.3 („Über das Zusammenspiel von Förder- und Sozialstaat: Kunst- oder Sozialförderung?“) Birgit Walkenhorst vom Landesverband professioneller freier Theater Rheinland-Pfalz im Resümee vorträgt. Gefordert wird unter anderem, die Normierung bestehender Sozialversicherungssysteme aufzulösen und Erwerbsformen jenseits von „immer angestellt“ und „immer selbständig“ abzubilden. Und Versicherungssysteme transnational zu synchronisieren beziehungsweise EU-weit anzuerkennen, was die Praxis künstlerischen Arbeitens, die nicht auf den Nationalstaat begrenzt ist, enorm erleichtern würde. Und es Künstler*innen ermöglichte, auf vielfältige(re)n Wegen zum Beispiel eine halbwegs angemessene Altersvorsorge zu bilden.

In kaum zwei Stunden hat die Arbeitsgruppe „Kunst- oder Sozialförderung“ auch grundlegende Begriffsarbeit geleistet. „Arbeitslosigkeit“: Dieser Begriff komme aus der Angestelltenpraxis. Denn „arbeitslos“ – was bedeute das für Soloselbständige? Ohne Beschäftigung, ohne Auftrag oder ohne Einkommen zu sein? So radikal in der AG III.3 die Grundlagen des gängigen staatlichen Verständnisses von Arbeit hinterfragt werden, so solidarisch wird über Förderung nachgedacht. Flexibilisiert werden müsse die Verwendung von Fördergeldern, das Umwidmen vereinfacht, Gelder auch über die Projektlaufzeit hinaus einsetzbar sein, um die wenig nachhaltige Ausgabehektik zum Projektende zu vermeiden. Und warum nicht das Verschenken von Fördergeldern erlauben? Geld weiterreichen – welch wagemutiger Wunsch, welch großzügige Geste, gerade angesichts der auf Evaluation und Nachweise bedachten Förderpraxis. Kooperation statt Konkurrenz. Engagement statt Eigennutz.

Die Abschlussfrage der AG III.3 sollten sich die Kulturverwaltungen in ihre Büros hängen: „Wieso eigentlich stellen Förderinstrumente die Frage nach künstlerischer Innovation – und erwarten in der Umsetzung nur noch ökonomisch-quantitative Ergebnisse?“ Vielleicht sollten sie einen Seybold-kurzen Merksatz daneben heften: Gerade weil wir vor so vielen Herausforderungen stehen, braucht es Visionen statt Verwaltung.


Tagesaktuell berichten die Kulturjournalist*innen Georg Kasch und Elena Philipp von dem Geschehen vor Ort, zeichnen die Diskussionen nach und geben Einblicke in die Vorträge und vertretenen Standpunkte.