Bühne frei für Digitalkunst

Von Elena Philipp

Kultur trotz(t) Krise (Folge 4): Wie sich Virtual Reality und Theater verbinden können, erkunden das Hamburger VRHAM!-Festival und das Institut für theatrale Zukunftsforschung (ITZ) des Zimmertheater Tübingen. Den ganzen Artikel von Elena Philipp gibt es hier zum Nachlesen.

Vielfältig geht es zu in der virtuellen Realität: Pflanzenartiges wuchert in einer Simulation von Ökosystemen, die aus der Verschmelzung von Technologie und organischer Materie entstehen. Auf eine*n Fremde*n reagieren zwei Gruppen von Avataren, die mit künstlicher Intelligenz ausgestattet sind – welche sozialen Dynamiken ergeben sich? Einblick gibt es in private Räume, die während der Quarantäne zu unverzichtbaren Rückzugsorten geworden sind – als begehbares, immersives Archiv und Zeitkapsel, die die global für viele Menschen ähnliche Corona-Situation bewahrt. „Floralia“, „Aporia“ und „The Smallest of Worlds“: Drei digitale Kunstwerke, zu sehen beim VRHAM! Virtual Reality & Arts Festival 2021 – und zwar ‚in echt‘, vor Ort.

Seit 2018 zeigt VRHAM! im Hamburger Oberhafen jeden Juni künstlerische Arbeiten für Virtual Reality, Extended oder Augmented Reality, 360°-Filme und immersive Installationen. Als erstes internationales künstlerisches Virtual Reality-Festival legt VRHAM! seinen Schwerpunkt auf diese Formate. Für die eingeladene Digitalkunst und die Besucher*innen gestaltet das Team in der Festivalwoche eine live begehbare Ausstellung: „Wir wollen die Arbeiten in einen Kontext setzen und sie physisch erlebbar machen“, erklärt die Festivaldramaturgin Sabrina Schmidt. „Oft gibt es noch eine Schwellenangst gegenüber der Technik. An den Ort gehen und abgeholt werden: Das ist der Kern des Festivals.“ Aufwändige Einbauten organisiert VRHAM! dafür im Oberhafen, dem Kunst- und Kulturquartier in einem ehemaligen Güterbahnhof am Rand der neu gebauten Hafencity. Für jede bei VRHAM! präsentierte Arbeit entsteht in der langen Gleishalle und den angrenzenden einstigen Lagerräumen ein bühnenartiges Setting.

Eine Person mit VR-Brille steht in einem durchsichtigen hohen Kubus, der in einer dunklen Bühnensituation installiert ist. Rechts und links davon finden sich Leinwände auf die projiziert wird. © Diakaki Mersiadou

Ilja Mirsky etwa baute einen heimeligen, mit Teppich ausgelegten Raum für seine und Vivienne Mayers 2019 gezeigte performative VR-Installation „U|topian Space|S|“. Dort konnten zwei Besucher*innen mit einem Performer interagieren, der in Echtzeit von 3D-Kameras gefilmt und als Avatar in die VR-Umgebung eingespielt wurde. Motion Capture-Technologie machte das möglich. Für die VR-Arbeit „The Grass Smells So Sweet“ wurde 2018 bei VRHAM! ein vier mal vier Meter großes Rasenquadrat ausgerollt. „Wenn das Bodengefühl mit den visuellen Erfahrungen übereinstimmt, ist das eine intensivere Erfahrung“, erinnert sich Ilja Mirsky, der auch noch den künstlichen Geruch nach frisch geschnittenem Gras in der Nase hat. „Uns ist der szenographische Charakter wichtig“, sagt Sabrina Schmidt. „Auch viele Künstler*innen in dem Bereich arbeiten mit sensorischen Eindrücken, mit Objekten oder Oberflächen, die man anfassen kann, mit Luftzug oder Gerüchen. Es ist spannend zu sehen, wie die eigene Physis darauf reagiert.“

Für die physische Ausgabe von VRHAM! war Corona 2020 ein Dämpfer, wie für so viele Kunstprojekte. Installationen im analogen Raum waren nicht möglich – aber für ein den digitalen Künsten gewidmetes Festival war die rein digitale Version auch die Chance auf eine breitere Wahrnehmung. Und eine positive Herausforderung, die technisch noch einmal zu neuen Kenntnissen und Ideen führte, wie Sabrina Schmidt und Ilja Mirsky erzählen. 2021 fand VRHAM! als hybrides Format statt: Unter strengen Hygieneauflagen und mit kleinen Gruppen von Besucher*innen im Hamburger Oberhafen, weltweit zugänglich als Online-Festival.

Die Bedeutung der analogen Ausstellung für das VRHAM!-Festival, das VR-Kunst im Realraum inszeniert und eben nicht nur online ausspielt, hat auch mit den beruflichen Hintergründen der Veranstalter*innen zu tun. Der Gründer und Künstlerische Leiter Ulrich Schrauth war Betriebsdirektor am Thalia Theater Hamburg und Produktionsleiter des internationalen Festivals Theater der Welt 2017. Dort lernte ihn Sabrina Schmidt kennen, die in der Dramaturgie der Münchner Kammerspiele, als Künstlerische Produktionsleiterin für das Festival Spielart und die Berliner Volksbühne gearbeitet hat. Ilja Mirsky, der als freiberuflicher Mitarbeiter bei VRHAM! 2020 die technische Leitung inne hatte und zum Thema Künstliche Intelligenz und Mensch-Maschine-Interaktion promoviert, ist seit seinem Studium der Kognitionswissenschaften und Performance Studies in Hamburg als Dramaturg am Zimmertheater Tübingen tätig. Als „Institut für theatrale Zukunftsforschung“ (ITZ) hat sich Deutschlands kleinstes Stadttheater seit dem Intendanzantritt von Dieter und Peer Mia Ripberger 2018/19 neu erfunden. Und mit dem ITZ Tübingen ging VRHAM! 2021 eine Kooperation ein.

Gefördert über das #TakeNote-Programm für Wissenstransfer und Kooperationen, entwickelten VRHAM! und das ITZ Tübingen ein dreiteiliges Angebot: ein Diskursprogramm mit internationalen VR-Expert*innen, einen VR-Workshop für freie Theaterschaffende und zwei Residenzen für Künstler*innen.

Ist das, trotz der persönlichen Verbindung der Beteiligten, nicht sehr weit voneinander entfernt – ein VR-Kunst-Festival in Hamburg und ein Stadttheater in Tübingen? Mitnichten, erklären Ilja Mirsky und Sabrina Schmidt. „Ein wichtiger inhaltlicher Schwerpunkt am Zimmertheater ist die Digitalisierung, die immer wieder bei den Stückentwicklungen zu aktuellen gesellschaftspolitischen Themen einfließt“, erklärt Ilja Mirsky die inhaltliche Nähe der beiden Institutionen. „Tübingen ist der größte Forschungsstandort für Künstliche Intelligenz in Europa, die Stadt wird auch ‚Cyber Valley‘ genannt.“ Mit zahlreichen KI-Akteur*innen arbeite das Zimmertheater immer wieder zusammen. „Am ITZ setzen wir das Potenzial von digitalen Techniken künstlerisch ein – und die Residenzen in Kooperation mit dem VRHAM! waren für uns sehr interessant: Was kann passieren, wenn Künstler*innen, die einen Schwerpunkt auf VR und XR haben, nach Tübingen kommen? Wie kann man Brücken schlagen zwischen Theater und Festival?“ „Gerade nach dem letzten Jahr ist das die Frage“, ergänzt Sabrina Schmidt. „Was bedeutet es für Theater und Festivals programmatisch, wenn mit neuen Techniken auch neue Erzählweisen und Ästhetiken Einzug halten in die Kunst? Wie setzt man sich damit auseinander und was bedeutet das für die Zukunft?“

Um das herauszufinden, luden VRHAM! und das ITZ nach einer EU-weiten offenen Ausschreibung zwei Künstler*innengruppen zu Residenzen ein. Zoe Diakaki und Marina Mersiadou aus London konnten coronabedingt nicht anreisen, mit ihnen trafen sich die Organisator*innen im virtuellen Raum. Über Fotos und Videos gaben Diakaki und Mersiadou einen Einblick in ihren künstlerischen Prozess und tauschten sich mit ihren Mentor*innen darüber aus, wie es mit der performativen Produktion „Inhibition“ weitergehen sollte. Ist „Inhibition“ fertig, soll sie beim VRHAM!-Festival gezeigt werden.

Gustavo Gomes, einem ehemaligen Tänzer bei Richard Siegal und dem Digitalem gegenüber aufgeschlossenen Ballet of Difference in Köln, konnte in Tübingen arbeiten. Ihm und den übrigen Beteiligten – zwei Tänzer*innen, ein AR-Spezialist, ein Filmemacher – stellte das Zimmertheater ein Black-Box-Bühne, technische Betreuung und die theatereigenen Gästewohnungen inklusive der Neckar-Terrasse zur Verfügung. „Das ist ein idyllisches Setting. Alle künstlerischen Produktionsteams bei uns haben ein Residency-Flair, sie wohnen mitten in der Tübinger Altstadt und bekommen die beste technische Unterstützung auf den zwei Bühnen“, findet Ilja Mirsky. Sieben Tage lang arbeitete Gustavo Gomes in Tübingen an der Choreographie für seine AR-Tanzproduktion „Votary“. Komplex ist sein Vorhaben, das er in mehreren Residenzen umsetzen wird: „Votary“ beruht auf einem binären Codierungssystem für die einzelnen Bewegungen. Mit einem 3D-Tiefensensor wurden die Körper der Tanzenden räumlich gescannt, um sie später digital in eine ebenfalls gescannte Moskauer Kapelle einzufügen und durch den Einsatz von Augmented Reality auszuspielen. „Das ist das transnationale Potenzial von VR“, ist Mirsky begeistert. „Man führt jenseits aller Grenzen unterschiedliche Körper und Umgebungen zusammen, in einem dritten Raum.“

Für eine der beiden Residenzen 2021 blieb dieser dritte Raum leider der einzig verfügbare: „Der Austausch hat gefehlt“, sagt Sabrina Schmidt. „Wir wollten, dass beide Teams an einem Ort zusammenkommen. Über Zoom-Meetings haben wir das abzubilden versucht, aber das ist nicht das Gleiche.“ Nun hoffen VRHAM! und das ITZ, dass die Residenzen im kommenden Jahr im Realraum stattfinden können – und dass sie finanzierbar sind. Ohne die #TakeNote-Förderung wäre das für den Trägerverein von VRHAM! nicht möglich gewesen, trotz anderer bewilligter Förderanträgen und eingeworbener Drittmittel. Dabei sind die ergebnisoffenen, forschungsbetonten Residenzen in einer jungen, komplexen Kunstform wie virtueller und erweiterter Realität so wichtig: „Wir möchten es den Künstler*innen gerne ermöglichen, ihre Vorhaben in einem geschützten Rahmen weiterzuentwickeln, ohne dass das Ergebnis, wie an einem Theater, fertig und präsentierbar sein muss“, sagt Sabrina Schmidt. „Fürs Ausprobieren braucht man Zeit und Raum.“ Mehr Freiräume bedeuten mehr technische Grundlagenforschung und ästhetische Vertiefung. So kann sich Vielfalt in der VR-Kunst weiter entfalten.

In der Reihe „Kunst trotz(t) Krise“ blicken die Kulturjournalist*innen Elena Philipp und Georg Kasch im Auftrag des Fonds Darstellende Künste einen Blick hinter die Kulissen geförderter Projekte. Wie wirkt die #TakeThat-Förderung des Fonds im Rahmen des NEUSTART KULTUR-Programms der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien?