Das Nadelöhr des Atems

Kultur trotz(t) Krise (Folge 11) – Mit der Summer School „Sainte Réalité“ suchen der Choreograf Ben J. Riepe und seine Kompanie nach Antworten auf die existenziellen Krisen der Zeit. Ein Beitrag von Elena Philipp.

Zehn Tage Training für eine neue Welt: Unter diesem Motto starteten Ben J. Riepe und seine Kompanie im September 2021 ihre Summer School „Sainte Réalité“. Im eigenen Studio, auf Zoom, aber auch im Museum, in der Stadt oder im Wald begegneten sich die Teilnehmenden, um mit Körperübungen und Atemmediationen, in Vorträgen, bei einer Aufführung des performativen Parcours „Creature“, beim gemeinsamen Fasten, Essen und Feiern gemeinsame Erfahrungen zu machen. Das Ziel: neue Verbindungen zu finden.

Viele Menschen sitzen verteilt auf einer Wiese im Gras, neigen den Oberkörper nach links und strecken den rechten Arm in die Höhe. © Lisa Viezens

Ben J. Riepe - Summer School Sainte Réalité

Alles in Frage stellen

Entfaltet hat sich die Idee für die Inhalte und Anliegen der Summer School, die aus Mitteln von #TakeAction gefördert wurde, in der Corona-Zeit. „Der erste Lockdown hat uns in voller Fahrt getroffen“, erzählt Ben J. Riepe im Zoom-Gespräch. „Ich war mit meiner Familie in Litauen und habe dort ein Stück für das Aura Dance Theatre zu proben begonnen. Wir hatten uns gerade eingerichtet und mussten dann sehr plötzlich abreisen. In letzter Minute sind wir noch rausgekommen, das war abenteuerlich.“

Zurück in Düsseldorf, wo die Ben J. Riepe Kompanie ansässig ist, walzte die Corona-Bugwelle jegliche Planung nieder. Alles wurde abgesagt, teils sehr kurzfristig – für April 2020 war eine Tour durch Brasilien und Paraguay geplant. „Es war eigentlich wahnsinnig viel los. Dann kam auf einmal diese Zäsur.“ Mit Mann und Kind zog Ben J. Riepe für zehn Wochen aufs Land, zu seinen Eltern. Wirklich auszusteigen, nach Jahren auf Hochtouren, sei für ihn und sein Team auch heilsam gewesen, erzählt Riepe. „Das war eine große Zeit des Nachdenkens, der Fragen nach dem Sinn der Arbeit, dem Sinn von Kunst und dem Tempo, in dem wir sie produzieren.“ Also die Zeiger auf Null, erst mal ganz raus und alles in Frage stellen.

Wie funktioniert nachhaltiges Touring?

Begonnen hatte Ben J. Riepe mit dem Infragestellen schon lange zuvor. Für seine freie Kompanie gehört das Touren zum Kerngeschäft, ist Teil der Finanzierungsstrategie. Aber internationales Touring – ist das nicht eigentlich, neben dem Export künstlerischer Produkte, eine Art von Kolonialismus? „Wie können wir einen globalen Austausch erzeugen, ohne die Umwelt zu zerstören?“ Ben J. Riepe hat auf diese Frage schon vor einigen Jahren eine Antwort gefunden: lokales Produzieren.

2017 und 2019 war er länger in Brasilien, unter anderem mit einem Stipendium des Goethe Instituts in Salvador, Bahia. Er spricht portugiesisch und hat seine Projekte dort gemeinsam mit Künstler*innen aus der Region entwickelt. Aber die Grundkonstellation blieb, und sie beschäftigt ihn bis heute: „Ich war der weiße Mann und als Choreograph in einer Machtposition.“ Zudem brachten die deutschen Projektbeteiligten das Geld mit. Wie kann man sich so auf Augenhöhe begegnen?

Mittels Förderungen konnten sie die brasilianischen Mitwirkenden nach Deutschland holen, 2019 eine erste Summer School organisieren und den Künstler*innen, die teils ihr Heimatland noch nie verlassen hatten, Zeit für Kontakte und einen Austausch mit dem Publikum ermöglichen. „Das alles hat mich zum Gedanken der Nachhaltigkeit gebracht“, sagt Ben J. Riepe. „Das ständige Hin- und Hergefliege für einige wenige Vorstellungen ist nicht richtig.“ Verstärkend wirkte dann, wie bei so vielen Theaterschaffenden, die Corona-Situation. „Das war sehr existentiell. Wir hatten uns die Fragen schon gestellt, aber sie wurden so drängend. Was ist unser Wirkungsumfeld? Was bewirkt die Kunst, was meine Arbeit?“

Ein lila ausgeleuchteter Bühnen. Zwei Menschen sitzen an einem Technikpult. Vor Ihnen liegen elf Personen auf dem Boden. © Lisa Viezens

Ben J. Riepe - Summer School Sainte Réalité

Wissensformen vor Ort in Beziehung bringen

Wie schon beim internationalen Touring, das zur ersten Summer School führte, fand die Kompanie eine Zuspitzung, die nun in die zweite Summer School „Sainte Réalité“ mündete: „Was bedeutet es, sich vor Ort zu verbinden, mit einer Szene, mit Menschen?“ Organisiert hat das zehntägige Event, in Düsseldorf und teils online, Ben J. Riepe gemeinsam mit der Kuratorin und Dramaturgin Janine Blöß. Professionelle Tänzer*innen, Studierende und eine interessierte Öffentlichkeit waren eingeladen, einzutauchen in dramaturgisch sehr bewusst gestaltete Begegnungen mit akademischem Wissen und künstlerisch-experimentellen Forschungen, kognitiven Zugängen und sinnlichen Erlebnissen. „Künstlerische Forschung ist mittlerweile anerkannt, aber wie ist es mit anderen Wissensformen wie indigenen oder spirituellen Techniken?“ Wissen, dem wir, so Ben J. Riepe, nach materiellen Maßstäben keinen Wert beimessen können – das aber ein rein kognitives Begreifen der Welt ergänzt und vervollständigt.

Für Ben J. Riepe ist das der Kern seiner Kunstform: „Choreographieren bedeutet für mich, unterschiedliche Sprachen, Formen und Inhalte in eine Beziehung zueinander zu bringen, in ein schwebendes Verhältnis zueinander, so dass sie in Austausch kommen, sich gegenseitig befruchten, erweitern.“ Derart ließe sich auch in die Zukunft spüren: „Wir haben es durch die Corona-Zäsur alle gemerkt: Wir müssen anders weitermachen, aber wir wissen nicht, wie. Ich weiß das auch nicht, aber ich weiß, es gibt andere Kanäle, um aufmerksam zu werden.“ Da ist es wieder: das Training für eine neue Welt.

Menschen sitzen auf mehreren Picknickdecken im Park und essen. © Lisa Viezens

Ben J. Riepe - Summer School Sainte Réalité

Leben im symbiotischen Milieu

Ausprobiert hatten Riepe und seine Kompanie Vieles schon während der Pandemie. Elemente ihrer Erfahrungen gaben sie während der Summer School weiter. Einen Tag etwa verbrachten sie mit den Teilnehmenden im Wald – dem Ort, an dem sie probten, als das im Studio nicht möglich war. Draußen hatten sie das Gefühl, endlich wieder durchatmen zu können. Zugleich sei ihnen bewusst geworden, dass die Atemluft als Trägermedium für die Covid-Viren als gefährlich galt – und zugleich die Sauerstofflieferanten, die Bäume, gefährdet sind: „Der Wald war sehr kaputt“, erzählt Riepe. „In der Zeit, in der wir dort probten, wurde ein Riesenareal gefällt, weil die Bäume vom Borkenkäfer befallen waren. Mir ist klar geworden, dass im Atem alle Krisen zusammenkommen und sich dort unser gestörtes Verhältnis zur Natur und zu uns selbst zeigt.“

Der Atem als Zentrum und als Nadelöhr, durch das alles Leben geht: Im Tanz sei man sich bewusst, dass wir alle in einem gemeinsamen Medium leben, dass die Luft und der Atem uns verbinden und sich Körper (un-)bewusst synchronisieren, so Riepe. Wir Menschen sind keine Individuen im Wortsinne des „Unteilbaren“, sondern leben symbiotisch mit Milliarden von Mikroben, die beinahe 50 Prozent des Erbguts ausmachen, das wir als unseren Körper verstehen, wie der Mikrobiologe Thomas C. Bosch während der Summer School in einem höchst instruktiven Online-Vortrag erklärte.

Tief atmen, mit den Beinen fest auf dem Boden stehen, sich verwurzeln – diese Motive haben Ben J. Riepe und sein Team aus dem Wald mitgebracht. Und in der Summer School adaptiert, „um neu unseren Platz in der Natur zu verstehen“. Bewusstsein und Denken, eine Domäne der Menschen? Mitnichten. „Pflanzen lernen, sich gegenseitig zu warnen, Bäume entwickeln gemeinsam ein Gegengift gegen Schädlinge. Zellen lernen. Zum Denken brauchen wir kein Gehirn – alle Arten von Lebewesen denken“, so Riepe. Das habe der Neurobiologe Gerald Hüther bei der Summer School vorgetragen, „wissenschaftlich bewiesen“.

Ben J. Riepes Fazit nach den zehn Tagen Training für eine neue Welt? „Mich haben diese Erfahrungen mit der Kunst versöhnt. Ihre Idee ist eine energetische, heilende, verbindende Wirkung“. Verbindung ist die Grundlage für Kooperation – und die braucht die Welt dringend, um in den anstehenden Krisen zu bestehen und sich neu zu erfinden.

In der Reihe „Kunst trotz(t) Krise“ blicken die Kulturjournalist*innen Elena Philipp und Georg Kasch im Auftrag des Fonds Darstellende Künste einen Blick hinter die Kulissen geförderter Projekte. Wie wirkt die #TakeThat-Förderung des Fonds im Rahmen des NEUSTART KULTUR-Programms der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien?