Der 360-Grad-Blick

Von Christine Wahl

Die Intendantin Anke Politz und der Geschäftsführer Hendrik Frobel vom Chamäleon im Gespräch mit Christine Wahl über die Auszeichnung mit dem Theaterpreis des Bundes in der Kategorie „Privattheater und Gastspielhäuser“.

Frau Politz, Herr Frobel – herzlichen Glück- wunsch zur Auszeichnung in der Kategorie Privattheater und Gastspielhäuser beim Theaterpreis des Bundes! Sie haben sich mit Ihrer Bühne auf den Zeitgenössischen Zirkus spezialisiert – eine Form der Darstellenden Künste, die zumindest hierzulande noch so jung ist, dass selbst ausgewiesene Theaterkennerinnen und -kenner häufig noch Einordnungsschwierigkeiten haben. Wie würden Sie diese Kunstform beschreiben?

Anke Politz: Das ist in der Tat ein ziemlich weites Feld – weshalb meine Definition auch je nach Tagesform variiert (lacht). Aber der entscheidende Punkt besteht darin, dass es beim Zeitgenössischen Zirkus nicht um das Spektakel oder um die Darstellung einzelner Tricks geht, wie man es landläufig mit dem Zirkus-Begriff verbindet. Sondern es handelt sich um eine künstlerische Bühnenform, die Zirkustechniken als Ausdrucksmittel nutzt. Oft dominieren theatrale Formate, denen ein dramaturgisches und ästhetisches Gesamtkonzept zugrunde liegt und die sich an der Schnittstelle zu anderen Künsten bewegen.

In anderen Ländern scheint der Zirkus als hochgradig diskursträchtige Angelegenheit zu gelten: In Schweden kann man Zirkuswissenschaften studieren, und in Frankreich wird der Zirkus ebenfalls akademisch beforscht. Warum ist das in Deutschland anders?

Politz: Der Zeitgenössische Zirkus wurde hier lange nicht als Kunstform anerkannt und entsprechend auch nicht gefördert, sodass man bei der Entwicklung neuer Produktionen die Verkaufsfähigkeit immer schon a priori mitdenken musste, und kommerzielle Überlegungen machen den künstlerischen Horizont natürlich von vornherein ein Stück weit enger. Wenn dieser Druck nicht existiert, fällt es leichter zu experimentieren und eine neue Formensprache zu entwickeln – was dann auch die entsprechenden akademischen Diskurse nach sich zieht.

Hendrik Frobel: Da spielt natürlich auch die Trennung in ‚E‘ und ‚U‘ eine Rolle, die in anderen Ländern bei weitem nicht so ausgeprägt ist wie in Deutschland – und die sich hier eben tatsächlich auch in der Förderstruktur niederschlägt. Meiner Meinung nach fällt dieser Trennung ohnehin viel zu vieles zum Opfer. Wir selbst begreifen es jedenfalls eher als Geschenk, dass wir aus unserer Privattheaterstruktur heraus prinzipiell eine breite Anschlussfähigkeit mitdenken und publikumsnah inszenieren müssen, ohne dass der kommerzielle Aspekt zur treibenden Kraft für die künstlerische Entwicklung wird.

Inzwischen ist Ihre Disziplin präsenter: Im Programm NEUSTART KULTUR, das die Bunderegierung während der Corona-Pandemie aufgelegt hat, wurde auch der Neue Zirkus gefördert. Und mit den Performances renommierter Künstlerinnen und Künstler wie der international gefeierten Choreografin Florentina Holzinger erobern Zirkus-Elemente große Stadt- und Staatstheaterbühnen.

Politz: Viele halten den Neuen Zirkus für die Kunstform des 21. Jahrhunderts, weil er so vielfältig, flexibel und offen ist – und weil er nonverbal funktioniert. Hier werden ja dieselben Diskurse geführt wie in den anderen Sparten – Feminismus, Postkolonialismus oder selbstbestimmtes Arbeiten sind auch in unseren Produktionen riesige Themen. Aber während diese Diskurse anderswo häufig in der eigenen Blase verbleiben, haben wir mit der zeitgenössischen Zirkuskunst die Möglichkeit, sie über die Bühnenkante in ein breites Publikum zu tragen. Es braucht hier eben keine akademische Vorbildung, um den Abend zu verstehen, ich muss mich im Vorfeld nicht mit einem historischen Stoff auseinandergesetzt haben, um vor Ort seiner aktuellen Interpretation folgen zu können. Der Neue Zirkus ist, kurzum, im besten Sinne niedrigschwellig.

Frobel: Neulich war eine Schulklasse mit jungen Erwachsenen aus den Niederlanden bei uns. Nach der Vorstellung kam die Lehrerin zu mir und sagte: Ich unterrichte diese Jugendlichen seit vielen Jahren – und ich habe noch nie vorher erlebt, dass sie freiwillig ihre Handys aus der Hand legen und derart gebannt eine Vorstellung verfolgen!

Eine Frau steht am Pult. Neben ihr ein Mann, der einen Blumenstraß hält. © Dorothea Tuch

Anke Politz (Intendanz) und Hendrik Frobel (Geschäftsführung) vom Chamäleon Theater nehmen die Auszeichnung entgegen.

Als Sie vor knapp zwei Jahrzehnten begannen, sich auf den Zeitgenössischen Zirkus zu spezialisieren, waren Sie Vorreiter: Den meisten dürfte damals noch nicht einmal der Begriff geläufig gewesen sein.

Frobel: Es ist auch nicht so, dass es anfangs keine Missverständnisse gegeben hätte. Viele bekamen beim Stichwort „Zirkus“ riesige Augen und erkundigten sich irritiert, was das denn bitte mit einem Theatergebäude zu tun habe. Oder sie fragten: Habt ihr auch Tiere?

Ihre programmatische Neuorientierung hatte auch ein Stück weit damit zu tun, dass Sie sich als Haus generell neu aufstellen mussten.

Politz: Das stimmt, das Chamäleon ist in seiner jetzigen Form aus der Insolvenz des vorherigen Betreibers hervorgegangen, eines Varieté-Theaters, in dem die Künstlerinnen und Künstler selbst Gesellschafterinnen und Gesellschafter waren. Bereits dort wurde also mit einer starken intrinsischen Motivation gearbeitet, man produzierte auch damals schon nicht für irgendeinen ‚Markt‘. Insofern haben wir hier ein großes Erbe angetreten. 2004 war aber aus der Insolvenz heraus tatsächlich ein neuer Schritt nötig, und es existierte der Wunsch, sich von der traditionellen Programmstruktur, die man bis dato im Varieté kannte, zu verabschieden und auf inszenierte Shows zu spezialisieren.

Gab es ein spezielles Initiationserlebnis?

Politz: Wir hatten damals die kanadische Kompanie „Les 7 doigts / the 7 fingers“ eingeladen, die ein Stück über ihr WG-Leben zeigte – und waren, ohne zu ahnen, dass das die neue Kunstform sein würde, einfach nur geflashed. Der Abend war großartig, revolutionär, hatte schon damals das, was man heute „immersive Momente“ nennen würde und war immer ausverkauft. Da haben wir gesagt: Genau das ist es, was wir machen wollen!

Und schon waren Sie an Ihrer Bühne in Berlin Mitte die Pioniere einer neuen Sparte!

Politz: Wir haben den Zeitgenössischen Zirkus beileibe nicht erfunden. Aber was wir dann tatsächlich schnell für uns entdeckt haben – und womit wir, glaube ich, auch im internationalen Maßstab einmalig sind –, ist das enorme Potenzial, das in dieser Kunstform steckt, wenn man die Akteurinnen und Akteure in einem sehr frühen Stadium zu unterstützen beginnt.

Frobel: Wir versuchen uns wirklich im 360-Grad-Blick auf unsere Kunst und unsere Künstlerinnen und Künstler zu fokussieren. Dazu gehören zum Beispiel garantierte Spielzeiten von fünf Monaten, sodass von vornherein sehr frei gedacht, entwickelt und gearbeitet werden kann. Ein anderer Punkt sind unsere Residenzprogramme, die allerersten für Zirkusschaffende überhaupt.

Ein ambitioniertes Rundumprogramm – zumal, wenn man bedenkt, dass Sie als Privattheater alles selbst erwirtschaften müssen. Wie gelingt Ihnen das?

Frobel: Ich glaube, wir profitieren zum einen davon, dass wir uns bezüglich unserer Publika sehr breit aufgestellt haben. Unser Programm spricht regionale wie internationale Zuschauende gleichermaßen an, und zwar quer durch die Milieus und Altersgruppen. Aber natürlich müssen wir unsere Tickets teurer verkaufen als subventionierte Bühnen, und wir merken schon, dass sich die Situation über die Jahre mehr und mehr verschärft: Unser durchschnittlicher Ticketpreis liegt aktuell bei 45,74 Euro brutto. Den können wir nicht weiter erhöhen, wenn wir niemanden verlieren wollen. Gleichzeitig steigen, wie bei vielen anderen auch, unsere eigenen Kosten, sei es im Hinblick auf die Energie-, die Personal- oder die Produktionskosten.

Politz: Wir nutzen einfach, so gut es geht, unsere Ressourcen. Das heißt: Wir spielen praktisch durchgehend, sieben Veranstaltungen pro Woche, mit lediglich zwei Wochen Spielzeitunterbrechung, die natürlich als Probenzeit genutzt werden. Und wir machen etwas, was ich Beziehungspflege nennen würde. Wir hatten ja durchaus auch schon schwierige Spielzeiten – es ist ja nicht so, dass das Publikum wirklich jede Reise, die wir hier unternehmen, rundum begeistert mitmacht. Aber ich glaube, was wir wirklich versuchen, ist, als Ort und als Team greifbar zu sein, nahbar. Hendrik und ich stehen bis heute oft selbst mit am Einlass, begrüßen die Gäste, versuchen herauszufinden, wie wir über unsere Arbeit sprechen und wie wir das Feedback, das vielleicht eben auch mal nicht gut ist, aufnehmen müssen, um eine nachhaltige Beziehung aufzubauen. Wenn jemand nach einer Vorstellung zu mir kommt und sagt: Es hat mir überhaupt nicht gefallen, aber ich bin neugierig auf den nächsten Abend, finde ich das großartig!

Sie haben die Corona-Zwangspause genutzt, Ihr Profil noch einmal nachzuschärfen.

Politz: Wir hatten dadurch wirklich die einmalige Chance, einmal aus dem Hamsterrad treten und uns selbst reflektieren zu können – und haben uns geschworen: Wir werden auf gar keinen Fall dorthin zurückkehren, wo wir im Februar oder März 2020 aufgehört haben, denn alles wird anders sein. Also brauchen auch wir eine andere Perspektive, eine völlig andere Motivation als einfach nur zu sagen: Wann kann ich wieder aufmachen? Insofern hat uns die Pandemie wirklich geholfen, uns zu fokussieren und das, was uns wichtig ist, auch noch einmal klarer für uns zu formulieren.

Die Auszeichnung im Rahmen des Theaterpreises des Bundes ist auch mit einer finanziellen Würdigung verbunden. Haben Sie schon konkrete Pläne, wie Sie die 100.000 Euro Preisgeld investieren?

Frobel: Wir haben uns natürlich riesig über die Auszeichnung gefreut – und auch über die Anerkennung, die damit für die Kunstform des Neuen Zirkus einhergeht. Von dem Preisgeld wollen wir gern mehr Residenzarbeit ermöglichen: ergebnisoffen, aber eben ab der ersten Sekunde vergütet – und ausgestattet mit einer guten Struktur und einem guten Support-Paket: Probenräume, Dramaturgie, Austauschgespräche, was auch immer gebraucht wird.

Politz: Wir haben während der Pandemie ein Drei-Säulen-Modell entwickelt: Zeigen – Wachsen – Schaffen. Und das Preisgeld soll komplett ins Wachsen fließen.