Der „Oscar der Freien Darstellenden Künste"

Von Tom Mustroph

Professor Dr. Wolfgang Schneider, Vorstandsvorsitzender des Fonds Darstellende Künste und Mitglied der Jury zur Vergabe des Tabori Preises, im Gespräch mit dem Kulturjournalisten Tom Mustroph über Entwicklung und Bedeutung des Tabori Preises sowie die künftigen Aufgaben des Fonds.

Prof. Dr. Wolfgang Schneider steht am Redner*innenpult auf der Bühne der Tabori Preisverleihung 2019. © Florian Krauss

Prof. Wolfgang Schneider bei der Tabori Preisverleihung 2019

Wolfgang Schneider, eine der Preisträger*innen des diesjährigen Tabori Preises, Simone Dede Ayivi, befragte in ihrer jüngsten Produktion Wetterleuchten im Theater Oberhausen Arbeiter*innen im Theater, vor allen Dingen jene aus den Werkstätten, nach ihren magischen Momenten im Theater. Da würden mich natürlich Ihre magischen Theatermomente interessieren. Was fällt Ihnen da spontan ein?

Ich erinnere mich an Momente im Kindertheater. Als Präsident der ASSITEJ, der Internationalen Vereinigung der Kinder- und Jugendtheater, habe ich weltweit viel gesehen. Einer der bewegendsten Erfahrungen war bei einer Produktion von Suzanne Osten vom Unga Klara Theater in Stockholm. Im Stück Mädchen, Mama und der Müll ging es um ein Kind, das mit einer schizophrenen Mutter aufwächst. Die Bühne selbst ist eine einzige Messie-Landschaft, angefüllt mit Dingen, die die Mutter angesammelt hat im Laufe ihres Lebens. Je tiefer man einsteigt in die Geschichte und je intensiver einem klar wird, was dieses Kind erleben muss, desto weiter öffnet sich der Bühnenhintergrund. Und er wird ewig tief und wirkt dadurch besonders bedrohlich. Mich beeindruckte nicht nur diese intensive Inszenierung, sondern auch die Rezeption. Rechts und links von mir saßen Erwachsene, die weinten und von ihren Kindern getröstet wurden. Das geschah auf eine sehr besondere Art und Weise. Es handelte sich nicht um ein Wegwischen von etwas, das man gerade erlebt hat. Sondern es war ein in Worte fassen, dass das Leben – so banal es klingen mag – eben sowohl Sonnenschein als auch Schattenseiten haben kann.

Zur Magie des Moments hat sowohl die Aktion auf der Bühne als auch die Reaktion im Publikum um Sie herum beigetragen?

Genau. Deshalb habe ich das Beispiel ausgewählt. Das habe ich so eindrucksvoll und nachhaltig selten erlebt.

Wann war das?

Es ist etwa 20 Jahre her.

Wenn es damals schon die internationale Tabori Auszeichnung gegeben hätte, wäre das eine Produktion, die unbedingt für so eine Ehrung in Frage gekommen wäre?

Leider nein, weil es ja eine schwedische Produktion ist ohne Bezug zu Deutschland.

Was gilt dann für die Tabori Auszeichnung International, die in diesem Jahr das erste Mal vergeben wird an die Künstlerin Nicoleta Esinencu und das teatru-spălătorie aus Moldau? Ist dieser Bezug dann ihre Zusammenarbeit mit dem Berliner HAU Hebbel am Ufer?

Genau. Die Idee ist, das Internationale und das Kooperative in den Freien Darstellenden Künsten zu würdigen. Die aktuelle Situation mit diesem schrecklichen Krieg in der Ukraine zeigt ganz besonders, dass wir eben nicht nur Solidarität üben müssen, insbesondere in den Darstellenden Künsten, sondern uns eben auch gewahr werden sollten, dass wir ähnliche Fragen stellen an unsere Welt und viele Auseinandersetzungen in dieser Welt teilen. Deshalb ist nach wie vor die Idee eines Theaters, das sich gesellschaftlich einmischt und das eben auch weiß, dass das nicht allein eine deutsche Angelegenheit ist, so relevant. Deshalb haben die Freien Darstellenden Künste in Deutschland von jeher eine europäische, wenn nicht sogar eine internationale Dimension.

Szene aus einer Performance von Teatru Spalatorie: fünd Performer*innen stehen hinter Bühnenaufbauten, die Musikinsturmenten ähneln und blicken in die Kamera. Im Hintergrund sind schwach leuchtende, in drei quadratischen Feldern angeordnete Strahler zu sehen, die auf das Publikum gerichtet sind. © Ramin Mazur

Nicoleta Esinencu & teatru-spălătorie

Was war der ursprüngliche Anlass für den Tabori Preis?

Der Tabori Preis wendet sich an Künstler*innen, deren Produktionen schon gefördert wurden, und die sich kontinuierlich durch Arbeiten mit einer bundesweiten und internationalen Ausstrahlung auszeichnen und eine besondere inhaltliche und ästhetische Handschrift aufweisen. In unserer medialen Welt geht es natürlich auch darum, wie man Aufmerksamkeit schafft. Ein Preis ist ein solches Format. Ich will jetzt nicht anmaßend sein, aber der Tabori Preis ist so etwas wie der Oscar für die Freien Darstellenden Künste in Deutschland. Und da wünsche ich mir eine noch breitere Resonanz dieser Auszeichnung. Sie ist zudem mit finanziellen Mitteln verbunden, die wieder in eine Produktion einfließen und künstlerische Prozesse ermöglichen können. Aufsehen erregt er nicht nur für die, die mit dem Preis gewürdigt werden, sondern auch für das Ganze, für unsere einzigartige Theaterlandschaft.

Was sind genau die Kriterien für den Tabori Preis? Welcher Kreis an Künstler*innen kommt überhaupt dafür infrage? Und wie ist das Procedere der Auswahl?

Das ist sehr transparent, das findet man sogar in der Satzung des Vereins Fonds Darstellende Künste. Es geht darum beizutragen, die vielfältigen zeitgenössischen Ausdrucksformen der Freien Darstellenden Künste zu ermöglichen. Spezifische Kriterien sind die ästhetische Qualität, die inhaltliche Relevanz und die kontinuierliche künstlerische Arbeit. Die Auswahl findet auf der Basis der geförderten Projekte der letzten fünf Jahre statt. Die Jury setzt sich aus fünf Mitgliedern zusammen. Das sind die beiden Kuratoriumsvorsitzenden des Fonds, zwei der drei Vorstandsmitglieder sowie eine externe Persönlichkeit.

Wie kommt diese Vorauswahl zustande? Und wie wird dann final entschieden?

Jedes Mitglied der Jury darf aus dem großen Pool der in den vergangenen fünf Jahren vom Fonds geförderten Künstler*innen und Gruppen zwei Vorschläge für den Tabori Preis und drei Vorschläge für die Auszeichnungen machen. Und dann nehmen wir uns einen Tag Zeit und diskutieren. Interessant wird es, wenn zwei Jurymitglieder die gleiche Gruppe vorvotierten. Das führt aber nicht automatisch dazu, dass dann nachher genau diese Gruppe den Preis bekommt. Wir nehmen uns viel Zeit zum Abwägen und Diskutieren.

Wie hat sich im Laufe der Jahre der Preis entwickelt, und auch die Wahrnehmung des Preises? Was haben Sie da beobachtet?

Der Preis war in den Anfangsjahren eher eine interne Veranstaltung des Fonds, diente einerseits dem Austausch der Mitgliedsverbände, wirkte aber auch schon in die Bundespolitik, insbesondere durch die Unterstützung der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien. Der Preis hat sich in der Wahrnehmung auf die gesamte Szene der Freien Darstellenden Künste ausgeweitet. Als ich das letzte Mal in Präsenz 2019 die Gäste im HAU Hebbel am Ufer begrüßen durfte, konnte ich feststellen, dass die Theaterlandschaft in Deutschland bei der Preisverleihung sehr breit repräsentiert war. Vertreterinnen und Vertreter von Stadt- und Staatstheatern waren ebenso anwesend, wie die der Fördererinstitutionen der Länder und der Kommunen. Da sind wir auf einem Weg, der genauso gedacht war. Denn letztendlich ist diese Preisverleihung ein Austausch derer, die sich in dieser Szene engagieren und diese Szene möglich machen, und ein Austausch darüber, was im letzten Jahr auf den Bühnen zu sehen war und zu würdigen wäre.

Sie nannten den Preis vorhin den Oscar der Freien Darstellenden Künste. Was erhoffen Sie sich, was dieser Oscar für die Oscar-Preisträger*innen bewirken kann? Und was hat er bereits bewirkt?

Das Konzept ist aufgegangen. Der Preis wird wahrgenommen in der Szene und ist in der Theaterlandschaft präsent als bundesweit höchste Auszeichnung in den Freien Darstellenden Künsten. Er bedeutet eine kontinuierliche Sichtbarkeit der Szene und ihrer Künstler*innen und hilft den Ausgezeichneten dabei sich weiter zu profilieren. Nicht zuletzt ist er Anerkennung für eine herausragende Arbeit. Insofern hat er auch eine kulturpolitische Bedeutung. Er ist ein Zertifikat, eine Lizenz, die gegeben wird, um weiter gefördert zu werden. Das ist, glaube ich, ein ganz wichtiger Aspekt: Dass wir uns einerseits selbst feiern, das sollte immer auch Teil von Theater sein, der Spaß an der Freude derer, die da einen Preis bekommen, die dann aber auch mit dem Geld etwas Neues kreieren. Uns ist es deshalb wichtig, dass die Preisverleihung nicht ein formaler Akt ist, sondern dass sie von Künstler*innen mit ihren Beiträgen ausgestaltet wird. Immer sind Künstler*innen beteiligt.

Das generelle Förderprogramm des Fonds wurde ja in den letzten zwei Jahren massiv ausgeweitet, zur Freude und zum Nutzen und Frommen des gesamten Feldes. Wie hoch war die Förderung in Zahlen?

Rund 150 Millionen Euro wird allein der Fonds Darstellende Künste mit breitgefächerten Förderprogrammen 2021 und bis Ende 2022 vergeben haben. Dank dieser Mittel, die uns im Rahmen von NEUSTART KULTUR gewährt wurden, konnten wir unser Förderprogramm ausdifferenzieren. Neben den Mitteln der klassischen Projektförderung, die es jetzt so gar nicht mehr gibt, weil wir sie in eine Prozessförderung verwandeln konnten, haben wir die Konzeptionsförderung ausgeweitet, Residenzprogramme möglich gemacht, Rechercheförderung neu hinzugefügt und erstmals Netzwerk- und Strukturförderungen angeboten. Wir konnten auch breiter fördern, mit bundespolitischem Akzent, aber auch in Kooperation mit den Ländern und den Kommunen. Gelungen ist in diesen zwei Jahren auch, die Kommunikation zwischen den verschiedenen Förderebenen so zu intensivieren, dass man mittlerweile tatsächlich von einem Gesamtpaket der Förderung sprechen kann. Wichtige Impulse kamen durch das mit dem Bundesverband Freien Darstellende Künste veranstaltete Bundesforum. Es ist ein kooperativer Kulturföderalismus möglich geworden, der den Künstlerinnen und Künstlern zugutekommt. Das war vorher nicht der Fall, weil sich da diverse Förderprogramme auch konträr gegenüberstanden. Es gab zum Beispiel unterschiedliche Einreichzeiten und Förderfristen. Da hat sich vieles bewegt.

Wie schätzen Sie die Aussichten dafür ein, dass dieses Förderprogramm, das ja in Teilen auch ein Kind der Bewältigungsszenarien der Pandemie war, auch in Zukunft in den Umfängen wie den Akzenten weitergeführt werden kann?

Da beziehe ich mich gern auf ein Schreiben des Kuratoriums des Fonds an die neue Staatsministerin für Kultur und Medien, in dem genau dieses Thema angeschnitten wird. Dort wird die Sorge artikuliert, dass die vielfältige Bandbreite, die die Fördermaßnahmen durch NEUSTART KULTUR möglich gemacht wurden, nicht mehr so ihre Fortsetzung finden könnten. Es wird darin aber auch deutlich gemacht, dass die Freien Darstellenden Künste nach wie vor der starke Motor der Theaterkultur sind und dass insbesondere der Fonds Darstellende Künste Vorreiter und Schrittmacher notwendiger kultureller Veränderungsprozesse in dieser Krisenzeit gewesen ist. Das gilt noch immer. Deshalb freuen wir uns, dass der Fonds Darstellende Künste im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung als Innovationstreiber benannt wird, den es künftig auszubauen und zu stärken gilt. Das vom Fonds initiierte Forschungsprogramm mit 12 Teilstudien bestätigt dieses Fundament und gibt weitere zielführende Impulse dazu.

Welche kulturpolitischen Felder hält der Fonds in den kommenden Jahren für besonders relevant?

Der Fonds hat da bereits klare Förderlinien mit der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien abgestimmt – auch im Dialog mit den Ländern und Kommunen. Wie bereits mit #TakeHeart stellt der Fonds auch weiterhin den künstlerischen Prozess in den Mittelpunkt, um flexiblere Rahmenbedingungen für künstlerische Arbeit und Projekte zu schaffen. Wir wollen die Konzeptionsförderung weiter ausbauen. Sie gibt den Gruppen und Künstler*innen Planungssicherheit und Perspektive für drei Jahre. Eines der Themen, die uns stärker inhaltlich beschäftigt haben und auch künftig sollten, ist Diversität. Auch die Freien Darstellenden Künste sind manchmal noch ziemlich deutsch. Deshalb ist auch die Frage des transnationalen und des transkulturellen Arbeitens so wichtig. Und die der Interdisziplinarität, die sich in anderen Ländern bereits selbstverständlicher darstellt. Im Allgemeinen wird allzu oft noch sehr stark getrennt zwischen Schauspiel und Performance und Figurentheater und Kindertheater und Zirkus und Theater im öffentlichen Raum. Der Fonds hat genau hier in den vergangenen zwei Jahren angesetzt und gefördert wie kein anderer. Da wünsche ich mir, dass offene Formen und fließende Formate zukünftig auch anderswo selbstverständlicher werden. Als Drittes müssen wir darauf schauen, wo Freies Theater stattfindet. Das geschieht bislang vor allem in den großen Städten. Doch auch in den kleineren Städten und vor allen Dingen im ländlichen Raum geht noch mehr – wie wir durch #TakeThat und #TakeHeart gesehen haben. Durch alle Programme zieht sich die Frage nach einer nachhaltigen Theaterproduktion. In einer unserer Studien geht es um CO2-Ausstoß und wie man Einrichtungen klimaneutral gestalten kann, um die Zukunft des Produzierens und Rezipierens, auch über Anreisewege des Publikums und die Mobilität der Aufführungen. Eine weitere Querschnittsaufgabe ist, dass wir nichts unversucht lassen sollten, die Publika der Kinder und Jugendlichen immer stärker mitzudenken. Früher war die Welt aufgeteilt in Theater für Erwachsene und Theater für junge Zuschauende. Und ich komme zurück auf mein erstes Beispiel, das mir mit der Frage nach den magischen Momenten des Theaters entlockt wurde. Ein Theater, das sowohl Kinder als auch Erwachsene anspricht, ist nicht immer möglich, natürlich. Aber es sollte von allen, die in den Darstellenden Künsten produzieren und veranstalten, mitgedacht werden, damit auch intergenerationelles Theater eine größere Rolle spielen kann.