Der Vibe von Leipzig

Von Christine Wahl

Anne-Cathrin Lessel, die Künstlerische Leiterin des LOFFT, und Sebastian Weber, Choreograf und Tänzer der Sebastian Weber Dance Company, im Gespräch mit Christine Wahl über die Auszeichnung mit dem Theaterpreis des Bundes in der Kategorie „Freie Produktionshäuser“.

Frau Lessel, herzlichen Glückwunsch zur Auszeichnung in der Kategorie Freie Produktionshäuser beim Theaterpreis des Bundes! Die Jury würdigt Ihr Haus, das LOFFT in Leipzig, als „einen der prägenden und beispielgebenden Knotenpunkte auf der Mental Map der Freien Darstellenden Künste“. Das LOFFT befindet sich seit 2019 auf dem Gelände der Baumwollspinnerei, wo auch viele bildende Künstlerinnen und Künstler ihre Ateliers haben. Kann man also davon ausgehen, dass die Netzwerkbildung bei Ihnen direkt in der Nachbarschaft beginnt und Sie regelmäßig mit Ikonen der Leipziger Schule wie Neo Rauch im Theaterfoyer zusammensitzen?

Anne-Cathrin Lessel: Es gibt auf jeden Fall Berührungspunkte mit Akteurinnen und Akteuren der Spinnerei. Mit einigen arbeiten wir punktuell und projektweise zusammen, mit anderen sogar regelmäßig. Eine Galeristin ist zum Beispiel bei uns im Künstlerischen Beirat, weil wir für die Auswahl unserer Projekte auch interdisziplinäre Perspektiven wichtig finden.

Aber es ist jetzt nicht so, dass man – scherzhaft gesagt – mit Neo Rauch Bier trinken geht.

Herr Weber, Sie sind dem LOFFT als Künstler schon seit vielen Jahren eng verbunden und kennen es sogar noch aus der Gründungszeit Mitte der 1990er Jahre, haben hier viele eigene Projekte realisiert und sich eine Zeit lang selbst im Vorstand engagiert. Wie blicken Sie auf die noch vergleichsweise junge Nachbarschaft zur Leipziger Schule?

Sebastian Weber: Für mich hat die Tatsache, dass sich das LOFFT inzwischen auf dem Gelände der Spinnerei befindet, noch ein paar andere Implikationen. Als ich vor 25 Jahren aus Köln nach Leipzig gezogen bin, gab es noch viel mehr unerschlossene Gebäude, und auch die Spinnerei war – obwohl bereits in den Händen engagierter Investoren – um einiges wilder. Trotzdem saß man hier schon damals nicht mit Neo Rauch beim Bier zusammen. Denn abgesehen davon, dass der darauf keine Lust hat, sind die teuren Bilder, die hier gemalt werden, für mich gar nicht der wesentliche Faktor an der Baumwollspinnerei. Sondern das ist vor allem ein Ort, der exemplarisch für Transformation steht. In dieser Hinsicht trifft er sich perfekt mit dem LOFFT.

Können Sie das konkretisieren?

Weber: Das LOFFT ist ein Ort, an dem viel möglich ist, wo man anpacken und etwas verändern kann. Und dieses Gefühl ist für mich eigentlich auch generell der Vibe von Leipzig: Wenn man wirklich will, kann man hier etwas bewegen. Die Stadt ist groß genug, um über entsprechendes Potenzial zu verfügen – und klein genug, dass man die Kontakte knüpfen und die Verbündeten finden kann, die man braucht. Zumal die Leute in Leipzig wirklich Bündnisse schließen. Es gibt hier zum Beispiel eine mustergültige Zusammenarbeit zwischen dem städtischen Kulturamt und der Freien Szene. Da finden persönliche Gespräche statt und werden gemeinsam Förderkonzepte entwickelt – über Jahre! Wenn ich richtig informiert bin, gibt Leipzig, gemessen am Steueraufkommen, mehr Geld für die Freie Szene aus als jede andere Stadt in Deutschland.

Das Team des LOFFT – Das Theater mit Kulturstaatsministerin Claudia Roth vor einer Fotowand © Dorothea Tuch

Das Team des LOFFT – Das Theater mit Kulturstaatsministerin Claudia Roth

Und das LOFFT fungiert in dieser Szene als Ankerpunkt und Kern-Institution: Es ist gleichermaßen Produktionshaus, Veranstalter und Gastspielort, Nachwuchsförderer und Lobbyist der Freien Künste und bietet sogar Steuerberatung für Künstlerinnen und Künstler an. Welcher dieser vielen Aspekte steht für Sie im Vordergrund, Frau Lessel?

Lessel: Das Wesentliche ist – gerade auch in Abgrenzung zu Häusern, die vorrangig Gastspiele zeigen –, dass wir uns tatsächlich als Ermöglicherinnen und Ermöglicher für Künstlerinnen und Künstler verstehen. Wir kümmern uns um den lokalen Szene-Nachwuchs, helfen Akteurinnen und Akteuren bei der Entwicklung ihrer Projekte und begleiten sämtliche künstlerischen Produktionszusammenhänge.

Ein gigantisches Allround-Programm!

Lessel: Lustigerweise werden wir tatsächlich oft in einem Atemzug mit Institutionen genannt, die auf dem Level von Staatstheatern rangieren. Weil wir vergleichsweise vernetzt und international agieren und überall mitmischen, denken die Leute immer, wir sind ein Riesentanker. Wenn ich dann sage, dass wir unseren kompletten Betrieb mit zwölf festangestellten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bestreiten, herrscht pure Sprachlosigkeit. Das funktioniert natürlich auch wirklich nur deshalb, weil alle, die hier arbeiten, sich mit unglaublichem Engagement der Kunst verschrieben haben und niemand die eigenen Interessen in den Vordergrund stellt. Das war auch vor meiner Leitungstätigkeit schon so, das gehört zur DNA des Hauses.

Herr Weber, was macht das LOFFT konkret für Sie als Künstler attraktiv?

Weber: Was ich enorm schätze, ist der bundesweite Horizont, der hier aufgerissen wird. Das LOFFT ist eben kein Haus, wo lediglich die Kolleginnen und Kollegen aus der Nachbarschaft gezeigt werden, sondern eines, das bundesweit vernetzt ist, entsprechend auch seine Koproduktionen bundesweit ausschreibt und dafür notfalls auch mal einen Konflikt mit der lokalen Szene aushält. Als Zuschauer, aber eben auch als Choreograf und Tänzer ist es für mich enorm inspirierend, dass ich am LOFFT eine handverlesene Auswahl bundesweiter Player zu sehen bekomme. Dadurch wird man selbst immer ein Stück weit künstlerisch gepusht. Das LOFFT ist einfach kein Sofa, in das man sich hineinkuscheln kann, sondern ein Ort, der einen ernsthaft herausfordert.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Weber: Es beginnt schon damit, dass es hier keine Intendanz gibt, die die Entscheidungsgewalt innehat, sondern dass das künstlerische Programm von einem Beirat beschlossen wird. Das finde ich erstens in einem hohen Maß demokratisch, und zweitens gefällt mir die Bereitschaft zum Risiko, die in diesem Modell steckt: Man investiert vielleicht auch mal in eine Koproduktion, die sich nicht in der Weise entfaltet, wie man sich das erhofft hatte. Ich bin der festen Überzeugung, dass genau das einen guten Ort für zeitgenössische Kunst ausmacht: Wenn es immer nur Erfolge gibt, stimmt da etwas nicht; dann sind die Leute nicht mutig genug.

Frau Lessel, wie geht es Ihnen als Leiterin des Hauses denn mit dem Beirat?

Lessel: (Lacht) Das Modell ist durchaus eine Herausforderung! Denn natürlich werden da manchmal auch Konzepte ausgewählt, für die ich mich persönlich nicht entschieden hätte – oder, fast noch bedauerlicher, Projekte nicht ausgewählt, an denen ich mich wahnsinnig gern beteiligt hätte und die dann vielleicht ein Jahr später an einem anderen Haus durch die Decke gehen. Aber so ist halt das Modell – und es ist einmalig. Ich kenne kein anderes freies Produktionshaus in Deutschland, dessen Kernprogramm – das sind bei uns acht bis zehn Produktionen im Jahr – von einem so breiten Gremium ausgewählt werden, aktuell von zehn verschiedenen Persönlichkeiten aus Kunst, Kultur und unseren Netzwerken.

Eine Frau steht am Pult. An das Pult ist eine Urkunde gelehnt. © Dorothea Tuch

Anne-Cathrin Lessel (Künstlerische Leitung und Geschäftsführung) nimmt die Auszeichnung für das LOFFT entgegen.

Historisch bedingt sind Institutionen wie das LOFFT in westdeutschen Bundesländern deutlich stärker präsent als in ostdeutschen, exemplarisch etwa in NRW. Im Osten sind die Strukturen schlichtweg jünger, weil es in der DDR keine institutionalisierte Freie Szene gab. Macht sich der Ost-West-Unterschied in Ihrem Arbeitsalltag bemerkbar?

Weber: Ich finde, es gibt definitiv noch einen Unterschied zwischen Ost und West. Zwar sollten diese Kategorien längst keine Rolle mehr spielen, aber jeder weiß natürlich, dass sie es leider trotzdem tun. Sichtbar wird das zum Beispiel daran, dass sechs von sieben Exzellenz-Häusern im geografischen Westen des Landes liegen. Oder dass bei der Tanzplattform, dem wichtigsten Festival für zeitgenössischen Tanz, praktisch keine Kompanien aus den neuen Bundesländern dabei sind. Förderinstitutionen wie die Kulturstiftung des Bundes haben das zwar erkannt und versuchen auch entsprechend zu reagieren. Aber die Strukturen sind im Westen eben tatsächlich über Jahrzehnte und Generationen gewachsen. Kampnagel in Hamburg oder der Frankfurter Mousonturm – das sind einfach unglaublich kraftvolle Institutionen, und ins Tanzhaus NRW passen locker sämtliche Studios von Leipzig hinein. Ein anderer Punkt ist das bürgerschaftliche Engagement. Wenn man sich anschaut, was es in Hamburg oder in Baden-Württemberg allein für Stiftungen gibt…

Lessel: … Das ist ein total wichtiger Punkt! Sachsen hat nur sehr wenige private Stiftungen, die aus sich heraus freie Kunst fördern. Im Osten existiert einfach (noch) nicht dieses Kapital für privatwirtschaftliches, bürgerliches Engagement in Sachen Kulturinvestition wie im Westen. Es gibt eine landeseigene Kulturstiftung, die alles abdecken muss, von Projekten der Freien Szene in den großen Städten bis in den ländlichen Raum, von der kulturellen Bildung und Nachwuchsförderung bis zur Traditionspflege sächsischer Blasmusik – was alles enorm wichtige Aufträge sind. Aber da bleibt dann einfach nicht viel übrig.

An Investitionsmöglichkeiten für die 100.000 Euro Preisgeld, die mit der Auszeichnung beim Theaterpreis des Bundes verbunden sind, herrscht – mit anderen Worten – kein Mangel.

Lessel: Das Geld wird auf jeden Fall wieder in die Kunst zurückfließen, in welcher Form genau, werden wir noch beraten. Eine Schublade voller Ideen haben wir tatsächlich immer. Wir haben uns aber nicht nur über das Geld riesig gefreut, sondern auch über die Anerkennung unserer Arbeit!

Weber: So ein Bundespreis ist eine Bestätigung für die Wichtigkeit dieses Hauses, die einfach unglaublich guttut – nicht nur, weil in Sachsen nächstes Jahr Landtagswahlen sind und zurzeit wirklich keiner weiß, wie es angesichts der horrenden Umfragewerte für die AfD weitergeht. Ich denke, hinter all der Arbeit, die Anne-Cathrin und das LOFFT machen, steht dieselbe Triebkraft wie bei uns in der Tanzkompanie: Natürlich sind wir eigentlich verliebt in den Tanz – als ästhetische Erfahrung, als körperliches Gefühl und so weiter. Aber das künstlerische Tun ist immer auch davon befeuert, etwas bewegen zu wollen, Dinge zu erforschen oder auszutesten, die die Welt letzten Endes besser machen. Deswegen müssen wir auch raus aus der Blase, neue Wege finden. Das ist die Herausforderung für die Zukunft, und das LOFFT wird uns dabei garantiert weiter inspirieren.