Die Krise ist jetzt - Aber was ist morgen?

Von Dorte Lena Eilers

Geschäftsführer Holger Bergmann und Vorstandsvorsitzender Prof. Dr. Wolfgang Schneider im Gespräch mit Dorte Lena Eilers über NEUSTART KULTUR und darüber, was die Krise langfristig im Fördersystem verändern könnte.

Laptop auf dem ein Videocall läuft. Auf den vier Kacheln sind Holger Bergmann, Prof. Dr. Wolfgang Schneider, Dorte Lena Eilers und das Logo des Fonds zu sehen. © Carolin Meyer

Holger Bergmann und Wolfgang Schneider im Interview mit Dorte Lena Eilers

Holger Bergmann, Wolfgang Schneider, in Lateinamerika gibt es die Tradition der Posadas, bei denen Figuren aus Pappmaschee, Piñatas genannt, so lange von einer Person mit einem Stock traktiert werden, bis sie ihr Innerstes preisgeben. Die Piñatas stehen für das Böse, ihre Füllung für den Segen. Welche Form hätte Ihre Piñata im Jahr 2020 gehabt? Und welche Füllung wäre für Sie ein Segen?

Holger Bergmann: Das ist gar nicht so einfach zu beantworten. Ich glaube, meine Piñata hätte tatsäch­lich die Form eines Q – wie Quertreiber, unsolidarische Quertrieber in unserer Gesellschaft. Herausrieseln sollte im besten Fall so etwas wie solidarischer Men­schenverstand, der mehr Leute ergreift, als er vielleicht bislang ergriffen hat, besonders jene, die gerade für viel zu viel Aufmerksamkeit sorgen.

Wolfgang Schneider: Ich stelle mir da eher ein Vesper-Paket vor, das sich in der Piñata versteckt – sozusagen mein Hinweis in Bezug auf das Theater: die Frage der Kulinarik, der Ästhetik. Theater kann ein Augenschmaus sein, etwas, das man in der Tat konsumieren kann, das aber auch anregt und im besten Falle wieder hungrig auf mehr macht. Wenn ich einen Neujahrswunsch formulieren dürfte, würde ich auf mein langjähriges Credo verweisen: »Mehr Theater für mehr Menschen« – dafür steht ja auch der Fonds Darstellende Künste.

Genau. Deshalb hätte ich eigentlich gedacht, Sie würden sich Geld erhoffen, welches aus der Piñata rieselt.

Schneider: So profan wollten wir dann doch nicht antworten. (lacht)

Solidarität, Holger Bergmann, Sie haben es gerade genannt, ist besonders in der Corona-Krise vonnöten. Die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie haben die Freie Szene besonders hart getroffen. Ohne Festanstellung leben freie Künstler*innen von regelmäßigen Auftritten und Touren. Bei geschlossenen Häusern und abgesagten Festivals droht vielen das berufliche Aus. Das Bundesministerium für Kultur und Medien hat mit NEUSTART KULTUR ein milliardenschweres Rettungsprogramm für den Kultur- und Medienbereich auferlegt, aus dem der Fonds Darstellen¬de Künste, der zu den sechs Bundeskulturfonds, gehört, zunächst zehn Millionen Euro erhalten hat. Wie hat sich dadurch Ihre Arbeit verändert?

Bergmann: Sie ist wesentlich intensiver geworden. Während viele andere Bereiche runtergefahren wur­den, wurde unsere Arbeit hochgefahren – natürlich unter Einhaltung aller Vorsichtsmaßnahmen. Bereits im März 2020 haben wir aus eigenen Mitteln ein erstes kleines #TakeCare-Paket geschnürt. Dann wurde unser Budget durch besagte Aufstockung zunächst um zehn Millionen Euro, Ende September 2020 um weitere 55 Millionen Euro erhöht, sodass wir die Maßnahmen fortsetzen und unter dem Titel #TakeThat ausbauen konnten. Wir waren über die ganzen Monate hinweg in engen Gesprächen mit dem Bundesministerium für Kultur und Medien über ein Paket zur Stabilsierung und zum Erhalt der Vielgestaltigkeit der freien Theaterlandschaft – was eigentlich gar nicht zur Kernaufgabe des Fonds gehört. Die Kernaufga­be des Fonds war ja immer, über Förderimpulse Anreize in den Bundesländern für regionale Kultur- und Kunstförderung zu schaffen.

Weil Kultur eigentlich Ländersache ist.

Bergmann: Genau. Dennoch sind wir natürlich so gut aufgestellt, dass unser Fonds sehr viele Künstler*in­nen aus den Freien Darstellenden Künsten anspricht: von den Semiprofessionellen, die im Bund Deutscher Amateurtheater organisiert sind, über das Kinder- und Jugendtheater, welches die ASSITEJ vertritt, den vielen Akteur*innen der Freien Darstellenden Künste bis hin zu den zwischen Stadttheatern und freier Szene wechselnden Gästen. So konnten wir ein Paket erarbei­ten, das dieser Vielfalt Rechnung trägt und – so lautete zumindest das Echo, das wir erhalten haben – sehr umfangreich und zielgerichtet auf die einzelnen Bedürfnisse eingeht.

Das #TakeThat-Programm unterteilt sich mittlerweile in elf Unterprogramme. Was kennzeichnet das Maßnahmenpaket und wie unterscheidet es sich von früheren Förderprogrammen?

Schneider:

Verändert hat sich tatsächlich die große Ausdifferenzierung der Programme. Es ist ja nicht nur viel Geld, sondern die Maßnahmen sind auf Grundlage einer jahrzehntelangen Beobachtung der Theaterlandschaft entwickelt worden, um zu versuchen, der Unterschiedlichkeit der freien Theaterarbeit gerecht zu werden.

Da gab es im Rahmen von #TakeCare zunächst bis zu 5000 Euro pro Person für die geplagten Solo-Selbst­ständigen und zwar schnell und unbürokratisch cash auf die Hand. Ein ganz wesentlicher Schritt. Wir haben uns aber auch mit Akteur*innen, dem Kuratorium, den Mitgliedsver­bänden Gedanken gemacht, wo sich, selbst in einer Krise wie dieser, Akzente setzen lassen können. Denn eines ist völlig klar: Die Krise ist jetzt – aber was ist morgen? Gibt es Erkenntnisse aus den Förder­möglichkeiten, die wir umsetzen können?

In Ergänzung zu den drei klassischen Förderinstrumenten Initialförderung, Projektförderung und Konzeptionsförderung haben wir bei der Erarbeitung der #TakeThat-Programme darauf Wert gelegt, dass sich bestimmte Gruppen, Institutionen und Phänomene über einen längeren Zeitraum weiter entwickeln können. Durch Freiräume, die wir über das #TakeCareResidenzen-Programm ermögli­chen, über die Unterstützung von Audience-Development-Vorhaben im #TakePart-Programm bis hin zur Förderung von Wissenstransfer und Kooperationsvor­haben für Produktionsorte, Netzwerke und Festivals in #TakeNote. Ebenso ging es uns darum, bestimmte Entwicklungen zu stärken wie zum Beispiel im Figuren- und Objekttheater durch das Förderprogramm »KONFIGURATION« oder wie bei »GLOBAL VILLAGE« die Theaterarbeit in ländlichen Räumen.

Das heißt, Sie sehen durch das erhöhte Förderbudget die Chance, Förderinstrumente zu verbessern, zu individualisieren und die freie Szene durch bestimmte Neugestaltungen zukunftsfähiger zu machen?

Bergmann: Durch das Hilfspaket ja. Natürlich müssen wir die Maßnahmen noch auswerten. Was kommt an? Was nicht? Einige Programme kommen derzeit sehr gut an, andere weniger, wie zum Beispiel Strukturprojekte, die wir zuvor ja auch noch nie gefördert haben. Wir müssen uns die Frage stellen – Wolfgang, du sprachst es schon an –, welche Maßnahmen vorbereitend auf den Neustart sinnvoll sein könnten, um den Betrieb im Blick auf Publika, technische Ausstattung, ökologische Zertifizierung zukünftig auch etwas effektiver, wirtschaftlicher zu machen.

Wobei es nahezu paradox erscheint, sich in einer Zeit mit Optimierung zu beschäftigen, in der man gerade versucht zu überleben. Darüber haben wir lange mit dem Bundesrechnungshof gestritten. Unser Vorschlag war es eigentlich, zuallererst denjenigen, die nicht öffentlich gefördert sind, einen prozentualen Ausgleich ihrer weggefallenen Einnahme anzubieten. Das hätte stabilisierend gewirkt und sich durch eine Bilanzierung der Einnahmen aus dem Jahr 2019 und einer Prognose für 2020 sicher berechnen lassen.

Warum war dies nicht möglich?

Bergmann: Haushaltsrechtlich ist das ganz simpel: Man kann nicht das bezahlen, was nicht stattgefunden hat.

Anders also als bei den Corona-Hilfen für Gastronomen, die beispielsweise die Ausfälle im November 2020, die sich im Vergleich zum Monat des Vorjahres ergaben, anteilig erstattet bekamen.

Bergmann: Genau, für den Fonds gilt: Das, was nicht gemacht wird, darf nicht gefördert werden. Bei allem Willen des BKM mussten wir deshalb formal Umwege gehen. Wir haben uns aber auch aus einem anderen Grund nicht lange mit politischen Konflikten aufgehalten: Unsere Szene war ja auch trotz Lockdown enorm aktiv. Plötzlich spielte das Publikum eine verstärkte Rolle – eben weil es nicht mehr da war. Künstler*innen haben sich gefragt, wie sie in dieser Zeit die Menschen erreichen. Das zeichnet die Freien Darstellenden Künste aus: dass sie nicht abhängig sind von bestimm­ten Formatierungen wie der Bühne und dem Publikumssaal. Genau das wollten wir fördern.

So gesehen könnte man die Aussage, durch den Lockdown sei die Kunstfreiheit eingeschränkt worden, auch relativieren. Die Kunstausübung war möglich. Nur – und das ist der springende Punkt – fehlten die traditionellen Produktionsmittel und -orte.

Schneider: Corona hat gezeigt, dass die gesamten Darstellenden Künste in Deutschland nach wie vor einer Tradition verpflichtet sind, die sehr stark an die Häuser gebunden ist. Dabei ist die Erfindung der Blackbox und des leeren Raums ja durchaus schon ein paar Jahrzehnte her. Das heißt, unsere Theater reduzieren sich sehr auf bestimmte Formate.

Förderung in einer solchen Krise kann diese Reduktion aufbrechen. Um auszubrechen, das Theater zu verlassen. Wir sind sehr froh, dass es Stadttheater gibt. Aber wir wissen auch, dass es Theater in der Stadt gibt – und aus dem einen kann sich das andere ergeben. Dafür gab es auch vor Corona viele Beispiele, aber während der Lockdowns wurden neue Orte definiert, damit meine ich vorrangig nicht die digitalen, sondern tatsächlich die realen: es gab Theater auf dem Marktplatz, vor Pflege- und Altersheimen, selbst auf Balkonen. Es kam wieder das »fahrende Volk« ins Spiel. Insofern sind solche Förderprogramme auch förderlich für das Reformieren einer Theaterlandschaft.

Reichen die Maßnahmen und Gelder aus, um trotz allem einen größeren Schaden von der Freien Theaterszene abzuwenden?

Bergmann: Aus Bundesperspektive ist das sehr schwierig zu sagen, weil die Hauptakteure in der Förderung der Künste natürlich die Länder und die Kommunen sind. Ich halte das auch für ein sehr gutes System, weil wir dadurch die Kunst dort fördern, wo sie unmittelbar einen Raum hat, wo das jeweilige Theater sein Publikum hat, wo die Künstler*innen ihre Umgebung haben.

Darüber hinaus aber gibt es gerade in der Freien Szene – anders als bei den Stadttheatern – eine bundesweite Bewegung durch Gastspiele, durch die Vernetzung der Produktionshäuser und so weiter. Deshalb, glaube ich, wächst dem Bund hier eine besondere Rolle und Aufgabe zu. Das ist nicht nur Lobbyistensprech, denn wir sehen ja bereits jetzt in den Ländern und Kommunen, etwa München oder Bamberg, deutliche Kürzungstendenzen, die natürlich als allererstes die freiwilligen Ausgaben treffen und damit – da brauche ich keine Glaskugel – die freien Akteur*innen einer Stadt. Wenn wir es schaffen könnten, ein Modell zu entwickeln, dem es durch Anreize in Form komplementärer Bundesmittel gelingt, nicht nur solche Kürzungen in den Kommunen und Ländern zu stoppen, sondern die lokale Freie Szene zu stabilisieren und eventuell sogar weiterzuentwickeln, wäre das natürlich großartig.

Schneider: Wir verstehen unsere Förderung in der Tat – das muss man klar und deutlich formulieren – auch als kulturpolitische Anstöße. Und zwar deshalb, weil wir relativ genau wissen, was nachgefragt wird. Wir kennen tausende von Anträgen und wissen auch bei einigen, wie sie umgesetzt wurden. Ist für die Freien Darstellenden Künste genug Geld da? Nun ja. Man könnte ja mal schauen, wie die eine Milliarde Euro NEUSTART KULTUR prozentual an die verschiedenen Erscheinungsformen von Theater verteilt wird. Auch im Verhältnis zu den hunderten von Milliarden, die für andere Bereiche zur Verfügung gestellt werden, ist die Summe überschaubar. Wir können nicht dafür sorgen, dass alle genug haben, aber wir können die Unterfinanzierung durch zusätzliche Mittel zumindest ein wenig lindern.

Welchen Bereich meinen Sie, wenn Sie von Ungleichverteilung der NEUSTART KULTUR-Gelder sprechen?

Schneider: Ich will die Verbündeten in der Sache nicht gegeneinander ausspielen. Die Theaterlandschaft konzeptionell weiterzuentwickeln, wird auch davon abhängen, weniger gegeneinander zu arbeiten, wenn es ums Geld geht, sondern kooperativer und konstruktiver. Das betrifft auch andere Stif­tungen und private Fonds. Essenziell ist dabei für mich, Kunst und Kultur endlich nicht mehr nur als Staatsziel festzuschreiben – so steht es ja auch in allen Länder­verfassungen –, sondern die Förderung dieses Bereiches zu den Pflichtaufgaben von Ländern und Kommunen zu erklären. Ist dies erreicht, müssen sich Länder, Kommunen und Künstler*innen zu einer konzertierten Aktion zusammentun, um zu definieren, welches Theater in den nächsten Jahren entwickelt werden soll. Wenn ich schon höre, dass in Frankfurt am Main darüber diskutiert wird, das Schauspielhaus von 1912 wieder aufzubauen! Kommunen investieren ja gern in Immobilien, aber da muss ein Perspektivwechsel stattfinden, wenn es um das Theater der Zukunft geht.

Die Diskussion, Kultur nicht mehr als freiwillige Aufgabe, sondern als Pflichtaufgabe zu definieren, gibt es ja schon sehr lang. Sehen Sie in der Krise, in der auch viele Verbände und Lobbygruppen der Kulturszene lautstark Präsenz gezeigt haben, nun eine reelle Chance, diese Forderung durchzubringen?

Schneider: Wenn wir keine Chance sehen würden, würden wir uns nicht so stark engagieren, sowohl hauptamtlich als auch ehrenamtlich. Ich habe dieser Tage mit großer Freude vernommen, dass die Kinderrechte im Grundgesetz verankert werden sollen. Eine Petition dafür habe ich bereits in den 1980er Jahren unterschrieben und mich auch jahrelang dafür eingesetzt.

Die Verankerung von Kunst und Kultur im Grundgesetz ist ebenfalls längst überfällig. Viel wichtiger meiner Meinung nach als die Schuldenbremse. Es ist zwar richtig, dass wir immer daran denken müssen, welche Hypotheken wir der nächsten Generation überlassen, aber es ist mindestens genauso wichtig, dass die Menschen aktiv an der Gesellschaft teilhaben. Und sie haben aktiv an der Gesellschaft teil, wenn sie ihre Kultur leben und wenn sie sich in der Kunst kluge Gedanken über die Zukunft machen können.

Bergmann: Der Konzeptkünstler Jochen Gerz sagte einmal: Wir müssen das Fußballspiel in der Kunst schaffen, wo 60 000 Leute mitspielen und nur 22 zugucken. Ich finde das sehr plastisch auf den Punkt gebracht: Wie funktioniert demokratische Kultur? Nicht Kunst, die ist nicht immer demokratisch, dafür gibt es den wunderbaren Artikel 5 im Grundgesetz. Aber für die Kultur muss man sich diese Frage stellen, denn – da kehre ich jetzt zu meiner Piñata zurück – wir merken gerade auch, wie viel Nicht-Aufklärung, wie viel Nicht-Diskurs, wieviel Nicht-Kultur sich Bahn brechen kann, wenn wir auf kulturelle Räume, auch im Digitalen, verzichten.

Wir haben jetzt einen ganz großen Schub erhalten, auch die digitalen Räume ernst zu nehmen, ebenso das Publikum, das sich dort bewegt, oder es zumindest mal kennenzulernen, vielleicht auch nur, indem es einen anraunzt. Jede Form von Erweiterung birgt zudem die Chance, sich selbst infrage zu stellen. Stichwort Ökonomie: Inwieweit bin ich als Künstler *in unternehmerisch gut organisiert? Oder Stichwort Ökologie: Wir waren ja alle erstaunt, dass wir die Klimaziele plötzlich erreichen konnten.

Es liegt sehr viel Veränderungspotenzial in dieser Situation. Künstler*innen als Seismographen sind genau die richtigen, um aufzuspüren, welche Wege unsere Gesellschaft einschlagen könnte. Das wird nicht einer sein, nicht zwei, sondern im besten Fall werden es 80 Millionen Wege sein, die aber nicht voneinander wegführen, sondern sich kreuzen, sich begegnen. Kultur schafft Zusammenhalt und ist damit Kern einer demokratischen Gesellschaft.

Schneider: Ich gebe aber in der Diskussion um die sogenannte Systemrelevanz von Theatern und Freien Darstellenden Künsten immer wieder zu bedenken, dass von den genannten 80 Millionen Deutschen mehr als die Hälfte nie in ihrem Leben in öffentlich geförderte Theater gehen. Wenn aber völlig zurecht behauptet wird, dass Theater zu dieser Kultur und zu diesem Land gehört, müsste doch daran gearbeitet werden, dass mehr Menschen beteiligt sind. Dazu zählen alle Projekte der ästhetischen Bildung, alle Projekte des Amateurtheaters, auch die der Soziokultur. Diese Bereiche aber werden bei uns noch sehr stark voneinander getrennt. Wenn man diesen etwas banalen Spruch »Nach der Pandemie wird es nicht mehr so sein wie vorher« ernst nimmt, müssten doch jetzt Pläne der interdisziplinären Kooperation auf dem Tisch, um es ab der nächsten Spielzeit anders zu machen – in Bezug auf Publika, Personal und Programm

In der Krise indes wurde teils das Gegenteil kommuniziert: Als die Bundesregierung bei der Verkündung des Teil-Lockdowns im November Kultureinrichtungen unter den etwas grobkörnigen Begriff »Freizeiteinrichtungen« subsummierte, sprachen einige Intendant*innen regelrecht abfällig über Freizeitbäder und Paintballanlagen, mit denen sie als Hochkultur-Orte nichts zu tun haben wollten. Damit aber qualifizierte man auch die Menschen ab, die gerne ihre Zeit im Schwimmbad oder beim Paintball verbringen. Wird die Diskussion über die Relevanz von Theater zu elitär geführt?

Bergmann: Ja, man kann das gar nicht anders sagen. Ich sehe das ganz genauso. Natürlich ist ein Theaterbesuch auch Freizeitgestaltung. Und natürlich hat es auch den Effekt, dass es mich unterhält – eben auf die Weise, wie ich mich unterhalten fühle, sprich dadurch, dass es mir unbekannte Sichtweisen liefert, die ich möglicherweise zunächst nicht verstehe, aber gerade das finde ich gut. Für mich ist das eine Form von Unterhaltung – jemand anderes muss das nicht als Unterhal­tung empfinden. Ich sehe Theater eben nicht als Volkshochschulen der Nation und muss auch wirklich davor warnen, in diesen Kategorien zu argumentieren, denn dann sollen sie auch mit den Budgets der Volkshochschulen auskommen und Bildungsarbeit im besten Sinne machen. Ich bin der Meinung, dass gerade im Theater dieser Spagat aus Interesse, Freizeitgestaltung, Spaß und Lust vehement dazu gehört. Keiner ist in der Antike, im Mittelalter, im Barock ins Theater gegangen, um besonders viel Bildung zu erfahren. Es gibt eine lange Tradition des Theaters, die eng mit der Freizeit verknüpft ist.

Schneider: Wobei eben auch sehr viel konkrete gesellschaftliche Arbeit von den Theatern geleistet wird. All die Projekte, die 2015 mit Geflüchteten entstanden sind und die wir ja auch über den Fonds »HOMEBASE« gefördert haben, sind natürlich sehr viel mehr als Freizeitgestaltung. Da wird eben nicht nur das große Transparent »Refugees welcome« ans Opernportal gehangen, sondern Unterstützung bis hin zu Sprachkursen, dem Aufbau von sozialen Netzwerken oder ganz einfachen Hilfestellungen im Alltag geleistet. Das alles sind Errungenschaften, die politisch gepflegt werden müssten, damit sich weiterhin neue Formate entwickelt können, die noch partizipativer, diverser und eben auch interdisziplinärer sind.

Bergmann: Eine grundlegende Veränderung im Fonds ist letztlich auch, dass wir nun vermehrt Arbeitsprozesse fördern, nicht mehr Projekte. In diesen Arbeitsprozessen kann ein Projekt stattfinden, können auch zwei Projekt stattfinden, es kann aber auch zu keiner Aufführung kommen. Diese Ausrichtung müssen wir den Kommunen und Ländern, die in ihren Förderungen noch sehr auf Ergebnisse zentriert sind, natürlich vermitteln. Denn Denkräume zu haben, ist Voraussetzung künstlerischer Arbeit.

Zudem geht es uns auch um Qualifizierung. Etwa wenn wir vermitteln, dass es als Frei*e Künstler*in nicht unbedingt günstig ist, alle Geschäfte auf einem Privatkonto zu führen. Natürlich verknüpft sich Leben und Arbeit bei Künstler*innen aufs Engste. Dennoch gibt sich hier ein sozialromantischer Grundgedanke mit einem harten Neoliberalismus die Hand, wenn es heißt »Schön dass du so identisch bis mit deiner Arbeit, dann brauchen wir auch nichts dafür bezahlen«. Wir brauchen also künstlerische Freiräume bei gleichzeitiger stabiler wirtschaftlicher Planbarkeit. Keiner möchte den Slogan »arm, aber sexy« mehr für sich umsetzen. Die Frage ist: Wie schafft man es, die Freie Szene nicht mehr als unterfinanzierten Kreativpool dastehen zu lassen, aus dem sich die Kreativindustrie sowie Gentrifizierungsmaßnahmen munter bedienen, sondern wieder als entscheidenden Faktor zu etablieren? Dafür müssen wir die neunziger oder zweitausender Jahre hinter uns lassen. Diese Aufgabe hat uns die Pandemie auf vielen Ebenen noch einmal deutlich gemacht. Wir hätten sicher nichts dagegen, wenn ein solcher Quantensprung alsbald aus einer Piñata fiele.

Das Gespräch wurde am 12. Januar 2021 geführt.