Die leisen Kulturen des Widerstands

Von Elisabeth Wellershaus

Über künstlerische Freiheit und über sichere, inklusive Räume machen sich in den diesjährigen Labs unter anderem Micaela Kühn, Alfredo Zinola und Zwoisy Mears-Clarke Gedanken.

Sicherheit ist ein kompliziertes Konstrukt. Manche Menschen empfinden sie, wenn sie sich der Abwehr vor fremden Einflüssen hingeben, der versuchten Einhegung von gesellschaftlicher Heterogenität. Andere erleben Sicherheit als Schutz vor den Zuschreibungen jener, die sich an der Anwesenheit marginalisierter Mitbürger*innen stoßen. Zusammenleben wird zunehmend dort auf die Probe gestellt, wo Exklusionsreflexe und der Wunsch nach mehr Teilhabe und Sichtbarkeit die Gesellschaft in antagonistische Lager aufzuteilen scheint.

Auch der Choreograf Alfredo Zinola und seine Produzentin Micaela Kühn erfuhren zu Beginn des Jahres, was es bedeutet, zwischen die Fronten unterschiedlicher Weltwahrnehmungen zu geraten. Bei einem Schulworkshop prallte der kreative Ansatz, mit dem sie jungen Menschen ein Panorama der Vielfalt vermitteln wollten, an ein paar wenigen entsetzten Eltern ab. Anders als der Großteil der Schulelternschaft störten diese sich an Bildern von Menschen, die in zärtlicher – nicht sexualisierter – Berührung an heteronormativen Vorstellungen rührten.

Was wie eine kurze Episode aus der gereizten Gegenwart klingt, mauserte sich zum mittelgroßen Zeitungsskandal, zog Wochen der Anfeindungen im Internet gegen die Künstler*innen nach sich und ging so weit, dass Förderstrukturen kurzfristig ins Wanken gerieten.

Eigentlich wollten Kühn und Zinola das Erlebnis schnell hinter sich lassen. Aber dann thematisierten sie das Erlebte doch. Ihr Lab trug den Titel „Experiences of public aggression, media scandals and de-escalation strategies“. Und während der Arbeit daran stellten sie fest, dass die Erfahrung, die sie selbst gemacht hatten, von vielen Kolleg*innen geteilt wurden. In Gesprächen und Workshops mit Künstler*innen, Soziolog*innen, Kulturpolitiker*innen, Vertreter*innen von Theatern und Kommunikationsexpert*innen wollten sie herausfinden, wie sich mit aggressiven Reaktionen aus der Öffentlichkeit umgehen lässt. Welche Strategien helfen können, um selbst auf den Anstieg von Gewalt und radikalisierten Meinungen zu reagieren.

Immer häufiger müssen Künstler*innen sich in Zeiten harscher Debattentöne damit auseinandersetzen, dass sie gelegentlich auch Publika erreichen, deren Kritik gewisse Grenzen überschreitet. Denn wie geht man um mit einer Aufmerksamkeit, die aus dem Ruder läuft und in Aggressivität umschlägt? „Einerseits wollen wir nicht ständig auf diese Eventualität vorbereitet sein“, sagt Kühn. Andererseits sei der Austausch mit Kolleg*innen, der Rückhalt aus kreativen Kreisen, essenziell, um Angriffe abzuwehren, die teils mit großer Wucht kämen. „Es geht dabei schließlich um künstlerische Existenzen, die auf unterschiedlichsten Ebenen gefährdet werden“, so Kühn. Von der mentalen Überforderung bis hin zur finanziellen Bedrohung, die entsteht, wenn potenzielle Publika und Förderinstitutionen von einer gewissen Rhetorik mitgerissen werden. Gemeinsam könne man sich vergewissern, dass es sich oft nicht lohnt, der Konfrontation Futter zu geben. Dass ein konstruktiver Umgang vielmehr darin besteht, die eigene Arbeit einfach fortzusetzen.

Die „antirassistische Leseshow“ Hate Poetry hat bereits vor Jahren vorgemacht, wie ein Umgang mit Anfeindungen aussehen kann. Damals trugen Journalist*innen schockierende Leserbriefe im Slam Poetry Stil vor und legten die oft surrealen rassistischen Inhalte gemeinsam offen. Auch sie zeigten, dass man* sich kollektiv positionieren und die eigenen Narrative in der Hand behalten konnte. Kühn sagt heute: „Ich bin generell nicht für eine Kultur des frühen Cancelns. Selbst von Meinungen, die sich von unseren Weltwahrnehmungen stark unterscheiden. In dem Moment, wo sie verboten werden, facht man den ersehnten Adrenalinrausch auf der anderen Seite doch erst richtig an.“

Mit ähnlichem Nachdruck versucht Zwoisy Mears-Clarke die eigene Praxis offener zu gestalten. Wenn auch aus etwas anderer Perspektive. Mears-Clarke war früher im Maschinenbau tätig und verfolgte Tanz als ein liebgewonnenes Hobby. Nach zwei Jahren in „sexistischem und rassistischem Umfeld“ aber kam der radikale Wandel. Warum nicht dem Tanz eine Chance geben, der ohnehin immer mehr Aufmerksamkeit einzufordern schien?

Mit den konzeptionellen Ansätzen der Berliner Tanzszene konnte Mears-Clarke sich nicht unmittelbar identifizieren. Doch aus der schieren Lust an der körperlichen Bewegung und Begegnung entstanden schließlich ganz eigene Performance-Strukturen. Eine Ästhetik, die sich im sehr direkten Kontakt zwischen Publikum und Performenden entwickelte. Schon bald begann Mears-Clarke die Begegnungen in komplett verdunkelten Theaterräumen stattfinden zu lassen. Und bemerkte durch den Austausch mit Kolleg*innen und Publikum, dass die Räume sich dadurch auf ungeahnte Weise öffneten: unter anderem für ein sehbehindertes und blindes Publikum.

Mears-Clarkes Performances wurden zur widerständigen Auseinandersetzung mit exklusiven Räumen. Räumen, die weder sehbehinderten und blinden, noch tauben oder chronisch kranken Zuschauer*innen einladend begegneten. Das Lab „Barrierefreiheit und Performance per Post und im öffentlichen Raum“ setzt diese Auseinandersetzung fort: die Frage, wie Aesthetics of Access heterogene Publika mit neuen Produktionsbedingungen verbinden können. Es geht darum, was es braucht, um Theaterräume nachhaltig inklusiv zu gestalten – von der Zusammenarbeit mit marginalisierten Gruppen, über digitale und audiovisuelle Formate von Verträgen oder Theaterprogrammen, bis zur Verhandlung vom politischen Willen, der die entsprechenden Änderungsmaßnahmen für Produktionsprozesse und Marketing unterstützen müsste.

Ob in der Auseinandersetzung mit Barriere- oder Gewaltfreiheit, mit der Suche nach Resilienz in krisenhaften Zeiten, dem Publikum der Zukunft oder kreativen Allianzen außerhalb der eigenen „Bubble“, Brave Spaces und Safer Spaces: In vielen Formaten lässt sich beobachten, wie ein widerständiges Theater sich auf lauten und leisen Sohlen den dominanten und radikalisierten Kräften in der Gesellschaft entgegenstellt.

Im Sommer 2023 haben freie Künstler*innen-Gruppen in 64 Bundesweiten Artist Labs das Verhältnis zum Publikum in post-pandemischen Zeiten untersucht. Unsere Redakteurin Elisabeth Wellershaus und ein Team aus Gastautor*innen haben ihnen dabei über die Schulter geschaut.

Elisabeth Wellershaus ist Journalistin und Autorin und beschäftigt sich mit Fragen der Dekolonialisierung sowie mit kulturellen Aushandlungsprozessen rund um die Themen Nachhaltigkeit, Solidarität und gesellschaftlicher Zusammenhalt. Als Redakteurin arbeitet sie für verschiedene deutschsprachige Medien, unter anderem für die Kolumne 10nach8 bei Zeit Online. Ihr Buch „Wo die Fremde beginnt“ erschien im Januar 2023 bei C.H.Beck und wurde für den Deutschen Sachbuchpreis nominiert.