Die Umdeutung des urbanen Raums in ein Spielfeld

Von Rica Blunck

Das Projekt „Overcome Reality Young Star Edition“ – gefördert durch den Fonds Darstellende Künste im Programm GLOBAL VILLAGE KIDS – sucht mit seinen Teilnehmer*innen neue Wege in der eigenen Stadt und verschränkt unterschiedliche Stadtteile Hamburgs über Bewegung miteinander. Dafür schlossen sich die Bündnispartner*innen Kunstwerk e.V., Parkour Creation und die Kulturagent*innen Hamburg zusammen. Rica Blunck, eine begleitende Künstlerin, teilt Eindrücke aus dem Projekt.

Langsam füllt sich der Platz vor der Fischauktionshalle in Hamburg. Hier treffen sich 14 Teilnehmer*innen des Projekts „Overcome Reality Young Star Edition“. Die meisten sind seit circa sechs Monaten dabei. Angefangen haben sie in ihren eigenen Stadtteilen, die oft in den Randbezirken Hamburgs liegen und von ihren jugendlichen Bewohner*innen nur sehr selten verlassen werden.

„Fischmarkt, gibt’s da Fische? Nee, da war ich noch nie“, sagte einer der Teilnehmenden, als der nächste Treffpunkt eine Woche zuvor angekündigt wurde. Einige mussten lachen, andere hatten ebenfalls noch nie von dem Ort gehört.

Der Fischmarkt ist nicht nur ein sehr geschichtsträchtiger Ort und eine Touristenattraktion im Zentrum Hamburgs. Er ist auch noch wunderschön und bietet einen tollen Blick auf die Elbe, den Hafen und große Schiffe. Die Parkour-Dozent*innen Alena und Shirai, die die Teilnehmer*innen seit einigen Monaten bei ihren Stadterkundungen begleiten, führen sie auf den großen Platz vor dem Fischmarkt. Hier werden sie heute für drei Stunden ihren Parkour-Workshop geben.

Eine Jugendliche mit Baseball-Cap balanciert auf einer dicken Metallkette, die zwischen zwei Beton-Poller gespannt ist. Andere Jugendliche aus der Gruppe beobachten, wie sie das macht. © Moritz Walliser

Parkour ist eine noch recht junge Sportart, die wie Skateboardfahren, Breakdance oder Sprayen als Subkultur einzuordnen ist. Parkour deutet den urbanen Raum um. Hindernisse werden zu Herausforderungen, Absperrungen zu Trainingsgeräten, Ruinen zu Sparringpartner*innen. Wer Parkour macht, wird zur*m Bewegungskünstler*in und verändert die Stadt mit seinen*ihren Moves: Die Bewegungen geben den Orten andere Bedeutungen, erzählen Geschichten neu und öffnen ungesehene Perspektiven. Für die Jugendlichen entstehen hier und jetzt neue Möglichkeiten und Wege. Das bewusste Heraustreten aus ihrer eigenen „Hood“ verspricht eine neue Freiheit.

Eine dreiviertel Stunde später sind auf dem Fischmarkt alle aufgewärmt und haben schon die ersten Herausforderungen, die Alena und Shirai vorbereitet haben, an den kleinen Mauern, Treppen und Geländern des Platzes gemeistert. Jetzt sind sie selbst dran.

„Geht an einen Teil vom Platz, an dem ihr etwas Gutes machen könnt, denkt euch eine gute ‚Line‘ aus und filmt sie. Dann können wir damit für die anderen ein paar Challenges hinterlassen“, sagt Alena zu ihren Kursteilnehmer*innen.

Eine ‚Line‘ im Parkour sind mehrere miteinander verbundene Bewegungen hintereinander. Challenges bestehen aus ,Lines´und sind Aufgaben, die die Jugendlichen für andere Teilnehmer*innen des Projekts hinterlassen. Sie denken sich eine Parkour-Herausforderung aus und filmen sie. Dieser Film wird auf eine Plattform hochgeladen und wird bald mit einem QR-Code, der an der bespielten Fläche klebt, abrufbar sein. Später, vielleicht erst wenn das Projekt zu Ende ist, wird ihn dann eine andere Gruppe finden, mit dem Handy scannen, angucken und nachmachen können. So hinterlassen die Jugendlichen Spuren in der Stadt.

Ein Jugendlicher balanciert auf einem Metallrohr, dass zwei Backstein-Poller miteinander verbindet. © Moritz Walliser

Hochkonzentriert verteilen sich die Jugendlichen in kleinen Gruppen auf dem Platz. Alena und Shirai beobachten, beraten und helfen, wenn Hilfe nötig ist. Eine weitere halbe Stunde später sind fast alle fertig und zeigen sich gegenseitig auf ihrem Handy, was sie gemacht haben.

In dem Projekt gibt es verschiedene Gruppen. Der Großteil der Gruppen besteht aus Jugendlichen, die während der Laufzeit des Projekts Parkour lernen. Daneben gibt es noch eine Videogruppe, die angeleitet von einem Videographen, die Challenges für die QR-Codes aufnehmen. Eine weitere Gruppe mit Jugendlichen gestaltet die Webseite, auf der Filme und Challenges später zu sehen sein werden. Darüber hinaus gibt es eine Gruppe, die die Orte erforscht, Informationen über die Geschichte der Orte, Anekdoten und Eindrücke sammelt und Texte dazu gestaltet.

Ein Jugendlicher springt auf einen Betonpoller. © Moritz Walliser
„Mich interessiert halt nicht nur Parkour. Ich zeichne gerne und das kann ich in der Webseitengruppe gut einbringen.“ (Rio, Teilnehmer in mehreren Parkour-Gruppen und der Webdesign-Gruppe)
„Ich war schon vorher ein paar Mal in der Parkourhalle, mit der Schule und hab mich sehr gefreut jetzt mitmachen zu können. In meinem Stadtteil habe ich es auf Spielplätzen probiert, aber so macht es keinen Spaß. In der Gruppe für die Webseiten mache ich mit, weil ich ja will, dass alles toll aussieht am Ende.“ (Vova, Teilnehmer)

„Genau das wollten wir mit dem Projekt ‚Overcome Reality Young Star Edition’ auch erreichen. Durch meine Arbeit an Schulen in den Randbezirken Hamburgs, weiß ich, wie selten die hier lebenden Kids ihren Stadtteil verlassen. Kennt man die ganze Stadt, denkt man sich, wie sehr es die Jugendlichen in den sozial schwächeren Teilen einschränkt, sich nicht die ganze Stadt ‚anzueignen‘. Das wollten wir verändern, die Jugendlichen raus aus ihrem Stadtteil zu holen und die Stadtteile digital miteinander zu verschränken.“ (Rica Blunck, künstlerische Leitung des Projekts ‚Overcome Reality Young Star Edition’)

Mit GLOBAL VILLAGE KIDS fördert der Fonds Darstellende Künste Projekte an der Schnittstelle von Darstellenden Künsten und Kultureller Bildung in ländlichen und digitalen Räumen, finanziert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen von "Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung".

Das Projekt „Overcome Reality Youngstar Edition“ findet seit Sommer 2023 in Hamburg mit Kindern und Jugendlichen zwischen 12 und 18 Jahren statt.