Einsteigen, bitte!

Von Georg Kasch

Mobile Albania suchen und bauen in ihrem vom Fonds geförderten Langzeitprojekt „Nahverkehr“ an einer neuen, niedrigschwelligen Form der Vernetzung und des Austausch. Georg Kasch im Gespräch mit Julia Blawert.

Ein Bus, an dem ein Holzrad steht, das die gleiche Größe hat, wie der Bus. Davor steht eine Performerin aus einer Leiter. Ihr zugewandt sind drei Personen, die man von hinten sieht. © Mobile Albania

Nahverkehr - Mobile Albania

Ein Nahverkehrsnetz ist eine ziemlich politische Angelegenheit. Wer kommt wo wie weit, wenn sie oder er in Bahn, Bus, Tram steigt? Wer zahlt wie viel für Mobilität? Welches Argument wiegt schwerer: Schnelligkeit oder Klimaschutz? Und gibt es überhaupt ein öffentliches Verkehrsnetz, das den Namen verdient?

Politisch ist auch „Nahverkehr“ der Gruppe Mobile Albania. Das Projekt in der Pendler*innen-Stadt Frankfurt am Main will neue Strecken und Knotenpunkte entwickeln – und das sowohl auf der realen als auch auf der übertragenen Ebene. Konkret sieht das in etwa so aus: Mobile Albania eröffnen eine Haltestelle und fahren zur verabredeten Zeit mit ihrem „Omnibus“ (was im Lateinischen nichts weiter heißt als: für alle) vor. Die Gäste steigen ein. Anders als beim Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) ist hier allerdings der Weg das Ziel: die Begegnung unterschiedlichster Menschen, das Gespräch, vielleicht auch das gemeinsame Nachdenken.

Projekte im öffentlichen Raum sind die performative DNA von Mobile Albania. Seit ihrer Gründung 2008 geht es ihnen darum, mit Menschen in Kontakt zu treten – in der Stadt oder bei ihnen zu Hause. Mit einem rollenden Holz-Esel wanderten sie den Limes entlang und stellten mit ihrem analogen Telefon – einer Menschen-Ruf-Kette in Bad Homburg – einen Weltrekord auf. Mit „Radio Zoli“ entwerfen sie seit 2015 ein performatives analoges Stadtteilradio in den öffentlichen Räumen Tiranas, Frankfurts und Leipzigs. Auch „Stadt als Garten“ war ein Langzeitprojekt – die Stadtraum-Performance von Mobile Albania als Begleitprogramm zur Landesgartenschau in Gießen erstreckte sich 2012 bis 2014 über zwei Jahre.

„Nahverkehr“ ist nun sogar auf vier Jahre angelegt. Der erste Teil, „Pendeln“, ist bereits angelaufen, bei den Festivals „Politik im Freien Theater“ im September und bei „IMPLANTIEREN“ im November 2022. Da ging es vor allem darum, Prototypen der „Bushaltestellen“ auszuprobieren: Ein klappriges Schild wurde aufgepflanzt, mit Klebestreifen „Haltestelle“ an die Hauswand dahinter geschrieben; auf einem Tisch stand Tee bereit. Bei einer anderen Haltestelle gab es eine „Karte“, eine kreisrunde Schiefertafel, auf der mit Metallsaiten ein Netzwerk entworfen wurde – das Performer*innen dann wiederum zum Klingen brachten. Zugleich suchten die Performer*innen das Gespräch, stellten Fragen: Welche Punkte in der Stadt sollten miteinander verbunden werden? Willst du auch eine Verbindung eingehen? Welche Verbindung ist dir wichtig? Aus diesen Verbindungen entstehen Geschichten – Teil der Haltestelle ist eine Legenden-Tafel, an der man über ein Audioabspielgerät die Texte hören kann.

„Nahverkehr“ vereint mehrere Aspekte, erzählt Julia Blawert von Mobile Albania. „Zum Auftakt geht es jetzt erst einmal darum, das aktivistische Unterwegssein als niedrigschwellige performative Praxis umzusetzen.“ Also: Raus in die Stadtgesellschaft gehen, Begegnungen provozieren, Mitstreiter*innen finden. Spontan, im Moment sein. Das geht auch ohne den eigenen Kleinbus, der zum Auftakt des Projektes in der Werkstatt war. So sind Mobile Albania mit der Frankfurter Tram-Linie 12 von einem Ende zum anderen gefahren, haben sich mit Büchern, Teppich, Tisch und Tee in einem Vierer-Sitz eingerichtet und in Zimmerlautstärke miteinander gesprochen. Das zog andere Menschen an, die sich einmischten, mitdiskutierten – oder einfach zuhörten. „Wir gehen dabei nicht aktiv auf die Leute zu“, sagt Blawert, „sie kommen zu uns“. So mischte sich bald eine Frau auf dem Sitz gegenüber mit ins Gespräch, die davon erzählte, wie sie mit ihrem Ohnmachtsgefühl gegenüber den gesellschaftlichen Problemen umgeht: Sie versucht, nur noch mit 100 Dingen zu leben.

Platz vor einer Halle. Dort steht ein Bus. Daran eine Scheibe, die so groß ist, wie der Bus. Daneben ein Stück Bauzaun mit Zetteln daran. Sitzmöglichkeiten und drei Personen stehen vor dem Bus. © Mobile Albania

Nahverkehr - Mobile Albania

Später sollen – gemeinsam mit den Kooperationspartner*innen wie Festivals, Museen, Theatern, aber auch Privatpersonen – feste Haltestellen entstehen, an Linien mit geregelten Zeiten, die dann zu Fuß oder im Kleinbus absolviert werden können. 2024 wird zudem der Mousonturm zum Drehkreuz – mit der interessanten Frage, wie sich der öffentliche Raum und der Theaterraum sinnvoll miteinander verschränken lassen.

Denn natürlich geht es Mobile Albania nicht zuletzt um die Frage, wie man mit Menschen in Kontakt kommt, die sich sonst nicht ins Theater verirren würden, und ihre Geschichten und Anliegen sicht- und hörbar zu machen. Angewandte Nicht-Publikumsforschung, sozusagen. „Uns interessiert, welche Themen die Stadtgesellschaft umtreiben“, sagt Blawert. „Wir wollen in die Stadtgesellschaft reinhorchen.“ Der Blick soll dabei aber auch Stadtecken und -strukturen gelten, an denen man sonst achtlos vorbeiläuft.

Das „Nahverkehr“-Projekt ist auf vier Jahre angelegt. Damit sprengt es schon durch seine Dauer die meisten Förderlogiken – kaum ein Land, kaum eine Kommune, die überhaupt so lange Förderzeiträume anbietet. Möglich wird dieser Zeitraum mit seinen höchst unterschiedlichen Forschungs- und Aufführungsformaten durch die im Rahmen von NEUSTART KULTUR vom Fonds Darstellende Künste vergebene #TakeHeart-Konzeptionsförderung. „Hier können wir endlich machen, was wir seit Jahren wollen“, sagt Blawert. „Wir brauchen allein ein Jahr dafür, um all die kleinen Formate auszuprobieren.“ Denn das alles braucht seine Zeit: planen, die performative Feldforschung umsetzen, die Ergebnisse auswerten und daraus Schlüsse für die weiteren Schritte ziehen. So werden die Linien immer klarer, das Netz etabliert sich immer mehr. Im Sommer 2023 soll dann die nächste Stufe mit den festen Linien starten.

Die lange Dauer von „Nahverkehr“ ist dabei eine große Stärke. Alle zwei Wochen sind Mobile Albania mit ihrer Netz-Forschung unterwegs. „Die Anzahl der Leute, die sich dafür interessieren und begeistern lassen, wächst sehr langsam, aber stetig“, sagt Blawert. Dabei kommt es natürlich auch zu Meinungsverschiedenheiten, Konflikten. Die muss man aushalten, wie im echten Leben. Aber wie sonst ließe sich der oft beraunten Spaltung der Gesellschaft entgegenwirken als durch solche Dialoge?

Von der Förderung in den Probenraum und auf die Bühne – die Kulturjournalist*innen Georg Kasch und Elena Philipp besuchen im Rahmen von #TakeHeart des Fonds Darstellende Künste geförderte Projekte.