Empowerment: Neue Freundschaft mit einem alten Bekannten.

Von Sebastian Köthe

Manchmal gewöhnt man sich zu sehr an Begriffe, gerade an die ganz wichtigen. Sebastian Köthe hat mit Oliver Zahn, Estrella Jurado und Sarah Israel über ihre Artist Labs gesprochen, um dem Begriff des Empowerments wieder auf die Spur zu kommen.

Empowerment, Selbstermächtigung, Handlungsfähigkeit, Agency– mit manchen Begriffen ist es komisch. Es ist wie Liebe auf den ersten Blick, mit ihnen sieht man die Welt mit frischen Augen, man will sie überall hin mitbringen. Darum geht es, das ist wichtig, so können wir das beschreiben. Irgendwann gewöhnt man sich an die neuen Begriffe, sagt sie aus Gewohnheit, vielleicht aus Pflichtbewusstsein. Ins Denken führen sie nicht mehr, wie der Freund, mit dem man einmal im Monat Kaffee trinken geht und dann immer über dieselben alten Probleme spricht. Dabei liegt es natürlich an mir. Für die Freundschaft mit einem weißen cis-Mann interessieren sich diese Begriffe ohnehin nicht besonders. Ich hänge aber an ihnen und möchte die Freundschaft erneuern. Also gilt es: mal Abstand nehmen, was Anderes zusammen unternehmen, sich im Unvertrauten neu kennenlernen.

Was käme da gelegener als eine Reihe von Gesprächen mit Künstler*innen über eben diese Begriffe. Während es fad ist, Begriffe an die Kunst heranzutragen und sie damit auszudeuten, ist es stets belebend, sie von der Kunst konkretisieren zu lassen.

Oliver Zahn arbeitet unter dem Titel „Zwangsmaßnahmen“ an einer Bestandsaufnahme des psychischen Impacts der Corona-Pandemie: What the fuck just happened?, fragt er sich mit Blick auf die vergangenen Jahre. Kunst ist für ihn kein „Heilungsprozess“, er beschäftigt sich in seinen Performance-Essays mit Geschichtsschreibung, mit dem Einfluss von nichtmenschlichen Akteur*innen auf Menschen, mit dem Verhältnis von Wiederholung und Veränderung. Er hat Stücke über den Hitlergruß realisiert, über die Aneignung minoritärer Tanzformen und über den eigenen Körper als Archiv von Flucht und Vertreibung. Aktuell betrachtet er seine künstlerische Arbeit vor allem als „Genealogisierung der Gegenwart, als Werkzeug, um gewachsene Strukturen zu verstehen und zu verhandeln“. Was wir als historisch gewachsen verstehen lernen, erschlägt uns nicht als naturgegeben und unüberwindbar. Was so geworden ist, kann auch anders werden. Geschichte zu verstehen, so Zahn, führt zu „informierten Entscheidungen“.

Ich mag „informierte Entscheidungen“, weil sie so ein angenehm realistisches künstlerisches Ziel darstellen – diesseits von Selbstverwirklichung, Authentizität, Kreativität. Der Kniff ist, dass Zahns aufklärerisches Unterfangen dem Publikum nicht in Gestalt einer oft hierarchischen Wissenschaft entgegentritt, sondern in Gestalt der Kunst, der ganz andere Mittel zur Verfügung stehen. Es ist eine forschende Kunst, die sich traut, assoziativ zu sein, ihre Mittel frei zu wählen und sich offen zu den Erkenntniskräften des Körpers bekennt – ohne dabei an Weltsättigung zu verlieren. Sie ermöglicht den Künstler*innen, sich zu situieren, ohne bei der individuellen Perspektive stehen bleiben zu müssen. Psychologische Charaktere bleiben Zahn im Theater suspekt. Er sagt: „Individuen sind Modelle, aber nicht Auslöser für etwas Größeres.“ Ins Zentrum rückt er nicht Individuen, sondern die „Dynamiken, in denen sie formiert werden“ – zum Beispiel das Theater mit seinen diversen Publika. Weil wir – wie die Geschichte – so geworden sind, können auch wir anders werden. Auch wenn wir das nicht ganz in der eigenen Hand haben.

„Wi(e)der setzen – Szenografien von morgen“ – so heißt das Labor von Estrella Jurado und Katharina Becklas. Der Titel spricht von dem Missmut, sich im klassischen Sprechtheater wieder artig auf seinen Platz setzen zu müssen und frontal bespielt zu werden. Nach wenigen Minuten Gespräch mit Jurado wird mir klar, dass ich ihr Berufsbild immer unterschätzt habe: Es geht im Szenen- und Kostümbild nicht allein um Einrichtung und Ausstattung, sondern um die Herstellung des Raumes selbst. Ein Raum, der bestimmte Möglichkeiten seiner Räumlichkeit erst hervorbringt und – nonverbal – kommuniziert: etwa die Einladung, sich umzuschauen, mitzumachen, laut oder leise zu sein. Das Szenen- und Kostümbild, das Jurado und Becklas auch in politischen Unterfangen wie der „Initiative für Kostüm, Szenografie und visuelle Kunst in den Freien Darstellenden Künsten“ vertreten, ist eine „fundamentale Arbeit daran, wie Theater passieren kann“.

Daraus entstünden multiple Formen von Empowerment. Das Publikum komme nicht als „formlose Masse“, von der allein passives Zuhören erwartet würde, sondern dürfe sich sinnlich verhalten. Ein solches, raumbewusstes Theater sei inklusiver: zugänglicher für Menschen mit körperlichen Behinderungen, etwa durch Touch-Touren, aber auch für ein neurodiverses Publikum, das in relaxed performances gesteuerte und ästhetisch durchdachte Formen des Rückzugs finde.

Empowerment sei aber genauso wichtig für die Künstler*innen selbst – im Bereich Bühne, Kostüm und Visuelle Kunst arbeiten in der großen Mehrheit Frauen und queere Menschen. Die Arbeit erfordert hohe Flexibilität, ist körperlich fordernd und schlecht bezahlt: „Man ist oft allein, auch beim Holzkaufen oder beim Auf- und Abbau.“ Weil die visuellen Künste chronisch zu spät zu den Projekten hinzugeholt würden, könne die „fundamentale Arbeit“ am Theaterraum und seinen Potenzialen oft gar nicht ausgeschöpft werden – stattdessen immer nur improvisierte Notlösungen.

„Menschen, die mit Material arbeiten, sind auch verantwortlich für Fragen der Nachhaltigkeit.“ Estrella Jurado erzählt mir, wie sie sich während einer Endprobe einmal weigerte, kurzfristig Material bei einem besonders unbeliebten Onlineversandhandel zu bestellen – weil das einfach nicht nachhaltig gewesen wäre. Dann sagt sie den Schlüsselsatz: „Man muss sich empowern, um Verantwortung übernehmen zu können.“ Empowerment ist nicht selbstbezüglich. Es geht um andere. Die Selbstermächtigung dient dazu, für andere und anderes Sorge tragen zu können.

Sarah Israel hat zusammen mit Oscar Ngu Atanga und Sarah Zeryab das Labor „Expanded Listening – New Spaces on Air“ durchgeführt. Radio wird expanded, erklärt sie mir im Gespräch, wenn es auf andere Räume wie Theater oder Museen trifft, aber auch wenn es anderes – andere Stimmen, andere Praktiken – hörbar macht. Im Labor untersuchen Israel, Atanga und Zeryab zusammen mit Künstler*innen, DJs und Radiomacher*innen zum Beispiel, wie Tanz hörbar wird. Dabei denken sie an mehr als an die Mikrofonierung des Körpers. Sie erforschen die Übertragung der Bedeutung von Tänzen in Worte und Soundcollagen. Wenn man Tanz ins Hörbare verfremdet, was wird dann freigelegt? Woher stammen Tänze und welche Geschichten erzählen sie? Wie wird Tanz Teil einer spirituellen Praxis?

Radio ist für Sarah Israel unter anderem ein Werkzeug der Ermächtigung. Radio zu hören oder zu produzieren sei niedrigschwelliger als Theatermachen, Podcasting das neue Schreiben: eine publikumswirksame und vergleichsweise zugangsoffene Form, sich zu positionieren. Ein wichtiger Aspekt davon ist das community building auf Plattformen wie „Refuge Worldwide“. Radio, so Israel, ist eine Suche nach neuen Räumen on air, für Menschen, die gerade keine Möglichkeit haben, sich anders zu versammeln. Während Workshops und kurzlebige Kunstprojekte gerne mit der Schaffung von temporären Communities locken, betont Israel, wie kleinteilig, langwierig und auch existenziell Gemeinschaftlichkeit tatsächlich oft ist: Gemeinschaften und künstlerische Ausdrucksformen entstünden „aus Lebenskämpfen, gelebten Erfahrungen und langwierigen Übungsformen“. Solche Körper- und Bewegungsidentitäten „kann man nicht innerhalb von zwei Wochen in einem Kunstprojekt kreieren.“ Anstatt sich selbst und andere mit solchen Ansprüchen zu „überfrachten“, gehe es Israel um eine Sensibilisierung für das, was man realistischerweise leisten könne. Zum Beispiel darum, Menschen für das Teilen von Erfahrungen, Wissen und Fertigkeiten fair zu bezahlen, Arbeitsprozesse auf Augenhöhe zu gestalten oder Aufmerksamkeit und Interesse zu schenken. Und schließlich darum, zu „benennen, woher etwas kommt“. Anstatt sich ästhetische Praktiken marginalisierter Gruppen wie zum Beispiel Voguing oder Ballroom anzueignen, wie es in den Performing Arts immer wieder geschieht, gelte es, das Scheinwerferlicht oder die Radiofrequenzen zu teilen, anderen Stimmen Raum zu geben, auf bestimmte Positionen auch mal ganz zu verzichten. Ich verstehe Sarah Israels Vorschlag so: Für bestimmte privilegiert positionierte Menschen gehen Ermächtigung und Entmächtigung Hand in Hand.

Vielleicht bin ich mit Begriffen wie Selbstermächtigung, Agency und Empowerment zu lange allein gewesen. Hätte ich früher geschaut, wie sie sich in den Händen anderer Menschen geben, hätte ich sie schneller in ihrer Vielfalt und ihrem Glanz wiederentdeckt. Die Gespräche mit Oliver Zahn, Estrella Jurado und Sarah Israel haben die für mich erstarrten Begriffe wieder lebendig werden lassen: in der Öffnung scheinbarer Zwangsläufigkeiten, in der Übernahme von Verantwortung für nachhaltige Prozesse und in der Gleichzeitigkeit von Entmächtigung und Ermächtigung.

Im Sommer 2023 haben freie Künstler*innen-Gruppen in 64 Bundesweiten Artist Labs das Verhältnis zum Publikum in post-pandemischen Zeiten untersucht. Unsere Redakteurin Elisabeth Wellershaus und ein Team aus Gastautor*innen haben ihnen dabei über die Schulter geschaut.

Dr. Sebastian Köthe ist Kulturwissenschaftler am Forschungsschwerpunkt Ästhetik der Zürcher Hochschule der Künste.