Freiheit gibt es wirklich

Von Georg Kasch

Die Dresdner go plastic company zeigt in „We’re Used To Being Darker“ Perspektiven weiblicher (Un-)Abhängigkeit.

Sie werfen die Arme vor und zurück, rennen dabei auf der Stelle und kommen doch nicht vom Fleck: sieben Frauen in orangefarbener Kleidung. Zwischen ihnen sitzt die achte – Fang Yun Lo – auf einem Stuhl, springt auf, lässt sich mit dem Stuhl wenige Schritte weiter nieder. Nur ins Laufen kommt sie nicht, obwohl Timber Timbre sie dazu in seinem Song „Run From Me“ auffordert, der aus den Boxen schallt: „You better run for your life“. Liegt es am Babybauch, der sich plötzlich abzuzeichnen scheint? Und sind die anderen, die ihrerseits nicht von der Stelle kommen, eigentlich empathische oder wertende Sprinter*innen? Lassen sich ihre Bewegungen als Ausdruck weiblicher Solidarität angesichts toxischer Männlichkeit deuten – oder als egoistische Selbstrettungsversuche?

Unter dem Titel „We’re Used To Being Darker“ haben Cindy Hammer, Choreografin und künstlerische Leiterin der Dresdner go plastic company, und Dramaturgin Susan Schubert einen Abend geschaffen, der sich um Frauenbilder dreht und die Erwartungen, die an sie gestellt werden. Neun weiblich gelesene Performer*innen erzählen von ihren eigenen Perspektiven auf Freiheit und Beschränkungen.

Außergewöhnlich an diesem Abend zwischen Tanz und Performance ist der Ort: eine Kegel- und Bowlingbahn. Natürlich fallen einem dazu einige Assoziationen ein – aus der Bahn geworfen werden, neben der Spur sein. Dahinter steckt aber auch der Freizeit-Gedanke. Und eine Perspektivumkehr. Denn die neun Performer*innen bespielen die Flächen der Bahnen, ein Raum also, der sonst tabu ist.

Der Abend beginnt mit einer Abendroutine: Aus den Boxen tönt „Gloomy Sunday“, die Performer*innen stehen frontal zum Publikum in einer Reihe und schrubben sich die Zähne; über die Bildschirme oben, die sonst die Punktestände zeigen, flackern Bilder. Danach beginnt das immergleiche Ritual: Ein Alarmsignal dröhnt, dazu blinkt das Licht. Eine Performerin geht zur linken Bahn, nimmt eine Kugel, schiebt sie auf die Bahn, nimmt eine zweite, versucht, sich zu verbessern. Danach beginnt ein weiteres, von den anderen Performer*innen gerahmtes Solo.

Da gibt es die Szene, in der Caroline Beach sich mühsam ihren Raum erobert, als kämpfte sie gegen Widerstände. Da dreht sich Viola Luise Barner zu Ben Frosts vibrierenden Akkorden um die eigene Achse, wagt Diskomoves und Boxgesten. Da zeigt Johanna Roggan zu Frankie Reyes „Flor de Azalea“ Hüftschwünge und gebleckte Zähne. Kämpfer*innen sind sie allesamt, und man ahnt allmählich, dass dieses Kaleidoskop aus Suchbewegungen Facetten einer einzigen Persönlichkeit sein könnten.

Eine Kegelbahn. Im Vordergrund tanzt eine Performer*in. Im Hintergrund stehen sechs weitere Performer*innen über mehrere Bahnen verteilt. © Erik Gross

Entstanden ist die Produktion 2019 aus dem Wunsch heraus, mit einem großen Cast zu arbeiten. Damals allerdings konnte sich die go plastic company keine echte Ensemblearbeit leisten. Deshalb haben Hammer und Schubert einen Rahmen geschaffen für neun Soloarbeiten, die erst spät miteinander verknüpft und um Gruppenchoreografien erweitert wurden. Eine erste Recherche- und Entwicklungsphase gab es während einer Residenz im portugiesischen Faro. Dann begannen die Einzelproben in Dresden. „Anfangs war das sehr offen und vieles möglich“, sagt Hammer. Sie führten Kennenlerninterviews mit den Performer*innen, entwickelten Methoden, reicherten das entstandene Material an. Parallel entwickelten sie eine zehnteilige Webserie – noch vor Corona –, die wiederum Material für die Szenen beisteuerte.

Danach ging es an die Fixierung der einzelnen Szenen, ihre Verbindung und Ergänzung, die Reihenfolge, den Bogen. „Das war die eigentliche choreografische Arbeit“, sagt Hammer. „Das gemeinsame Material war wichtig, um eine Art Common Sense herzustellen.“ So gibt es eine Szene, in der Georginia Leo St. Laurent zu Kiddy Smiles „Let A Bitch Know“ eine Kegelbahn als Voguing-Laufsteg nutzt, während die anderen auf der Bahn nebenan Bewegungen machen zwischen Cheerleading und Fan-Chor.

Als besondere Herausforderung erwies sich die Suche nach geeigneten Orten, insbesondere bei Gastspielen und Wiederaufnahmen. Denn: Ohne Kegelklubs funktioniert der Abend nicht. „Man muss Vertrauen aufbauen“, sagt Hammer. „Der Bahn passiert ja nichts, uns passiert auch nichts. Dennoch ist zum Beispiel eine Bowlingbahn in Leipzig, mit der wir schon länger im Gespräch waren, plötzlich abgesprungen. Denen war das zu heiß.“

„We’re Used To Being Darker“ war die bis dahin größte Produktion der go plastic company. Seit ihrer Gründung vor zehn Jahren sitzt sie in Dresden, also etwas abseits der Freie-Szene-Zentren und Reiserouten. „Wir sind seit zehn, zwölf Jahren in der Stadt, haben die Anfänge des freien Tanzes begleitet“, sagt Schubert. „Das Gute an Dresden ist, dass hier verschiedene künstlerische Handschriften gut nebeneinander existieren können, ohne die Ellenbogen einzusetzen. Man geht hier nicht so schnell unter.“ Allerdings mussten sie die Strukturen in der Stadt erst miterschaffen – eine ehrenamtliche Arbeit, die dank hoher Identifikation funktioniert und dank eines hohen Gemeinschaftsgefühls.

Die Förderung während der Corona-Pandemie war für die go plastic company eine positive Erfahrung. „Wir konnten die Strukturen und unsere Sichtbarkeit stärken“, sagt Schubert. Die Programme seien sehr hilfreich gewesen, auch von einer anderen Qualität als die lokalen, projektbezogenen Förderungen. Für die Aufführungen 2021 in Halle und Görlitz etwa gab es keine lokale Wiederaufnahme- und kaum Gastspielförderung. „Das war total prekär“, sagt Hammer. „Durch die Flexibilität der Wiederaufnahmeförderung aus NEUSTART KULTUR konnten wir 2022 Umbesetzungsproben finanzieren, dort noch mal Experimente wagen, auch neue, individuelle Bewegungsabläufe entwickeln.“

Anderes blieb. Wie jene Schlüsselszene, in der Hannah Adomat, ein Mädchen von zwölf Jahren, jede der Kolleg*innen adressiert und einen charakterisierenden Satz zu ihr sagt. Ihr Fazit: „Wenn ich mal groß bin, möchte ich ALLES sein können.“ Oder wie der Schluss, in dem die Schauspielerin Julia Amme jede Nummer poetisch reflektiert. Sie schließt: „Ein Ausschnitt, der die Freiheit darstellt, ist nicht die Freiheit, sondern nur ein Ausschnitt. Aber die Freiheit gibt es wirklich.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.

Von der Förderung in den Probenraum und auf die Bühne – die Kulturjournalist*innen Georg Kasch und Elena Philipp besuchen im Rahmen von #TakeHeart des Fonds Darstellende Künste geförderte Projekte.