Halluzinierte Volkshochschule

Von Sebastian Köthe

Beim „Markt für nützliches Wissen und Nicht-Wissen“ präsentierten 100 Expert*innen aus Aktivismus, Kunst und Theorie im Haus der Berliner Festspiele ihre Praktiken, Taktiken und Plädoyers für und gegen die Wiederholung. Sebastian Köthe berichtet von seinem Parcours durch eine magische Nacht, in der das Theater seinen Witz und Zauber in den Dienst gemeinsamen Denkens gestellt hat.

„Wenn Sie glauben, alles unter Kontrolle zu haben, dann fahren Sie nicht schnell genug.“ Nach einem Tag voll intensiver Diskussionen, grenzüberschreitender Workshops und freudigen (Wieder-)Begegnungen habe ich Bärenhunger – und trotzdem den Drang, noch ein paar km/h schneller zu fahren. Der Spruch, ein Zitat des Rennfahrers Mario Andretti, hallt durch das Foyer des Hauses der Berliner Festspiele und läutet den Beginn des „Markt für nützliches Wissen und Nicht-Wissen“ ein. Die Idee eines solchen Marktes wurde von Hannah Hurtzig und der Mobilen Akademie Berlin 2004 entwickelt; inzwischen können Institutionen Lizenzen erwerben und eigene Märkte veranstalten. Die elfte Lizenz mit dem Titel „Ende der Wiederholung“ wurde von Florian Malzacher für den B.A.L.L., das Bundesweite Artist Labor der Labore kuratiert.

Ich gehe mit meiner herbstlichen Gemüsesuppe ins Foyer und stelle mich in die bald dichter werdende Schlange vor hier eigens eingerichteten Kassenhäuschen. Ich habe keine Hand frei, um das Programm zu studieren oder zumindest zu verstehen und lasse mich überraschen. Als ich am Counter an der Reihe bin, kann ich 30-minütige Gespräche mit Expert*innen buchen, rubriziert unter Oberthemen wie Zeit, Trauma oder Disruption. Kostenfaktor: ein Euro pro Gespräch. Da ich die Suppe gerade erst ausgelöffelt und das Programm nicht durchforstet habe, frage ich die Dame im Kassenhaus nach einer Empfehlung. Sie schlägt mir ein Gespräch mit Aimée van Balen, Klimaaktivistin der Letzten Generation, vor – was spräche dagegen?

Etwas aufgeregt suche ich auf der Theaterbühne den Tisch Nummer 8. Ich gehe kontrolliert, fahre aber innerlich schon schneller. Auf Tribünen sitzen mit Kopfhörern ausgerüstete Besucher*innen, die ausgesuchte Gespräche belauschen können. Auf der Bühne stehen fünf Reihen mit acht Tischen, an denen sich je zwei Personen gegenübersitzen. Über ihnen eine Glühbirne, sonst nichts. Die Mobile Akademie Berlin bezeichnet den Markt als „halluzinierte Volkshochschule“, treffender lässt sich das nicht beschreiben. Ich setze mich zu Aimée, die Lampe über uns flimmert, das Gespräch beginnt. Aimée, die viel jünger aussieht als 23, fragt mich, was ich über die Letzte Generation weiß, ich assoziiere Autobahnblockaden, Tomatensuppe auf Van Goghs und an Torpfosten geklebte Menschen. Dann darf ich Fragen stellen.

Auf einer Bühne stehen in mehreren Reihen sehr viele Tische, an denen sich je zwei Personen gegenübersitzen und ein Gespräch führen. Im Hintergrund eine Leinwand, die ebenfalls zwei Menschen im Gespräch zeigt. © Dorothea Tuch

Das Setting, ich bin schließlich auf der Bühne, führt sofort zur Selbstreflexion: Was sagen die Fragen, die ich stellen werde, über mich aus? Was wären gute Fragen, die Aimée nicht schon einhundertmal gehört hat? Welche Fragen wären Teil des Spiels, welche off limits? Ist das nicht verrückt, dass Menschen einander Fragen stellen und diese beantworten? – Ich entscheide mich, Aimée schlicht das zu fragen, was mich wirklich interessiert: Glaubt sie, mit ihrem Protest etwas verändern zu können oder ist er Selbstzweck? Welche Praktiken der Selbstsorge haben die Mitglieder der Letzten Generation? (Allein Aimée hat 30 Verfahren wegen Nötigung am Hals.) Was empfindet sie gegenüber den Generationen, die uns den Planeten so ruinös hinterlassen? Später setzt sich eine Gebärdensprachübersetzerin zu uns; irgendwo hinter mir muss jemand auf diese Weise an unserem Gespräch teilhaben. Gerne würde ich auch der Übersetzerin Fragen stellen, wie ich sie auch Aimée stellen darf, aber sie bewegt sich auf einer anderen Ebene des Spiels. Wir fahren inzwischen schon sehr schnell, ich frage mich, ob man das überhaupt noch einholen kann. Wie weit man in 30 Minuten kommt. Am Ende fragt mich Aimée, wie ich mich jetzt fühle. Es tut mir leid, dass sie all diese Verantwortung trägt. Ich bin traurig und finde es tragisch. Tragisch – eine Urkategorie des Theaters. Über uns flimmern die Lampen. Eigentlich würde ich gerne bleiben, also stehe ich umso schneller auf.

Angefixt stehe ich gleich wieder in der Schlange. Jetzt fällt mir auf, dass die Kassenhäuschen Titel tragen: „Abhängigkeit -> Figuren“; „Gedächtnis -> Propaganda“; „Raum -> Unterbrechung“; „Wiederkehr -> Zirkulation.“ Ohne zu verstehen bin ich von diesen Versprechungen angezogen. Weil mich die Dame im dritten Häuschen so gut beraten hat, gehe ich wieder dorthin. Diesmal lande ich bei einer Expertin zum Thema „Trauma“. Zurück im Saal erwartet mich die Psychoanalytikerin Mai Wegener. Auch sie empfängt mich an Tisch 8 – dabei hatte der Titel des Markts doch das Ende der Wiederholung versprochen. Diese merkwürdige Wiederholung passt aber zum Gespräch. Wegener, die mich siezt und erst einmal einen kleinen Vortrag hält, erklärt mir, dass ein Trauma eine Wiederholung ohne Original sei. Sie erzählt mir vom Wolfsmann, eine reißerische Fallgeschichte Freuds, bei der sich die römische Zahl V in die gespreizten Schenkel der Mutter des Wolfsmanns verwandelt, die er – womöglich – beim Koitus überrascht hat. Diese reale oder fantasierte Urszene übersetzt sich dann in neurotische Wiederholungen. Der Geschichte ist schwer zu folgen, dem Wolfsmann wird stets um fünf Uhr speiübel und auch eine Birne mit drei gelben Streifen spielt eine wichtige Rolle, die ich mir nicht merken konnte (etwas mit einem Kindermädchen). Wir lassen den Wolfsmann hinter uns und sprechen darüber, wie unheimlich Wiederholungen sind. Wir sprechen über das Faible der Psychoanalyse für Sprache (sie erklärt mir, dass die Sprache als Stimme im Körper wurzele und der Körper also mitspreche) und über unterschiedliche Arten des Schweigens. Zu schweigen kann heißen, dem Gegenüber Raum zu schenken. Es kann heißen, dem anderen aggressiv etwas vorzuenthalten. Es kann ein Zeichen des Vertrauens sein, weil man Zeit miteinander teilt, ohne etwas voreinander produzieren zu müssen. Wegener sagt, dass die Patient*innen in der Analyse geradezu in ein verrücktes Sprechen kommen sollten. Wiederholungen, verrücktes Sprechen, die Nuancen des Schweigens. Ich kann den Finger nicht drauflegen, aber das Setting des Theaters echot in dem Gespräch. Die Wiederholungen der Aufführungen, das verrückte Sprechen auf der Bühne, das (tendenziell) schweigende Publikum. Performances und Stücke erscheinen mir als Träume und Halluzinationen des Publikums, auf die es sich später im Gespräch, einer Analytikerin nicht unähnlich, einen Reim zu machen versucht. Die Lampe flimmert.

Ein Tisch mit zwei Personen, die einander anlachen. Dahinter steht eine weitere Person, die ebenfalls lacht und in das Gespräch eingebunden ist. Ringsum sind weitere Tische an denen Personen miteinander sprechen. © Dorothea Tuch

Meine Aufmerksamkeit flimmert auch langsam. Ich setze mich ins Publikum und lausche in der nächsten Runden den Gesprächen der anderen. Jürgen Kuttner, der in den 1980ern Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität studiert hat, spricht mit einer Besucherin, die in den 2000ern Jahren ebendort studiert hat, über den Kulturwissenschaftler Friedrich Kittler. Da ich selbst dort in den 2010er Jahren studiert habe, ist mir das zu nah und ich schalte um. An einem anderen Tisch geht es um die Prägung Weißrusslands durch die Sowjetunion; an wieder einem anderen um postkoloniale Theorien. Ich bleibe beim Gespräch einer Person mit Anja Voigt hängen, der Streikführerin der Berliner Krankenhausbewegung. Voigt spricht über ihre Streikerfahrung, durch die sie ein Grundgefühl der Ohnmacht überwunden habe. Nebenbei führt sie die arbeitsorganisatorischen Feinheiten aus, die verhindern, dass bei einem Streik im Krankenhaus Menschen sterben. Ihr Resümee ist faszinierend: Der Streik habe zu erhöhten Gehältern, mehr Personal und besseren Arbeitsbedingungen geführt. Ich staune, was Menschen alles wissen und zu erreichen vermögen und bin dankbar, dass das Haus seine Bühne heute diesen Expert*innen geboten hat. Ich verstehe, dass das Theater eine Transformationsmaschine ist, die grundlegend verändern kann, was es zum Beispiel bedeutet, Wissen zu teilen, einem Gespräch zu lauschen oder einem Menschen zu begegnen.

Auf dem Weg nach draußen treffe ich eine alte Bekannte. Sie hat mich das letzte Mal gesehen, als ich den Fuß gebrochen hatte, nachdem ich wieder einmal gestolpert war und erzählt mir nun, wie sie mit eingegipstem Knie im Krankenhaus versuchte, eine Zigarette rauchen zu gehen, aber auf dem Weg die Treppen herunterfiel. Sie hat sich aber nichts getan, denn sie hat beim Kampfsport gelernt, wie man richtig fällt. Prompt sehe ich auch sie vor meinem inneren Auge als Expertin beim Markt für nützliches Wissen und Nicht-Wissen. Der Markt öffnet den Horizont darauf, dass jede*r über eine Expertise verfügt, die eine Bühne, einen Tisch und eine flimmernde Lampe verdient hätte. Wenn man nicht aufhören kann zu stolpern, zum Beispiel, weil man viel zu schnell fährt und die Kontrolle verloren hat, vielleicht stoppt man dann die Wiederholung, indem man zu fallen lernt.