Haltung zeigen

Von Georg Kasch

Kultur trotz(t) Krise (Folge 8): Turbo Pascal wollen mit „Böse Bücher“ die Grauzonen des Denkbaren erkunden.

Was darf man heute eigentlich noch sagen? Erstaunlich viel, und das nicht nur in den Sozialen Medien, wo man zwar mit Ein- und Widerspruch, manchmal auch mit einem Shitstorm rechnen muss, aber so gut wie nie mit Zensur. Ein Beispiel: Bibliotheken. Früher gab’s den Giftschrank, in dem indizierte Werke verschwanden. Heute kann man sogar Adolf Hitlers „Mein Kampf“ ausleihen, natürlich in der kritischen Edition.

Was sind für uns „böse Bücher“? Wie definieren wir Meinungsfreiheit? Wo stößt sie an ihre Grenzen? Fragen, die die Performancegruppe Turbo Pascal in ihrem aktuellen, durch #TakeAction des Fonds Darstellende Künste geförderten Projekt „Böse Bücher“ stellen. Die mehrfach preisgekrönte Gruppe, bekannt für ihre partizipativen Formate, die auf den ersten Blick oft freundlicher wirken als sie sind, stieß auf das Thema während einer Residenz in der Pablo-Neruda-Bibliothek in Berlin-Friedrichshain. Ein Projekt mit Kindern und Bibliothekar*innen, in dem am Rand die Frage aufkam, nach welcher Logik ein Medienbestand eigentlich funktioniert. „Zum Beispiel gab es die Diskussion um die veganen Kochbücher von Attila Hildmann“, sagt Angela Löer, Gründungsmitglied der Gruppe. Hildmann, Verschwörungstheoretiker, Antisemit, rechtsextrem, wird mittlerweile per Haftbefehl gesucht. „Nimmt man die jetzt aus dem Bestand? Stellt man sie in die Schmuddelecke? Oder lässt man sie, wo sie sind?“

Im Zentrum steht eine Performerin. Sie trägt Kopfhörer, streckt die Arme in die Luft und hat ein Mikrofon in der Hand. Um sie herum steht das Publikum, das auch die Arme in die Luft streckt und Kopfhörer trägt. © Daniela del Pomar

Die öffentlichen Bibliotheken sind ein Abbild dessen, was Menschen in Deutschland lesen. Ein Beispiel: die Spiegel-Bestsellerliste. Deren Titel werden prominent auf dem Büchertisch präsentiert. Dass da dann auch ein Buch wie Thilo Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“ steht, mag vielen Angestellten und Kund*innen der Bibliothek aufstoßen. „Aber bringt es etwas, das aus dem Regal zu räumen?“, fragt Löer. „Ist es dann wirklich aus dem Auge, aus dem Sinn? Aus dem Bestand wird eigentlich nur das entfernt, was wirklich auf dem Index landet. Aber gibt es Grauzonen?“

Mit „Böse Bücher“ schließen Turbo Pascal an ihren Abend „Böse Häuser“ an. Damals schlappten die Besucher*innen in Puschen über den Teppichboden in der Kantine der Sophiensaele. Über Kopfhörer wurden sie in immer neuen Gedanken-Monologen aufs Glatteis der Extreme geführt, in religiöse, neoliberale, völkische Grauzonen. Bis wohin ist etwas noch denk- und sagbar, ab wann wird’s heikel? Und wie reagieren die Besucher*innen, wenn sie merken: Da gehe ich jetzt nicht mehr mit?

„Wir wollten diese Fragen schon länger weiterentwickeln: Was labele ich selbst als böse? Was denke ich nicht so gerne?“, sagt Löer. Auch jetzt ist es das Konzept, die Gäste mit Kopfhörern auszustatten und auf einen geführten Parcours außerhalb der Öffnungszeiten durch die Pablo-Neruda-Bibliothek zu schicken, sie dabei auf Abteilungen und Regale aufmerksam zu machen, mit denen sie sich sonst kaum auseinandersetzen würden. „Toll wäre, wenn die Besucher*innen hinterher selbst losgehen würden, um herauszufinden: Was ist für mich ein böses Buch?“, sagt Löer. Vielleicht kann daraus ein eigener Büchertisch entstehen, jeden Abend neu. Interessant erscheint es Löer herauszufinden, welche „Brillen“ dabei sichtbar werden: die von Eltern, die ihre Kinder schützen wollen? Werden politische Einstellungen deutlich? Oder Klassenerfahrungen?

Turbo Pascal fordern die Teilnehmer*innen ihrer Projekte immer dazu heraus, Stellung zu beziehen, Haltung zu zeigen. Manchmal, wie in „Dichte Netze“ 2020, geht es vor allem um die Begegnung und den Austausch (und eher am Rande um die Frage, ob und wie man mit Rechten redet). Dann wieder geht es um gesellschaftliche Ordnungen und die Ausgrenzungsmechanismen einer Klassengesellschaft wie in „Unterscheidet Euch!“, das dieses Jahr zum Impulse Festival und zu Augenblick mal! eingeladen war und 2019 mit dem Berliner Kinder- und Jugendtheaterpreis IKARUS ausgezeichnet wurde.

Auch jetzt wollen Turbo Pascal zum Weiterdenken verführen. Dass dabei etliche Details noch unklar, sind, hat nicht nur etwas damit zu tun, dass erst Ende November Premiere ist. Sondern auch mit den Belastungen durch die Corona-Pandemie. „Ich bin echt fertig“, sagt Löer. Denn nach einer kurzen Pause im April 2020 ging es bald weiter. Viele Produktionen wurden fürs Netz umgeplant oder neu adaptiert, andere verschoben. „Wir haben nichts abgesagt, immer nach dem Motto: Wir schaffen das“, sagt Löer. „Aber das ging auf Kosten unserer Kräfte.“ Ferien wurden verkürzt oder fielen aus, Produktionszeiträume wurden durch Verschiebungen und Digitalisierungsprozesse verlängert. Allein in diesem Jahr entstanden bislang die Online-Fassung von „Unterscheidet Euch!“, „Kein Blatt vorm Mund“ in einer digitalen wie einer analogen Fassung in Mannheim und die vierteilige Zoom-Serie „Irgendwie Mitte“ in Berlin. „Jetzt stehen sich all die Premieren gegenseitig im Weg, können oft nur kurz gespielt werden. Das ist nicht nachhaltig.“

Auch deshalb überlegen Turbo Pascal, aus dem Material nach der Live-Premiere in der Pablo-Neruda-Bibliothek noch eine Art Audiowalks zu entwickeln – damit die monatelange Vorarbeit für „Böse Bücher“ nicht nach wenigen Vorstellungen im Archiv verschwindet. Denn die Frage, was wir bereit sind zu tolerieren und wo der Wunsch nach Zugänglichkeit selbst umstrittener und möglicherweise verletzender Informationen mit der eigenen Schmerzgrenze in Konflikt geraten, wird uns als Individuen wie als Gesellschaft vermutlich noch lange beschäftigen.

In der Reihe „Kunst trotz(t) Krise“ blicken die Kulturjournalist*innen Elena Philipp und Georg Kasch im Auftrag des Fonds Darstellende Künste einen Blick hinter die Kulissen geförderter Projekte. Wie wirkt die #TakeThat-Förderung des Fonds im Rahmen des NEUSTART KULTUR-Programms der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien?