„Ich bin dafür zuständig, die Welt zu verändern.“

Von Christine Wahl

Performer*in, Choreograf*in, Regisseur*in Heinrich Horwitz inszeniert mit einem fluiden Kollektiv künstlerische Reflektionen vom nonbinären Sein und der gesellschaftlichen Rolle von Gender und Geschlecht. 2023 ehrt der Fonds diese künstlerische Arbeit mit der Tabori Auszeichnung. Kulturjournalistin Christine Wahl fragt im Interview, welche Bedeutung diese Ehrung hat.

Heinrich Horwitz, es war gar nicht so leicht, einen Termin für dieses Interview zu finden, weil Sie extrem beschäftigt sind: Sie führen Regie und performen auch selbst in verschiedenen Theaterkollektiven und -kontexten, wirken zusätzlich häufig in Filmen mit und treten regelmäßig mit dem Neue-Musik-Ensemble Decoder auf, unter anderem in der Hamburger Elbphilharmonie. Woran arbeiten Sie zurzeit hauptsächlich?

Heinrich Horwitz: Wir konzipieren gerade ein Projekt am Ballhaus Ost in Berlin, das Flipper heißt und sich auf einen Mythos bezieht. Ich habe vor ein paar Jahren begonnen, mich mit unterschiedlichen Mythen auseinanderzusetzen. Ich glaube, das kommt daher, dass ich ein*e große Skeptiker*in bin, was die Idee von einer einzigen Wahrheit betrifft. Ich interessiere mich für einen multiperspektivischen Blick auf die Welt.


Und für diesen Blick eignen sich Mythen besonders gut, weil sie über Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende immer wieder neu erzählt worden sind und ihnen deshalb von jeher ein Transformationsgedanke innewohnt?

Horwitz: Ja, mit der Beuteltheorie der amerikanischen Autorin Ursula K. Le Giun ließe sich sagen, dass wir im Grunde permanent Geschichten in unseren Beutel packen und diese Geschichten sich dort verändern, weil wir sie zwar immer weitererzählen, das aber eben aus unseren verschiedenen Perspektiven heraus jeweils ganz unterschiedlich tun. Das Multiperspektivische ist auch auf der Ebene unserer Zusammenarbeit ein wichtiger Aspekt. Ein wesentlicher Bestandteil von Flipper liegt für mich darin, dass jede*r aus dem Team mit einem anderen Entrypoint in das Projekt einsteigt, dass alle ganz unterschiedliche Skills mitbringen. Das ist genau das, was ich suche – prinzipiell, in all meinen Arbeiten. Ich bin nicht an einem Regiekonzept interessiert, in dem dann irgendwie alle ihren Platz finden müssen, sondern mir geht es in den Besetzungsprozessen oder beim Zusammenstellen von Teams darum, was die betreffenden Menschen einbringen, wie sie sich selbst zum Thema der Arbeit verhalten, wo sie konkret anknüpfen können.


Eines Ihrer jüngsten Projekte – Amazon Rising aus dem Jahr 2021 – beschäftigte sich mit Amazonen-Mythen. Um welchen Mythos geht es jetzt in Flipper?

Horwitz: An dem Amazonenmythos habe ich drei Jahre gearbeitet und kam dabei tatsächlich an einen Punkt, der für mich so essenziell war, dass ich mit meinem jetzigen Projekt daran andocke. Es handelt sich um den Zehn-Prozent-Mythos, der behauptet, dass wir Menschen lediglich zehn Prozent unserer gesamten Gehirnkapazität nutzen. Diese Theorie ist natürlich unbedingt kritisch zu beäugen, weil bestimmte spiritualistische Sektengruppierungen sie sich sofort angeeignet und auf dieser Basis einen Weg zum besseren Menschen in ihrem Sinn formuliert haben. Der Mythos besagt allerdings auch, dass es genau ein Säugetier gibt, das mehr als diese zehn Prozent seiner Gehirnkapazität nutzt: den Delfin.

Um wieviel Prozent ist er uns Menschen denn voraus?

Horwitz: Im Verhältnis der Körpermasse zur Hirngröße arbeiten Delfine mit 13 Prozent ihrer gesamten Gehirnkapazität – ihr Vorsprung liegt also bei drei Prozent. Und diese drei Prozent stecken bei ihnen in empathischen Fähigkeiten und Praktiken. Sie verfügen sogar über einen Teil im Gehirn, den wir Menschen gar nicht besitzen und an dem essenzielle emotionale Prozesse stattfinden. Deshalb lautet unsere Theorie in Flipper, dass die entsprechende Nutzung unseres brachliegenden Potenzials – wo auch immer es sich im menschlichen Körper genau befindet, diesen Punkt thematisieren wir gar nicht – dazu führen würde, dass wir empathischer werden. Und diese Empathie versuchen wir in unserem Projekt auf unterschiedlichen Ebenen gleichzeitig zu thematisieren und zu praktizieren: zum einen eben in einer multiperspektivischen Recherche und zum anderen in der bewussten Einbeziehung der unterschiedlichsten Skills der Beteiligten. In der Performance selbst untersuchen wir, mit welchen Strukturen der Mensch sich verknüpfen und welche Verbindungen er eingehen kann, um zu einem zärtlicheren, zugewandteren Organismus zu werden.

© Katja Feldmeier

"Amazon Rising"

Das Thema der Transformation taucht in Ihren Arbeiten immer wieder auf: Schon in Amazon Rising entwarfen Sie die "Amazone der Zukunft" und warben in performativen aktivistischen Umzügen durch Berlin für die Verwandlung dieser mythischen Figur in ein empathisches, neues Cyborg-Wesen.

Horwitz: Ich habe eine Unruhe der Sprache gegenüber. Obwohl ich an einer Schauspielschule studiert habe und eigentlich auch diesen klassischen Sprechtheaterweg vor mir hatte, habe ich schnell einen Widerstand gespürt, die Sprache als das zentrale, quasi das übermächtige Tool auf der Bühne zu akzeptieren. Und die Mythen erlauben mir jetzt interessanterweise eine Art Wiederannäherung an die Sprache, weil es eben Geschichten sind, die sich verändern dürfen. Es gibt darin keine unantastbare Autor*innenenschaft, keinen Geniekult. Prinzipiell interessiere ich mich für den Körper, für den Tanz im weitesten Sinne, aber auch für die nicht professionalisierten Körper mit ihren eigenen Formen des Sprechens und für Musik – als etwas Verbindendes, für Interpretationen Offenes.

Noch einmal zurück zum "klassischen Sprechtheaterweg": Sie wurden 1984 geboren und haben selbst einmal gesagt, Sie sind praktisch im Theater aufgewachsen, speziell am Hamburger Thalia, wo Ihr Vater – der Schauspieler Dominique Horwitz – seinerzeit zu den prägendsten Protagonisten gehörte.

Horwitz: Das Aufwachsen in einem Theater – in so einem fantastischen Raum – war für mich großartig. Davon zehre ich nach wie vor, auch wenn ich sagen würde, dass es dort neben den vielen bereichernden Erfahrungen, die ich inzwischen in meinem Berufsleben gemacht habe, auch gewaltvolle toxische gab, auf die ich gut hätte verzichten können. Ich habe an diese Kinderzeit total schöne Erinnerungen. Dieses Gefühl, dass das Theater Heimat bedeutet – einen Ort des Zuhauseseins, des Lebens –, ist geblieben. Zumal ich irgendwann natürlich auch anfing, an diesen Häusern Weggefährt*innen zu finden, mit denen ich mich sehr viel mehr identifiziere als beispielsweise mit Robert Wilson.

In den nuller Jahren studierten Sie dann selbst Regie und Choreografie an der renommierten Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch" in Berlin. Haben Sie schon während der Ausbildung gespürt, dass Sie sich künstlerisch stärker für Performance, Aktion, Happening und Musik interessieren als für den besagten klassischen Sprech- und Stadttheaterpfad?

Horwitz: Ich finde es toll, dass es Kommiliton*innen gibt, die diesen klassischen Weg eingeschlagen haben und dramatische Texte inszenieren! Ich selbst habe aber tatsächlich schon während des Studiums angefangen, immer stärker auf Text zu verzichten und nach einer alternativen Form des Sprechens zu suchen. Das hing auch damit zusammen, dass ich keinen Text gefunden habe, der etwas mit meiner Lebensrealität zu tun hatte. Anfangs dachte ich, wahrscheinlich ist das genau meine Aufgabe als Regisseur*in: Geschichten zu erzählen, die nicht meine sind. Irgendwann merkte ich aber, dass ich nicht die einzige bin, der das so geht. Und daraus leitet sich für mich eine Verantwortung ab, der ich Rechnung tragen will: dass ich, wie alle, auch dafür zuständig bin, die Welt zu verändern. Das klingt jetzt natürlich gigantisch – ist aber tatsächlich ganz basal gemeint. Nämlich in dem Sinne, was für Körper auf der Bühne zu sehen sind, was diese Körper sprechen und womit sie sich beschäftigen. Inzwischen ist mir klar geworden, dass meine Kunst von meinem politischen Aktivismus nicht mehr zu trennen ist.

Bühnensituation. Der Raum ist dunkel, nur eine Neonröhre ist an die Wand gelehnt. Drei Performer*innen, mit zurück gegelten Harren und dunkel geschminkten Augen, eine mit dem Rücken zur Kamera, die anderen beiden zusammenstehend, untergehakt, schauen sie an. © Katja Feldmeier

Performance "Der Unzeitige Gast"

Sie gehörten zu den 185 Erstunterzeichnenden des #ActOut-Manifests, das sich für Akzeptanz, Anerkennung und Sichtbarkeit von LGBTIQ+-Personen innerhalb der Film-, Fernseh- und Theaterbranche sowie generell in der Gesellschaft einsetzt. Dieses Manifest wurde im Februar 2021 als gemeinsames Coming-out jener 185 Schauspieler*innen als lesbisch, schwul, bisexuell, transgender, queer, intergeschlechtlich oder nichtbinär in der Süddeutschen Zeitung publiziert. Zudem sprechen Sie immer wieder öffentlich über ihre eigene Emanzipation von einer eindeutigen Geschlechtszuschreibung und über Ihre Identifikation als nichtbinäre trans Person. Was haben all diese Initiativen inzwischen bewirkt?

Horwitz: Wir haben regen Zuwachs, das ist toll! Menschen melden sich bei uns, und nicht nur als Unterzeichner*in des #ActOut-Manifests, sondern prinzipiell als Person, die im Theater arbeitet und an Diversifizierungsprozessen interessiert ist, sitze ich – würde ich mal schätzen – mindestens einmal im Monat auf einem Panel oder gebe ein Interview zu dem Thema. Das heißt: Es ist eine Arbeit, die nicht abgebrochen, sondern erfreulicherweise kontinuierlich weitergegangen ist, wenn auch nicht so massiv wie im ersten Jahr. Was den Film- und Fernsehbereich betrifft, registriere ich, dass zumindest begonnen wird, die Geschichten anders zu erzählen, und im Theater passiert das ebenso. Die Fehler, die dabei gemacht werden, sind Teil eines jeden Veränderungsprozesses.

Welche Fehler sehen Sie denn konkret?

Horwitz: Ich denke oft, dass es gut wäre, wenn die Leute mehr fragen würden. Ich habe das Gefühl, jetzt werden wir zwar alle eingeladen, und alle wollen diese Geschichten erzählen und sozusagen mit uns oder überhaupt mit marginalisierten Gruppierungen der Gesellschaft in Kontakt kommen, aber oft sind dann die Räume nicht entsprechend geschützt. Es fehlt zum Beispiel der Vorlauf am Theater, wo den Mitarbeitenden klar gemacht wird, was so ein binäres Geschlechtersystem – Damen- und Herrenschneiderei, Damen- und Herrentoiletten usw. – für eine nichtbinäre trans Person bedeutet. Da geht es also um ganz basale Dinge: dass man das Team vorher aufklärt und auch ermutigt nachzufragen, zum Beispiel nach dem Pronomen, mit dem die Person angesprochen werden will. Es ist einfach wichtig, dass alle sich trauen und Lust haben, miteinander ins Gespräch zu kommen!

Was bedeutet Ihnen die Tabori-Auszeichnung?

Horwitz: Mein Team und ich freuen uns über alle Maßen, dass unsere Arbeit Anerkennung findet, und ich will hier auch noch einmal ausdrücklich sagen, dass die Auszeichnung uns allen gilt – diesen wundervollen Menschen, mit denen ich seit Jahren immer wieder Neues entwickeln darf, allen voran Rosa Wernecke, Magdalena Emmerig und Annett Hardegen. Ich erhoffe mir zudem, dass diese Auszeichnung zu weiterer Sichtbarkeit der Perspektiven einer nichtbinären trans Künstler*in beiträgt. Sie ist auch für alle meine queeren Siblings da, die an unserer Seite stehen. Sich mehr zu verbünden, intersektionaler Diskriminierung entgegenzutreten und Allies zu haben, ist essenziell.

Gehen wir am Schluss noch einmal zurück zum Anfang, zu den vielen künstlerischen Genres und Ausdrucksformen, die Sie praktizieren: von der Choreografie bis zur (Neuen) Musik, vom Spiel bis zur Regie. Wie gelingt es Ihnen, all diese Bälle mit dem gleichen Einsatz und der gleichen Begeisterung im Spiel zu halten?

Horwitz (lacht): Es stimmt: Ich mach` das alles – und ich mach` das alles total gerne! Letztes Jahr zum Beispiel habe ich wirklich irrsinnig viel gearbeitet: Acht Produktionen – und alles Herzensprojekte! Selbst gespielt habe ich allerdings nur in einer. In solchen Jahren denke ich immer: Ach, ich würde schon gern mehr spielen, und wenn ich dann tatsächlich wieder mehr spiele, fehlt mir mit Sicherheit die Regie. Ich glaube, ich liebe meine Berufe – so einfach ist das!